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Mademoiselle öffnete dem Arzt die Tür des Zimmers im zweiten Stock, das, wie der Arzt bereits wußte, zu den Gemächern der Herzogin gehörte. Ein durchdringender Duft schlug ihm entgegen, und die dicht verhängten Fenster gaben dem Raum kaum genügend Licht, dem Doktor seinen Weg durch die umherstehenden Möbelstücke finden zu lassen.
Die Bühne war offenbar mit besonderer Sorgfalt für die kommende Unterredung vorbereitet worden. Die Vorhänge, die das vierpfostige, schwere Bett verbargen, gestatteten kaum einen Blick auf die darin liegende Gestalt, deren Haupt auf reich mit Spitzen verzierten Kopfkissen ruhte. Ohne Zweifel, die Herzogin war wirklich eine hübsche Frau, und man konnte glauben, daß die Geschichte, die der Herzog erzählte – so romantisch sie auch klang – auf Tatsachen beruhte, nämlich, daß er seine Frau auf der Leinwand eines Kinos kennengelernt hätte. Sie schien nicht älter zu sein als fünfundzwanzig Jahre, ihr Gesicht mutete wie das eines Engels an, mit Ausnahme vielleicht des Mundes und des Kinns, die zu sinnlich wirkten. In dem Halbdunkel, das im Zimmer herrschte, hatten ihre Augen einen tiefvioletten Schein. Sie trug die Haare – ihrem kranken Auftreten entsprechend, offen, und sie lagen in schweren dunklen Wellen über ihren Schultern; nichtsdestoweniger war jede Locke sorgfältig über Kopfkissen und Schultern verteilt, zu sorgfältig, um nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, daß sie in Hoffnung auf Wirksamkeit vorher arrangiert worden waren. Ein Nachtgewand aus gelber Seide umschloß die lässig hingestreckte Gestalt.
Ihre Gnaden, beinahe im Bette sitzend, wandte den Kopf ein wenig dem eintretenden Arzt zu; ihre Lippen teilten sich in einem leichten Lächeln des Willkommens und ließen dabei perlengleiche Zähnchen sehen. Nur ihre Stimme enttäuschte; sie klang gewöhnlich, obzwar die Liegende nur in gedämpftem Ton sprach, und stimmte so mit ihrem sonstigen Äußern wenig überein.
»Es tut mir leid, Herr Doktor, daß ich Sie in dieser Verfassung empfangen muß, aber meine Nerven sind heute morgen zu sehr angespannt worden. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Tarleton verbeugte sich schweigend, während er Platz nahm.
»Ich glaube die Ursache dieser Anspannung zu wissen. Darf ich mit Ihnen einige Worte im Vertrauen sprechen?«
Er blickte bei diesen Worten auf die Französin.
»Sie werden entschuldigen müssen, Doktor, daß ich meine Zofe hier im Zimmer lasse,« erwiderte die Herzogin mit fester Stimme, »aber Mademoiselle Prégut ist mir schon lange Zeit eine vertraute Freundin.« Ihr Ton deutete an, daß sie dies von ihm nicht behaupten könne.
Den Widerspruch des Arztes, dem dieser eben Ausdruck verleihen wollte, schon im Keim erstickend, fügte sie hinzu:
»Sie hat Ihnen übrigens auch etwas mitzuteilen.«
Diese Worte wurden durch ein unterdrücktes Seufzen, das den Lippen der Zofe entschlüpfte, bestätigt.
Tarleton runzelte nachdenklich die Brauen. Er hatte sich jedoch mit dem Wunsche der Herzogin abzufinden.
»Gut, Madame. Ich darf wohl annehmen, daß Sie in der Zeitung die Nachricht vom Verschwinden des Schauspielers Montacute gelesen haben, nicht wahr?«
»Wie?« Die Kranke atmete erregt. »Warum vermuten Sie, Herr Doktor, daß mich das interessieren könnte?«
»Weil ich zufällig weiß, daß Montacutes wirklicher Name Dunlop war.«
Wieder ein erregter Atemzug.
