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In der fünften Stunde eines herrlichen Sommermorgens klopfte es gegen die Tür eines kleinen Hauses in einer stillen Seitenstraße nahe dem Britischen Museum. Bis die Tür geöffnet werden konnte, wurde das Klopfen fortgesetzt, gedämpft, aber unablässig, als wolle der Besucher durch seine Ausdauer das Dringliche seines Besuches bekräftigen.
In diesem Teile Londons ist ein derartig früher Besuch etwas durchaus Ungewohntes, – die spätesten Nachtschwärmer sind schon lange zu Bett gegangen, und der erste Milchmann hat seine Tagesrunde noch nicht begonnen –, und es war klar, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte, um diesen frühen Besuch zu veranlassen.
Das einzige, was diesen Besuch gerade in diesem Hause erklärlich erscheinen ließ, war das Türschild, auf dem der Name »F. Tarleton, Dr. med.« eingraviert war.
Aber es mußte auffallen, daß die Praxis Dr. Tarletons keine von denen sein konnte, die den Arzt nächtlichen Konsultationen unterwarf, denn an seinem Hause fehlte die bei Ärzten mit großer Praxis übliche Nachtklingel. Dies erschien merkwürdig, noch merkwürdiger aber war es, daß Dr. Tarleton, obgleich sein Name jedem Zeitungsleser bekannt war, weniger Patienten in London hatte, als man bei einem Mediziner seines Rufes hätte vermuten sollen. – Die wenigen Leute, die ihn besuchten, – Patienten und auch andere –, kamen mit derselben geheimnisvollen Miene und genau so verstohlen, wie derjenige, der eben durch sein fortgesetztes Klopfen den tiefen Schlaf des Arztes in verträumtes Wachen überzuleiten begann.
Dr. Tarleton hatte sein Schlafzimmer im obersten Geschoß seines Hauses, und zwar lag es mit den Fenstern nach der Straßenseite zu.
Durch die Jalousie des geschlossenen Fensters drang die helle Sommersonne in breiten Strahlen ein. Das dauernde Klopfen, so durchdringend es auch in der Stille des Hauses wirkte, hatte keinen drohenden Klang für den Insassen des Hauses. Dr. Tarleton stand leise auf und begab sich an das Fenster, öffnete die Jalousie teilweise und blickte auf die stille Straße hinunter.
Der Besucher selbst war für den Arzt durch eine vorspringende Wand unsichtbar, aber ein vornehm aussehendes Automobil stand in der Obhut eines elegant livrierten Chauffeurs an der Bordschwelle. Dr. Tarleton brauchte keinen zweiten Blick hinunterzuwerfen, um festzustellen, daß der Wagen ein Privatauto und sicherlich das kostspielige Produkt einer erstklassigen Fabrik sei. Kein Wappen oder Monogramm gaben einen Anhalt dafür, wer der Eigentümer sei, und auch die Livree des Chauffeurs war neutral gehalten. Es konnte das Privatauto eines Botschafters sein, der seine Besuche nicht durch neugierige Journalisten veröffentlicht haben wollte, oder eines Mannes, der ihn zu verstohlenen Besuchen in Häusern benötigte, von denen seine Frau keine Kenntnis erhalten sollte.
Der Chauffeur saß geradeausblickend an seinem Steuer, als sei er es gewohnt, sich um nichts zu kümmern, was seinen Herrn betraf; wenn man ihn beobachtete, konnte man nicht merken, daß der Besucher noch mit der Hand am Klopfer stand, und daß er noch immer nicht ins Haus hineingelangt war.
Dr. Tarleton schloß die halbgeöffnete Jalousie so leise und vorsichtig, wie er sie geöffnet hatte. Sein Scharfblick hatte ihm schon den Grund dieses frühen Besuches verraten, und er bewegte sich nun etwas hastiger, als wisse er, daß Zeit in einem solchen Fall wertvoll wäre. Ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen oder sich nur im geringsten mit seiner Kleidung zu beschäftigen, legte er einen dunkelroten Bademantel um und ging rasch, und in seinen weichen Hausschuhen unhörbar, die Treppe hinab. Auf seinem Weg ging er an mehreren festverschlossenen Räumen vorbei, die die zu seinem Beruf nötigen Gegenstände, Mikroskope, Kulturen und lange Reihen von Glasflaschen mit Drogen – nicht alle in den Lexika der Apothekerkunst angeführt – enthielten. Zahlreiche Bücher, auch im Britischen Museum dem Publikum nicht zugängig, waren hier aufgestellt.