»Da dies Euer Gnaden Mädchenname war, liegt doch die Vermutung nahe, daß er ein Verwandter Euer Gnaden gewesen ist.«
Schweigen. Nur ein kurzer Blick der Herzogin auf ihre Zofe.
»Wenn es sich so verhielte, könnte ich Ihnen mitteilen, was aus ihm geworden ist.«
Bei diesen Worten des Arztes brach die bisher mühsam aufrecht erhaltene Fassung der Herzogin zusammen.
»Was aus ihm geworden ist? Was wollen Sie damit sagen, Doktor?«
Der Arzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Sie sind mir noch eine Antwort auf meine vorige Frage schuldig, Madame! Sie haben mir noch nicht gesagt, ob dieser Mann ein Verwandter von Ihnen war?«
Wieder warf die Herzogin einen Blick auf die Zofe.
»Also ja, Doktor, er war ein Verwandter. Ich gebe es zwar nicht gern zu, aber es verhält sich so, wie Sie sagen.«
»Und trotzdem haben Sie ihm das Haus verboten?«
Die Herzogin warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.
»Dafür hatte ich meine Gründe, Doktor, was man Ihnen auch in dieser Hinsicht zugetragen haben möge. Ich war auf die Verwandtschaft nicht sehr stolz.«
»So? Dann bin ich beruhigt, daß meine Nachricht Euer Gnaden nicht so schwer treffen wird, wie ich vermutet hatte. Ihr Verwandter wurde tot aufgefunden!«
»Tot??!« Der Ausruf drückte höchstes Erstaunen aus, in das sich, eine gewisse Befriedigung zu mischen schien.
»Ermordet!!« fuhr Tarleton fort.
»Um Himmels willen!« Diesmal lag wirkliches Entsetzen in dem Ausruf. »Wie? Von wem?«
»Ehe ich weiter auf Ihre Fragen eingehen kann, muß ich Sie bitten, mir zu sagen, ob Sie davon unterrichtet waren, daß der Tote nachts verstohlen Trafford House mittels eines Schlüssels zu betreten pflegte, den ihm allem Anschein nach Mademoiselle Prégut zur Verfügung gestellt hatte.«
Mit einem flehenden Blick auf ihre Zofe ließ sich die Herzogin in ihr Kissen zurückfallen. Nicht sie, sondern die Französin beantwortete die Frage des Arztes:
»Ihre Gnaden hat nichts hiervon gewußt. Ich bin die einzige Schuldige in dieser Sache. Ich erfülle nunmehr mein der Herzogin gegebenes Versprechen und teile Ihnen mit, daß Mr. Montacute mein Verehrer war!«
Eine geraume Zeit schwieg der Arzt; seine Blicke wanderten von einer zur anderen der beiden Frauen, um aus ihrem Benehmen das eben Gehörte richtig beurteilen zu können.
Das Geständnis der Zofe, daß der Ermordete seit geraumer Zeit ihr Liebhaber war, klärte jedenfalls verschiedene dunkle Punkte in dieser Tragödie auf. Die Tatsache begründete hinreichend den Schritt der Herzogin, dem Schauspieler ihr Haus zu untersagen und ihm weiteren Besuch Lady Rosas zu verbieten. Sie motivierte gleichfalls die heimlichen Besuche Montacutes. Aber den Punkt, den Tarleton auch bereits dem Herzog vorgehalten hatte, ließ sie unaufgeklärt. Warum hatte Montacute zu derart erniedrigenden Mitteln seine Zuflucht nehmen müssen, wenn er Mademoiselle doch nur hätte eine eigene Wohnung zu mieten brauchen, um sie ungestört zu jeder Stunde besuchen zu können? Die zweite Frage, die sich unwillkürlich aufdrängte, war die, warum die Herzogin nach dem bekannt gewordenen Verhältnis ihre Zofe noch weiterhin in ihrem Dienste behalten hatte. Wenn Ihre Gnaden wirklich gegen dieses Verhältnis war, dann wäre es doch das Nächstliegende gewesen, die Zofe sofort aus ihren Diensten zu entlassen.
Endlich aber blieb auch noch das Rätsel zu lösen, das den Sachverständigen vornehmlich zu diesem Besuch veranlaßt hatte: Wer hatte den Unglücklichen ermordet?
Herrin und Zofe hatten aufgehört, sich Blicke zuzuwerfen, und beider Augen ruhten erwartungsvoll auf dem Arzt, als dieser endlich das Schweigen brach.
»Sie wollen mir also zu verstehen geben, daß Montacute einzig und allein, um Sie zu besuchen, dieses Haus betreten hat, wie?« fragte er die Prégut.
»Ja, Monsieur!« Die Französin gab dies offen und ohne jede Verlegenheit zu.
»Wußte Ihre Herrin von diesem Besuch?«
»Doktor!!!« Dieser entrüstete Ausruf kam von der Kranken.
»Aber certainement nicht!« unterstützte die Zofe den Ausruf.
»Sie vergessen, daß ich meinem Vetter das Haus verboten hatte,« protestierte die Kranke gegen die Frage des Arztes.
»Sehr richtig,« gab der Arzt zu. »Ich wunderte mich nur, was die Zofe dazu veranlaßt haben mochte, Ihnen diese Beichte abzulegen.«
Wieder ein schneller Blickwechsel zwischen beiden Frauen.
»Das kann ich Ihnen sagen, Doktor. Diesen Morgen merkte ich, daß Mademoiselle außerordentlich niedergeschlagen war, und da ich wußte, daß irgend etwas sich früher zwischen den beiden abgespielt hatte, befragte ich sie, worauf alles herauskam.«
»Besten Dank, Herzogin.« Der Arzt wandte sich der Prégut zu. »Können Sie mir nun vielleicht irgendeine Andeutung machen, wer Ihren Verehrer ermordet haben könnte?«
Er wollte ihr mit dieser Frage eine Falle stellen, denn er hatte bisher noch kein Wort verraten, daß der Mord in Trafford House verübt worden war. Vielleicht konnte er dadurch herausbekommen, ob die Zofe Mitwisserin des Verbrechens wäre. Aber ihre Antwort befriedigte ihn in seiner Auffassung, daß sie, soweit eine Mitwisserin in Betracht kam, sicherlich unschuldig war.
»Ich, Monsieur? Nein! Hat die Polizei nicht schon eine Spur entdeckt?«
Der Arzt beobachtete die Herzogin unter halbgeschlossenen Lidern, und es fiel ihm auf, daß sie der Antwort der Prégut mit großem Interesse entgegengesehen hatte, und daß sie ebensowenig eine Ahnung von dem Mord in Trafford House zu haben schien, wie ihre Zofe.
Er entschloß sich, den beiden einen weiteren Schlag zu versetzen.
»Ich gehöre offiziell der Polizei an, wenigstens soweit diese Sache anbelangt,« erinnerte er sie. »Ich habe Ihnen bisher noch nicht alles mitgeteilt. Die Leiche Montacutes wurde heute morgen auf einer Straße in Chiswick liegend aufgefunden. Der Mord selbst aber wurde vorgestern nacht im Trafford House verübt.«
»Oh!!!«
Es war mehr ein Kreischen als ein Schrei, das sich der Kehle der Kranken entrang. Die Furcht der Zofe schien sich mehr auf die Wirkung, die diese Mitteilung des Arztes auf ihre Herrin hervorgebracht hatte, zu beziehen, als auf eigenes Entsetzen. Sie eilte an die Seite der Kranken und versuchte, dieselbe mit einem Riechfläschchen wieder zu sich zu bringen.
Ehe jedoch ein weiteres Wort gesprochen werden konnte, klopfte es an die äußere Tür zu den Gemächern der Herzogin, und Seine Gnaden überschritt mit erschrockenen Blicken die Schwelle.
»Amy, was ist denn los?« Er ging dem Bette zu, als er plötzlich die Gestalt des Arztes erblickte. Wie festgewurzelt blieb er stehen und erbleichte vor Zorn.