Die Haustür war durch eine altmodische Kette gesichert. Der Arzt ließ die Kette angeschlossen, als er nun die Tür einige Zoll breit öffnete.
Sobald sein Besucher das erste Geräusch des sich im Schloß drehenden Schlüssels hörte, unterließ er das weitere Klopfen, und als der Doktor durch den schmalen Spalt hinausblickte, sah er, daß der Störenfried unstreitig ein beruhigendes Äußeres hatte. Er sah wie die verkörperte Achtbarkeit aus, grauhaarig, glattrasiert, und gekleidet wie ein Geschäftsmann in guten Verhältnissen. Er mochte etwas über fünfzig Jahre alt sein, und seine unterwürfige Haltung schien anzuzeigen, daß er sich selbst als untergeordneten Menschen betrachtete, aber gleichzeitig davon überzeugt war, daß er in einer verantwortlichen Stellung Leute unter sich hatte, über die er eine gewisse Autorität ausübte.
Ehe der Arzt die Sicherheitskette entfernte, fragte er in unterdrücktem Tone:
»Was ist los?«
»Herr Doktor Tarleton?« erkundigte sich der Besucher, gleichfalls leise, aber respektvoll.
Der Arzt nickte bejahend mit dem Kopf.
»Ich bin der Verwalter Seiner Gnaden, des Herzogs von Altringham,« stellte sich der andere vor. »Seine Gnaden wäre Ihnen für einen sofortigen Besuch außerordentlich verbunden; ich habe einen Wagen mitgebracht.«
Ohne ein Wort zu erwidern, löste der Arzt die Kette und winkte den Verwalter zu sich ins Haus.
»Hat irgend jemand dem Herzog geraten, sich an mich zu wenden?«
»Jawohl, Herr Doktor; Sir Philipp Blennerhasset. Sir Philipp ist der Hausarzt Seiner Gnaden.«
»Sir Philipp ist wohl bereits im Hause?« Die Frage wurde durch einen prüfenden Blick begleitet, unter dem der Hausverwalter die Augen senkte.
»Er war dort, als ich wegfuhr, Herr Doktor,« gab der Mann zu.
Diese Antwort schien den Arzt zufrieden zu stellen, und er führte seinen Besucher in ein kleines Sprechzimmer, das nur notdürftig möbliert war und keinerlei mit dem Arztberuf in Verbindung stehende Gegenstände enthielt. Dr. Tarleton zog erst die Jalousien hoch und wies seinen Besucher dann in einen Stuhl, blieb aber selbst stehen, während er mit seinen Erkundigungen fortfuhr.
»Nun, bitte, erzählen Sie mir mehr. Wer ist der Patient?«
Nun, zum ersten Male, schien der Verwalter seine gewohnte Offenheit zu verlieren. Er sprach wie ein Mann, der sich in einer zwar vorhergesehenen, aber trotzdem unangenehmen Situation befindet.
»Es tut mir leid, Herr Doktor, aber diese Frage kann ich nicht beantworten. Wir wissen nicht, wer es ist.«
Obgleich der Arzt reichliche Erfahrungen in mysteriösen Angelegenheiten hatte, war er doch von dieser Antwort außerordentlich überrascht.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er scharfen Tones. »Erklären Sie sich näher!«
»Ich kann weiter nichts sagen, als daß vor ein bis zwei Stunden ein Fremder tot im Hause gefunden wurde, ohne daß man bisher weiß, wer er ist, oder woher er kommt.«
»Sir Philipp Blennerhasset hat angeordnet, daß Sie, Herr Doktor, hinzugezogen werden sollen, um sie festzustellen. Er sieht sich vorher außerstande, seine Meinung darüber zu äußern.«
Der Arzt schaute dem Boten des Herzogs von Altringham voll ins Auge.
»Mord?«
Des Verwalters Augen sahen respektvoll zu Boden.
»Sir Philipp hat keinerlei Erklärung abgegeben.«
Der Fragesteller blickte den Mann mit vermehrter Achtung an. Er schien ein Mensch zu sein, der Geheimnisse zu wahren wußte, und mehr noch: er schien ein Mann zu sein, der niemals dazu gebracht werden konnte, zuzugeben, daß ein Geheimnis vorliege. Es war demgemäß zwecklos, zu versuchen, aus ihm durch ein paar Fragen etwas herauszubekommen.