»Dr. Tarleton? Wie können Sie es wagen? Was haben Sie hier zu suchen?«
Diese Unterbrechung war für den Arzt eine böse Enttäuschung, denn er hatte im stillen gehofft, von den Frauen in ihrer ersten Überraschung einige Geständnisse erreichen zu können; nun aber gab ihnen das Erscheinen des Herzogs Zeit, sich zu fassen. Der Arzt war sich keineswegs darüber klar, ob der Herzog nicht die ganze Zeit hinter seiner Tür die Unterredung mit angehört und sein Erscheinen so eingerichtet hatte, um seiner Frau ein weiteres Kreuzverhör zu ersparen.
Der beleidigende Ton des Herzogs jedoch verlangte eine Zurückweisung. Tarleton erhob sich, mit strengem Blick dem Herzog ins Auge schauend:
»Ich befinde mich hier im Amt, im Dienste Seiner Majestät, des Königs, Euer Herrlichkeit. Wenn Euer Gnaden eine Beschwerde machen zu müssen glaubt, dann ist die Dienststelle dafür das Königliche Ministerium des Innern.«
Der Herzog ballte erregt seine Hände.
»Der Innenminister ist ein Verwandter von mir. Ich werde mich bei ihm über Ihr Vorgehen beschweren.«
»Wie mir Sir Charles mitgeteilt hat, ist dies bereits geschehen, Mylord.«
Augenscheinlich war der Herzog über diese Antwort verblüfft, denn sie zeigte ihm, daß sein Einfluß auf den Minister doch nicht so allgewaltig war, wie er sich eingebildet hatte. Er hielt es deshalb für klüger, seinen Ärger zu dämpfen, und auch die Herzogin mischte sich in diesem Augenblick in den Kampf der beiden Männer.
»Dr. Tarleton befindet sich mit meiner Genehmigung in diesem Zimmer, Henry. Er kam, um mir die schreckliche Neuigkeit über Edwin Montacute zu bringen.«
»Warum wollte er sie dir bringen, warum kam er nicht zu mir?«
Der Spezialist nahm die Beantwortung der Frage auf sich.
»Sie, Herzog, waren bereits über die Hauptdetails des Falles unterrichtet, und ich glaubte auch annehmen zu können, daß Ihr Verwalter Ihnen schon mitgeteilt hat, daß ich mich von jeder Verpflichtung entbunden fühle, über die Art und Weise, wie Sie die Leiche beiseite brachten, zu schweigen.«
»Zu meinem Vorgehen hatte ich die Erlaubnis Sir Charles',« entgegnete ihm der Herzog. »Der Gedanke zu dieser Maßnahme stammt von ihm, denn es war ausgeschlossen, die Totenschau, so wie Sie es wünschten, hier im Hause stattfinden zu lassen.«
Tarleton zog erstaunt die Brauen hoch. Es war offenbar klüger, sich in diesem rechts und links von Fallen umgebenen Gelände vorsichtig zu bewegen.
»Ich kann Ihnen auch mitteilen, daß die Identität des Toten bereits heute morgen in Chiswick festgestellt worden ist. Da die Nachricht darüber wohl in allen Abendzeitungen stehen wird, hielt ich es für ratsam, der Herzogin persönlich Kenntnis davon zu geben.«
»Ich finde es ausnehmend mitfühlend von Dr. Tarleton, dies getan zu haben,« murmelte die Kranke, »und ich danke Ihnen wirklich sehr.«
Das Gesicht des Herzogs wurde bei dieser Fahnenflucht der Herzogin bedeutend länger.
»Meine liebe Amy, ich wollte doch nicht, daß du von dieser schrecklichen Sache überhaupt etwas erfahren solltest,« sagte er eindringlich. »Wie ist Dr. Tarleton überhaupt auf die Idee gekommen, daß du dich für diese Sache interessieren könntest?«
»Rede doch keinen Unsinn, Henry,« erwiderte seine Gattin in gereiztem Tone. »Der Doktor weiß doch ganz genau, daß Edwin mit mir verwandt war.«
»Wie ist denn das möglich …?«
Der Sachverständige fand es nun höchste Zeit, mit seinen Worten nicht mehr hinter dem Berg zu halten.