»Bitte, seien Sie so freundlich und warten Sie, bis ich mich angekleidet habe, dann werde ich mit Ihnen gehen,« sagte der Arzt kurz und eilte aus dem Zimmer.
Die Eile, die ihn aus seinem Schlafzimmer nach dem Tor gebracht hatte, war nun nicht mehr notwendig, denn es handelte sich, wie er erfahren hatte, nicht mehr darum, ein Menschenleben zu retten, wie es so oft der Fall war. Trotzdem bestanden noch genügend Gründe, so schnell wie möglich an den Schauplatz des geheimnisvollen Falles zu eilen, was anscheinend auch der Bote des Herzogs wünschte. Das Vorhandensein einer Leiche im herzoglichen Hause konnte nicht lange der Öffentlichkeit verborgen bleiben, und die Behörde, aber auch das große Publikum würden Aufklärung fordern. Es war dem Arzt klar, daß sein Kollege, der Hausarzt des Herzogs, nicht gewillt war, diese Aufklärungen zu geben.
Der Doktor brauchte nur kurze Zeit, um sich in den am Fußende seines Bettes auf einem Stuhl liegenden Anzug zu werfen. Dieser Anzug war charakteristisch für seinen Träger; er war schwarz, wie es seinem Beruf entsprach, und ungepflegt, wie es sorglose Gepflogenheiten zur Folge hatten. Die bemerkenswerteste Eigentümlichkeit in der Ausrüstung des Arztes war eine Uhr, eine erstklassige, goldene Taschenschlaguhr, die ihm im Verfolg einer außerordentlich diskreten Angelegenheit von einem gekrönten Haupte verehrt worden war, und die Doktor Tarleton an einem schwarzen Seidenband trug. Wenn er in irgendeinen Fall oder in ein tiefsinniges Gespräch versunken war, nahm er die Uhr aus der Tasche und schwang sie wie ein Perpendikel in seiner Hand hin und her. Die Uhr war in jedem Gerichtssaal so bekannt wie der Doktor selbst, niemals aber hatte man versucht, sie ihm zu stehlen. Das lag daran, daß kein Verbrecher, so hartgesotten er auch war, es gewagt hätte, mit Dr. Tarleton auf feindlichem Fuße zu leben.
Der Grund für diese Furcht und überhaupt für alles, was im Leben des Arztes selbst und in seiner Umgebung befremdlich erschien, war recht leicht zu finden. Dr. Tarleton war nämlich die größte existierende Autorität für Gifte. Sein Haus war ein Laboratorium zum Studium geheimnisvoller Gifte, mineralischer, vegetabilischer oder tierischer, ein Studium, das in öffentlichen Laboratorien nicht ausgeführt werden konnte, weil die Gefahr bestand, daß die Anwendungsmöglichkeiten der Gifte nicht geheimgehalten werden konnten. Nur weil er die ganze Materie so weit wie möglich beherrschen wollte, hatte sich Dr. Tarleton in der Nähe des Britischen Museums niedergelassen, wo er sämtliche Nachschlagewerke zur Hand hatte. Er war Zeuge und Sachverständiger in Giftmordverhandlungen, und als solcher war er weit und breit im In- und Ausland berühmt. Er nahm die Stelle eines medizinischen Sachverständigen für die Kriminalabteilung des Innenministeriums ein. Seine Privatpraxis, soweit sie bestand, bezog sich meist auf Untersuchungen gleicher Art, nämlich auf verdächtige Todesfälle, die man auf Vergiftungen zurückführen konnte.
Nach kaum einer Viertelstunde kam der Arzt angekleidet, seine Tasche mit allen erforderlichen Utensilien in der Hand, in das Sprechzimmer zurück. Als er die untersten Treppenstufen erreichte, war der Hausverwalter des Herzogs aufgestanden und hatte die Haustür geöffnet, als wenn er dem Arzt möglichst wenig Gelegenheit geben wollte, ihn auszufragen. Er wollte auch, als der Arzt eingestiegen war, seinen Platz beim Chauffeur einnehmen, aber diesmal mußte er dem direkten Befehl des Arztes nachkommen.
»Wollen Sie, bitte, hier mit einsteigen,« wies ihn der Arzt an.
Schnell und geräuschlos rollte der Wagen durch die schlafenden Londoner Straßen, erst als sie sich dem Covent Garden näherten, konnte man die ersten Zeichen des lauten Lebens bemerken, das sich innerhalb weniger Stunden dort abspielen würde.
»Wer hat den Leichnam gefunden?« erkundigte sich Doktor Tarleton, als der Wagen sich in Bewegung setzte.
»Ich selbst, Herr!«
Das war die Antwort, die Dr. Tarleton nach der Erzählung des Hausverwalters erwarten konnte und mußte; er warf dem Manne einen scharfen Blick zu, einen Blick, dem dieser nur schlecht ausweichen konnte, denn er kam aus durchdringenden, unter buschigen Brauen liegenden Augen. Aber der Verwalter ertrug ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Wo haben Sie ihn gefunden?«
Diesmal erfolgte die Antwort mit Überlegung, aber auch freimütig.
»In einem kleinen Alkoven, einer Art Nische, der sich gegen die Haupttreppe zu öffnet.«
»Wie spät war es?«
»Ich möchte behaupten, so zwischen zwei und drei Uhr morgens.« Keinerlei Zögern ging dieser Antwort voraus. Entweder war dieser Zeuge ein glänzender Lügner, oder aber er sagte wirklich die reine Wahrheit.
»Was haben Sie denn um jene Stunde dort zu tun gehabt?«
Der Verwalter richtete sich auf, als fühlte er, daß man seine Angaben in Frage stellte.
»Es ist die gewohnte Stunde, zu der ich einen Rundgang im Hause mache, um mich zu vergewissern, daß alle Türen gut verschlossen sind. Ich tue das jedesmal, wenn ich weiß, daß die Saphire im Hause sind. Sie haben sicherlich von den Altringham Saphiren gehört, Herr Doktor? Man sagt, es seien die kostbarsten des ganzen Königreiches.«
Der Spezialist zuckte etwas verächtlich die Achseln. Hatte man etwa die Absicht, den Mord mit den Saphiren in Verbindung zu bringen? Das mochte für das große Publikum genügen, auch für die Polizei konnte eine derartige Erklärung in Frage kommen, aber – konnte man wirklich glauben, man könne ihn überzeugen, daß Sir Philipp Blennerhasset und dann er selbst konsultiert würden, um einen toten Einbrecher zu diagnostizieren?
»Wie sind Sie denn auf den Leichnam aufmerksam geworden?«
»Ich fand ihn, als ich die Nische betrat. Vom Gewächshaus aus kann man einen Hinterhof überblicken – das wäre nämlich der geeignetste Eingang für einen Einbrecher –, und deshalb bin ich stets ein wenig unruhig über diese Möglichkeit.«
Nichts lag in dieser Erklärung, was unwahrscheinlich oder an den Haaren herbeigezogen zu sein schien.
»Also, erzählen Sie mir, bitte, wie das Ganze zugegangen ist, Mr. …?«
»Ich heiße Burrowes, Herr Doktor. Ich fand den Körper eines noch jungen Mannes – wahrscheinlich nicht älter als dreißig Jahre –, auf dem Fußboden, als wäre er nach rückwärts gefallen. Ich habe ihn sorgfältig untersucht, aber keinerlei Spuren von Gewalt an ihm entdeckt.«
»Wie wußten Sie denn, daß er tot war?«
»Das wußte ich nicht, als ich ihn fand, denn sein Körper war noch völlig warm. Aber als Sir Philipp gegen vier Uhr morgens kam, stellte er fest, daß der Mann schon zwei bis drei Stunden tot wäre.«
Dr. Tarleton nickte zustimmend; er war sicher, daß er in dieser Beziehung wenigstens die Wahrheit erfahren hatte.
»Hatten Sie es persönlich auf sich genommen, nach Sir Philipp zu schicken?«
»Ich habe mich mit Hauptmann Theobald besprochen. Er ist der Vetter Ihrer Gnaden, der Herzogin von Altringham, und wohnt im Hause.«
Die Stirn des Arztes legte sich in Falten. Er nahm seine Uhr heraus und ließ sie langsam hin und her pendeln.
»War es nicht schon etwas zu spät für Hauptmann Theobald, um noch auf zu sein?« bemerkte er.
Burrowes zuckte zusammen und sah sich beunruhigt um.
»Aber er war doch nicht auf, Herr Doktor! Er lag im Bett in seinem Zimmer im dritten Stock, und ich hatte die größten Schwierigkeiten, ihn wachzubekommen.«
»Dann kann ich aber nicht verstehen, warum Sie ihn überhaupt geweckt haben. Was hatte denn Hauptmann Theobald mit dieser Sache zu tun?«
Obgleich die Frage im milden Tone gestellt war, schien sie Burrowes doch zu beunruhigen, sein Gleichmut verflog, und er antwortete in sichtbarster Verlegenheit, die sich sowohl in seiner Stimme als auch in seinen Zügen ausdrückte:
»Ich mußte doch jemanden haben, um den Leichnam fortzuschaffen, und da glaubte ich, daß am besten ein Mitglied der Familie geweckt würde. –«
»Oh!«
Der Spezialist setzte sich plötzlich gerade, und das Pendeln der in seinen Händen schwingenden Taschenuhr wurde lebhafter.