»Das ganze Unheil in diesem Fall ist daraus erwachsen, daß Sie, Herr Herzog, es von Anfang an darauf angelegt hatten, mich in die Irre zu führen. Sie versuchten es mir zu verheimlichen, daß der Ermordete ein Verwandter der Herzogin war, daß er ein Verehrer Lady Rosas gewesen ist, daß man ihm das Betreten des Hauses untersagt hatte – kurz, alles, was Licht auf dieses Drama werfen konnte, sollte ich nicht erfahren; Sie begannen die Sache mit der törichten Andeutung durch Ihren Verwalter, ein vollkommen Fremder hätte eingebrochen und seinen Tod auf der Treppe des Palastes gefunden. Als ich dahinterkam, daß Sie mir nicht trauten, fing ich natürlich auch an, mit meinem Wissen hinter dem Berg zu halten. Tatsächlich wußte ich den Namen des Ermordeten schon wenige Minuten, nachdem ich zugezogen worden war. Seine Kleider waren ›Dunlop‹ gezeichnet.«
Wieder regte sich der Herzog auf.
»Kommt das in die Zeitung? Wird die Öffentlichkeit Kenntnis davon erhalten, daß ein Verwandter der Herzogin von Altringham ermordet worden ist?«
Tarleton war nahe daran, Ja! zu sagen, denn der Familienstolz des Herzogs begann ihm auf die Nerven zu fallen. Aber da durch eine neue Differenz nichts erreicht werden konnte, antwortete er widerwillig:
»Bisher habe ich mein Wissen für mich behalten.«
»Besten Dank, Doktor,« seufzte die Herzogin. »Ich weiß, wir alle schulden Ihnen viel. Dr. Tarleton hat meiner Meinung nach sehr taktvoll gehandelt,« fügte sie, in vorwurfsvollem Ton zu dem Gatten gewandt, hinzu.
So wenig die bewußt zur Schau getragene Schönheit der Herzogin ihn beeinflußt hatte, so wenig wirkte nun die Schmeichelei auf Dr. Tarleton. Was ihn am meisten interessierte, war die Frage, ob zwischen dem Herzog und seiner Frau geheime Abmachungen in diesem Drama bestanden. Wußte die Herzogin wirklich nicht eher von dem Mord, bis er, Tarleton, es ihr berichtet hatte? Ihre Überraschung und ihr Entsetzen waren doch offenbar echt gewesen – und doch, es war kaum daran zu zweifeln, daß sie und ihre Zofe gemeinschaftlich etwas verschwiegen.
Im allgemeinen war der Arzt geneigt, zu glauben, daß die Herzogin doch mehr Kenntnis von diesen heimlichen Besuchen Montacutes hatte, als sie zugeben wollte. Es war auch möglich, daß die Zofe bestochen worden war, alle Schuld auf sich zu nehmen. Diesen Verdacht auszusprechen, war in der Gegenwart des Herzogs keine ungefährliche Angelegenheit, aber trotz seiner Bedenken beschloß Tarleton, die Zofe auf die Probe zu stellen, ob sie die Wahrheit sagen würde.
»Ich habe Sie noch etwas zu fragen,« wandte sich der Arzt an die Prégut. »Soll ich jetzt reden, oder ziehen Sie es vor, unter vier Augen mir zu antworten?«
Die Zofe warf ihrer Herrin einen erschrockenen Blick zu. Die Herzogin, die ihre Selbstbeherrschung vollkommen wiedergefunden hatte, antwortete für ihre Dienerin:
»Da Suzanne sich alles vom Herzen gesprochen hat, ist wohl für weitere Heimlichkeiten ihrerseits kein Grund mehr vorhanden.«
Der Arzt sandte dem mit offenem Munde zuhörenden Herzog einen zweifelnden Blick zu.
»Ich möchte vor dem Herzog keine Geheimnisse haben,« bemerkte seine Gattin, ihrem Gemahl einen liebevollen Blick zuwerfend, den dieser mit kindischer Freude erwiderte. »Ich bedaure, dir sagen zu müssen, Henry, daß Suzanne gebeichtet hat, daß die heimlichen Besuche Montacutes ihr gegolten hätten.«
Seine Gnaden wandte sich triumphierend dem Arzt zu.
»Also wer hat recht gehabt? Habe ich es nicht von Anfang an gesagt?« Er beugte sich über seine Gattin und fügte mit mildem Vorwurf hinzu: »Ich habe es dir doch gleich gesagt, daß sich Rosa nicht so weit kompromittiert haben könnte.«
Wieder hörte der Arzt etwas, was er sich merken mußte. Offenbar war es zu einer gewissen Aussprache zwischen den beiden Gatten gekommen. Der Arzt vermutete, daß der Herzog seiner Frau erzählt hatte, daß Montacute den Palast heimlich mit einem von der Prégut gelieferten Schlüssel betreten hätte, und daß die Herzogin ihre Zofe auf Kosten der Stieftochter Lady Rosa zu verteidigen versucht hatte.
Die Kranke nahm den leichten Vorwurf liebenswürdig lächelnd auf sich.
»Natürlich hast du recht gehabt, Henry, aber du wirst dich doch auch erinnern, daß ich niemals mehr andeutete, als daß Rosa leichtsinnig gehandelt hätte. Mädchen von heute denken immer, sie könnten sich wie Männer geben.«
Tarleton redete die Prégut an.
»Da Sie nun wissen, daß Montacute während eines seiner Besuche im Schlosse ermordet worden ist, können Sie mir vielleicht Gründe für diesen Mord nennen?«
Die Französin warf ihrer Herrin einen merkwürdigen Blick zu, und dann begann sie plötzlich zu zittern.
»Ich bin unschuldig, Herr Doktor. Ich schwöre es bei Gott.«
»Na, na! Niemand beschuldigt Sie,« beruhigte sie der Arzt in freundlichem Tone. »Ich frage Sie doch nur, ob Sie vielleicht jemand wüßten, der einen Grund gehabt hätte, Ihren Verehrer beiseite zu bringen.«
Die Zofe zitterte am ganzen Körper. Wahrscheinlich ließ die Wirkung des Rauschgiftes, das sie zu sich genommen hatte, nach. Sie warf einen trostlosen Blick auf die Herzogin, deren Miene nichts anderes als stille Verwunderung ausdrückte.
»Los, los, Suzanne, sprich offen!«
»Ich habe solche Angst, Madame! Ich darf keine Vermutungen aussprechen! Ich wüßte nicht, wer etwas gegen Mr. Montacute gehabt hätte außer – – –,« Sie zögerte und fing an zu weinen.
»Außer …?« fragte Tarleton.
»Es ist unmöglich, Monsieur! Mylady Rosa kann nichts damit zu tun gehabt haben.«
Der Sachverständige fuhr entsetzt zurück. Er war bereits einmal gezwungen gewesen, Lady Rosa in Verdacht zu haben, daß sie Montacute heimlich empfing, und daß ihr Verlobter, Hauptmann Theobald, als Täter in Frage kommen konnte; aber eine Beschuldigung, wie sie jetzt angedeutet worden war, überraschte den Spezialisten vollkommen. Er verharrte bewegungslos, mit einem derartig entsetzten Blick, wie ihn ein Mensch haben mochte, der einen Stein aufhob, um einen Käfer zu fangen, und sich einer Natter gegenüber sah.
Der Herzog von Altringham war offenbar nicht weniger entsetzt.
»Um Himmelswillen, Weib! Wie können Sie es wagen, so etwas auch nur anzudeuten?«
Sogar die Herzogin schien ihrem Gemahl beizupflichten, wenn auch in milderer Form.
»Du weißt nicht, was du sprichst, Suzanne. Denke ruhig nach, ob nicht doch vielleicht jemand anders Ursache gehabt haben könnte, Montacute zu hassen.«
Prégut schüttelte verzweifelt den Kopf. Aber der Herzog von Altringham eilte zu ihrer Rettung herbei. Er wandte sich mit einer vertraulichen Miene an den Arzt.
»Hatte ich nicht mit meinen Vermutungen recht, die Besuche hätten der Zofe gegolten? Warum sollte ich da nicht auch den Mörder richtig geraten haben? Sie wissen, daß ich den Neger von Anfang an in Verdacht hatte; schon die Tatsache, daß ein vergifteter Pfeil benutzt worden war, weist auf ihn. Sir Charles Beaumanoir ist derselben Meinung.«
Während der Herzog sprach, sah der Arzt, wie die Herzogin und Mademoiselle einen blitzschnellen Blick austauschten. Mademoiselle hörte auf zu weinen.