»Sie haben also den Leichnam fortgeschafft, wie? Warum haben Sie denn das getan?«
Der Verwalter blickte unruhig umher; vielleicht hatte nach der Erfahrung, die er mit Sir Philipp gemacht hatte, diese Art Fragestellung ihn etwas überrascht. Er nahm sich, ehe er antwortete, Zeit zur Überlegung.
»Zum Gewächshaus gibt es keine Tür, sondern nur einen Vorhang, und wo der Körper des Toten lag, konnte er von irgendeinem Vorbeigehenden gesehen werden; ich hielt es daher für besser, den Leichnam fortzuschaffen.«
Der Arzt hörte sich diese Erklärung mit einem an Achtung grenzenden Gefühl an; hier hatte man einen Mann, der das Vertrauen seines Herrn voll und ganz verdiente – was Burrowes auch wußte oder zu wissen meinte, war, soweit es die Tragödie betraf, sicherlich bei ihm am besten und sichersten aufgehoben und die Ehre des Hauses Altringham in besten Händen.
»Beschreiben Sie mir den Toten, wie war er gekleidet?« fuhr Doktor Tarleton plötzlich schroff auf Burrowes los.
»Er hatte das Aussehen eines Gentleman,« antwortete der andere nach einigem Zögern. »Ich würde ihn als hübsch bezeichnen; er hatte ein recht auffälliges Gesicht.«
»Wie war er gekleidet?« wollte Tarleton wiederum wissen.
»Er war im Frack.« Diesmal bestand kein Zweifel darüber, daß Burrowes die Antwort höchst widerwillig gegeben hatte.
»Aha! Das ist aber eine recht befremdliche Kleidung für einen Einbrecher, nicht wahr?« war die ironische Feststellung des Arztes.
Mr. Burrowes schien sich zusammenzureißen.
»Nein, Herr Doktor, das glaube ich nicht, und auch Hauptmann Theobald ist der Meinung, daß das vielleicht der erste Versuch des Mannes war, und daß er, nachdem er jemand kommen hörte, Selbstmord begangen hat.«
Also das war die Auffassung im Hause des Herzogs – Selbstmord eines Amateur-Einbrechers, der hinter den Saphiren des Herzogs von Altringham her war? – Die Geschichte klang nicht so, als würde sie in Scotland Yard glaubhaft erscheinen, außer wenn die Polizei wichtige Gründe hätte, sie zu glauben, oder sich den Anschein dazu zu geben. Aber das war sicher: Doktor Tarleton glaubte sie bestimmt nicht.
Dieser begann ein neues Thema.
»Sie haben mir doch erzählt, daß die herzoglichen Juwelen sich gegenwärtig im Hause befänden – daß heißt also, daß der Herzog sowohl wie auch die Herzogin anwesend sind, nicht wahr?«
»Jawohl, Herr Doktor.«
Auch über diese neue Frage war der Verwalter nicht sehr entzückt, aber er beantwortete sie ohne Zögern.
»Wer ist denn außer der Dienerschaft noch im Hause?«
»Nur die Töchter Seiner Gnaden, Lady Agatha und Lady Rosa.«
»Sie sagen: Seiner Gnaden,« erkundigte sich der Spezialist, der in Angelegenheiten des hohen Adels nicht so unterrichtet war, wie man es bei seinen Erfahrungen in Gesellschaftskreisen hätte erwarten können. »Meinen Sie damit, daß die Damen aus einer ersten Ehe des Herzogs stammen?«
»Von der ersten Frau Herzogin,« korrigierte Burrowes würdevoll. »Die jetzige Frau Herzogin hat keine Kinder.«
»Hm! Sind die Töchter erwachsen?«
»Lady Agatha ist bereits mündig,« erwiderte der Verwalter in einem Ton, der ein weiteres Eindringen in dieses Thema zu verbieten schien.