»Du denkst aber auch an alles, Henry,« bewunderte die Herzogin ihren Gatten. »Dr. Tarleton hat mir von einem vergifteten Pfeil überhaupt nichts erzählt. Ich wußte, daß Ernest einige aus Nigeria mitgebracht hatte. Selbstverständlich kann man ihm einen gestohlen haben.«
»Falai ist der einzige, der, außer Theobald selbst, gewußt hat, wie tödlich diese Pfeile wirkten,« warf der Herzog finster ein.
»Das möchte ich nun wieder nicht behaupten,« antwortete die Herzogin leidenschaftlich. »Ernest hat uns doch alle gewarnt, sie zu berühren.«
Der Arzt konnte sich angesichts dieser Bemühung einer Stiefmutter, den Verdacht auf die Stieftochter zu richten, kaum beherrschen. Da er sich vorgenommen hatte, das junge Mädchen zu schützen, vergaß er sich zum ersten Mal so weit, daß er seine Pflicht verletzte, um eine Frage an die Hauptzeugin zu stellen:
»Können Sie mir sagen,« wandte sich Tarleton an die Zofe, »ob Sie jemals etwas von einer besonderen Bewunderung Falais für Ihre Person bemerkt haben?«
Prégut warf dem Fragenden einen dankbaren Blick zu. Wie auch immer ihre Herrin darüber denken mochte, sie jedenfalls schien keinen Gefallen daran zu finden, den Verdacht gegen Lady Rosa zu verstärken. Man konnte nicht vermuten, daß eine Frau wie diese Gewissensskrupel hätte, aber sie war wahrscheinlich klug genug, zu wissen, was es hieß, eine Dame in der Stellung einer Tochter des Herzogs von Altringham zu beschuldigen.
Mit einer natürlich wirkenden Eitelkeit antwortete sie:
»Aber sicher, Monsieur! Da Sie mich direkt fragen, muß ich zugeben, daß jenes hassenswerte, wilde Geschöpf mich dauernd mit seinen Aufmerksamkeiten belästigt; oft hatte ich sogar vor seiner Wildheit Furcht.«
Während dieser Mitteilung ließ sie ihre Blicke nicht ein einziges Mal in die Richtung ihrer Herrin schweifen. Die Miene der Herzogin drückte absolut kein Gefallen an diesen Äußerungen aus, während andererseits der Herzog seine größte Freude daran zu haben schien.
»Großartig,« rief er aus. »Das muß Ihnen doch genügen, Doktor? Es ist mir jetzt vollkommen klar, daß der Schwarze, weil ihn die Prégut nicht anhören wollte, Montacute aus Rache ermordet hat. Burrowes hat mir des öfteren gesagt, daß Falai sich zu den ungewöhnlichsten Morgenstunden herumtreibt, so daß es wahrscheinlich ist, daß er den Schauspieler beim Betreten des Hauses beobachtet hat.«
Die Herzogin bewegte sich in ihren Kopfkissen. Der Blick, den sie Tarleton zuwarf, drückte die offene Frage aus, ob der Arzt Schwächling genug sein würde, die Theorie ihres Gatten zu akzeptieren. Aber Tarleton war auf seiner Hut.
Die Lage war für ihn schwierig geworden. So sehr es ihm auch am Herzen lag, Lady Rosa zu schützen, so durfte dieses Bestreben nicht so weit gehen, daß er einen Unschuldigen, und sei es auch nur ein Wilder, belasten ließ. Andrerseits paßte es ihm momentan, in dem Herzog den Glauben zu erwecken, daß er seine Theorie anerkenne und ihr beistimme. Vielleicht konnte er den wirklichen Verbrecher dadurch sicherer machen.
Was ihn überhaupt veranlaßt hatte, diese dramatische Szene im Schlafzimmer herbeizuführen, war der Zusammenbruch der Zofe gewesen, und die Kluft, die sich offenbar aus diesem Grunde zwischen der Herrin und der Dienerin öffnete. Er glaubte, daß, falls es ihm gelingen würde, die Zofe unter vier Augen zu verhören – er konnte ja ihre Furcht steigern – er ihr mehr Geständnisse würde entlocken können, als sie bisher gemacht hatte.