»Ihre Herrlichkeit ist ein wenig – merkwürdig,« fuhr er fort, als bemühe er sich, dem Arzt freiwillig mit allen rechtmäßigen Auskünften zu dienen. »Sie gehört einer Schwesternschaft an, die sich mit Kranken- und Armenpflege befaßt, und ich glaube, sie würde am liebsten in ein Kloster eintreten; man hat aber nicht die Gewißheit, daß sie hierfür geeignet sei.«
Dr. Tarleton bekundete kein größeres Interesse an Lady Agathas Neigung.
»Und Lady Rosa?«
»Ihre Herrlichkeit hat den Ruf großer Schönheit,« erwiderte der Verwalter in ruhiger Verzückung.
»Sie ist mit Hauptmann Theobald verlobt?«
Der Gefragte nickte.
»Aha, ich verstehe; Sie betrachten den Herrn bereits als zur Familie gehörig, nicht wahr? Deshalb haben Sie sich an ihn, anstatt an den Herzog selbst, gewandt, wie?«
Burrowes atmete auf.
»Jawohl, Herr Doktor. Es ist meine Pflicht, Seiner Gnaden soviel wie möglich Sorge und Verdruß zu ersparen.«
»Ganz recht. Aber der Herzog ist doch mittlerweile von der Angelegenheit in Kenntnis gesetzt worden?«
»Sir Philipp hat darauf bestanden.«
Tarleton wurde plötzlich schweigsam. – Nichts regte sich im Belgrave Square, und niemand hätte auf die Vermutung kommen können, daß der große, herzogliche Palast, der an einer Ecke gelegen war, nicht ebenso noch im tiefen Schlummer liege wie die Nachbarvillen. Ein einsamer Polizist spazierte langsam den Bürgersteig entlang und blickte mit gelinder Neugier, aber ohne jeden Verdacht, auf, als der neubereifte Wagen an ihm vorbeifuhr. Der Chauffeur fuhr am Haupteingang vorüber und lenkte in die Seitenstraße ein, wo er vor einem einfachen, grünen Tor haltmachte.
»Herr Doktor werden verzeihen, daß ich Sie durch diese Tür ins Haus bringe,« entschuldigte sich Burrowes, »aber ich befürchte, wenn ich Sie zur Haupttür bringen würde, könnte man darauf aufmerksam werden, daß im Hause etwas nicht in Ordnung ist.«
Der Spezialist beschränkte sich auf ein Nicken, das sein Einverständnis mit dieser Maßnahme Burrowes' andeuten sollte. Er stand vor der Tür und beobachtete, wie der Verwalter mit einem kleinen Messingschlüssel aufschloß.
»Ich werde mir gestatten, Sie gleich in die Bibliothek zu führen, und Sir Philipp benachrichtigen, daß Sie gekommen sind,« sagte der Führer, während er den Arzt in einen kleinen, an die Tür anschließenden Korridor führte. Er sprach im Flüsterton, um dem Arzt das wünschenswerte Schweigen begreiflich zu machen.
Dr. Tarleton folgte dem Verwalter durch einen Anbau auf der Rückseite des Palastes; anscheinend waren in diesem Hintergebäude auch die Quartiere der Dienerschaft gelegen, und als die beiden einen mit Steinen gepflasterten Hof überquerten, hörte das feine Ohr des Spezialisten ein Geräusch, wie es nackte Füße auf dem Fußboden hervorbringen.
»Was ist denn da los?« erkundigte sich der Arzt, indem er stehenblieb.
Die Antwort erübrigte sich, denn ein riesenhafter Neger erschien und hielt in seinen Händen eine Schüssel mit Essen, die er beinahe fallen ließ, als er die beiden so unvermutet sah. Burrowes aber zeigte weder Furcht noch Überraschung.
»Er ist Hauptmann Theobalds Diener, der immer um diese Zeit aufsteht und sich sein Frühstück kocht.«
Der Schwarze schien diese Aufklärung zu verstehen, denn sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das zwei Reihen schneeweißer Zähne sichtbar werden ließ.
Tarleton fühlte plötzlich eine sonderbare Aufregung.
»Wo kommt denn der Mann her?« erkundigte er sich schnell.
»Von Nigeria, glaube ich. Der Hauptmann brachte ihn mit, als er von Afrika heimkam.«
Der Sachverständige für Gifte legte seine Hand auf den Arm Burrowes':
»Führen Sie mich sofort in das Zimmer, wo der Körper des Toten liegt! Verlieren Sie keinen weiteren Augenblick. Bemühen Sie sich nicht erst, Sir Philipp zu holen, denn das könnte ein Fall sein, der kein Warten verträgt.«