Er überlegte daher nur kurze Zeit, um dann dem Herzog zu antworten:
»Ich stimme Ihnen in dieser Ansicht zu, daß durch die Bekundungen Mademoiselles ein gewisser Verdacht gegen den Neger begründet erscheint, aber ich muß natürlich die Tatsachen genauestens prüfen, ehe ich ein Urteil abgeben könnte. Wie Sie wissen, Herzog, ist Hauptmann Theobald ein fester Verteidiger des Negers, den er für absolut unschuldig hält, auch habe ich heute morgen das Zimmer des Negers gründlich durchsucht, ohne eine Spur der Waffe zu finden.«
»Er kann sie ja vernichtet haben,« erwiderte der andere.
»Möglich. Was ich sagen wollte, ist, daß der ganze Verdacht ja nur durch die Bekundung der Zofe entstanden ist, und ich werde das Zeugnis Mademoiselles wahrscheinlich schriftlich niederlegen müssen. Wenn die Herzogin ihr Urlaub geben würde, möchte ich bitten, daß man mir Mademoiselle morgen in mein Haus schickt, wo ich sie in aller Ruhe verhören könnte. Mittlerweile werde ich Ihnen soweit entgegenkommen, bei der Totenschau nichts davon zu erwähnen, daß der Ermordete seinen Tod hier in Trafford House gefunden hat.«
Der Herzog nahm dieses Versprechen mit innerster Dankbarkeit entgegen und überschüttete den Arzt mit Entschuldigungen über sein vorheriges Benehmen. Auch die Herzogin schien diese Dankbarkeit zu teilen und gab herablassend die Erlaubnis, daß die Zofe den Arzt am nächsten Tage besuche.
Tarleton mußte das Haus nunmehr verlassen, da es höchste Zeit für ihn war, nach Chiswick zu fahren. Da er aber Hauptmann Theobald auf der Diele traf, wollte er ihm wenigstens einen Wink geben, wohin man die Untersuchung zu treiben wünschte. Er zog den jungen Mann in ein Gemach und sagte:
»Ich muß Ihnen etwas mitteilen, was Sie wissen müssen. Vor allen Dingen hat die Zofe der Herzogin zugegeben, daß Montacute das Haus betreten hat, um sie zu besuchen. Sie hat dieses Geständnis eben in Gegenwart ihrer Herrin abgelegt.«
»Gott sei Dank!« Es ist unnötig, hinzuzufügen, wofür Theobald Gott dankte. Die beiden Verteidiger Lady Rosas verstanden sich auch ohne weitere Worte.
»Zweitens gibt die Prégut an, daß Ihr Diener Falai in sie verliebt sei, und daß er sie bereits durch seine Zudringlichkeit erschreckt habe.«
»Das ist Schwindel von ihr!«
»Höchstwahrscheinlich! Sie wird morgen zu mir kommen, und da werde ich die beste Gelegenheit haben, ihr auf die Zähne zu fühlen.«
Die beiden drückten einander die Hand, und der Arzt eilte fort.
Die Post-Mortem-Untersuchung in Chiswick brachte außer den schon bekannten Tatsachen nichts Neues ans Licht. Als Todesursache wurde unzweifelhaft Gift festgestellt; das Gift selbst war jedoch den Chemikern unbekannt. Nur der Spezialist Tarleton konnte die Vermutung aussprechen, daß es das furchtbare Gift Nigeriens sei.
Der Totenbeschauer trommelte so schnell wie möglich die Geschworenen zusammen, um eine schleunige Bestattung des Opfers zu ermöglichen. Die Abendzeitungen berichteten ausführlich über diese Totenschau unter der Überschrift »Das Geheimnis von Chiswick«. Der Tote wurde nur mit seinem Bühnennamen erwähnt, und auch das Urteil lautete, wie man vorausgesehen hatte.
Die Todesursache Montacutes blieb für die große Menge ein Geheimnis.