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Als der medizinische Berater des Innenministeriums das imposante Portal des Gebäudes in Parliament Street durchschreiten wollte, erwartete ihn eine Überraschung. Der Oberpförtner, der ihn natürlich gut kannte, kam aus seinem Bureau, und indem er ihn mit außergewöhnlicher Achtung begrüßte, sagte er:
»Würden Sir mir, bitte, folgen, Herr Doktor? Ich habe Befehl, Sie, sobald Sie erscheinen, zum Herrn Minister persönlich zu geleiten.«
Tarleton folgte rein mechanisch seinem Führer, ohne sich über die Bedeutung der eben gehörten Worte klar zu sein. Während seiner langjährigen Zugehörigkeit zu dieser Abteilung der Regierung hatte er viele parlamentarische Nullen kommen und gehen sehen, die er mit den verächtlichen Gefühlen eines Beamten für die Beauftragten der Steuerzahler betrachtete. Selten geschah es, daß er mit einem dieser Herren in Berührung kam, und meist hätte er, nach den Namen seiner nominellen Chefs befragt, kaum eine Antwort geben können. Erst als der Oberpförtner im ersten Stock eine neue Richtung einschlug, wurde es dem Arzt klar, daß er nicht wie gewöhnlich den Unterstaatssekretär sehen würde.
»Wo führen Sie mich denn hin?« wollte er wissen. »Das ist doch nicht der richtige Weg.«
Der Oberpförtner runzelte die Stirn. Alle fest angestellten Beamten sind der Meinung, daß sie unfehlbar seien, und man kann einen Oberpförtner nicht ungestraft des Irrtums zeihen.
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor, aber mein Befehl lautet, Sie zum Herrn Minister persönlich zu führen.«
Tarleton unterdrückte noch im letzten Augenblick weitere Fragen. Nun wurde ihm alles klar. Er erinnerte sich der Miene des Herzogs, als das Wort »Innenministerium« gefallen war, und des Eifers, den der Herzog gezeigt hatte, als er, Dr. Tarleton, sich bereit erklärt hatte, dem Innenminister einen Bericht abzugeben, ehe er die Polizei benachrichtigen würde; er erinnerte sich auch, daß Burrowes von demselben Wunsche gesprochen hatte. Niemand wußte besser als der Arzt, welchen großen Einfluß diese Familien besaßen, und wie diese Beziehungen nach oben sie vor dem Zugriff des Gesetzes und der Regierung schützten. War es nicht möglich, daß der gegenwärtige Innenminister dem Herzog von Altringham sein Amt verdankte? Vielleicht hing auch seine Ernennung zum Premierminister von dessen Fürsprache ab. Von sich aus würde der Minister den Sachverständigen nicht über die Köpfe seiner Beamten hinweg zu sich führen lassen. Es war offenbar notwendig, hier eben so vorsichtig vorzugehen wie im Hause des Herzogs.
Im letzten Augenblick erinnerte sich der Sachverständige an den Namen des Ministers, zu dem er geführt wurde. Sir Charles Beaumanoir war einer der prominentesten Köpfe im gegenwärtigen Kabinett. Schon die Tatsache, daß ihm ein Amt anvertraut worden war, das meist für Juristen reserviert war, deutete darauf hin, daß er ein tüchtiger Mann war, und sein Vorgehen in der Mordsache bewies weiter, daß er auch Mut besaß.
Der Oberpförtner klopfte an eine halboffene Tür und öffnete sie vollständig.
»Ich glaube, Lord Townleigh ist bei Sir Charles. Wollen Sie, bitte, so liebenswürdig sein, hier einen Augenblick zu warten, damit ich dem Herrn Minister Ihre Ankunft melden kann.«
Der Name, den der Beamte eben nannte, klang dem Arzt bekannt. Er durchwühlte sein Gedächtnis, und wieder wurde ein neues Licht auf die Affäre geworfen. Hatte nicht Jimmy Borsall erwähnt, daß ein Lord Townleigh, der jüngere, Veronal nähme? War nicht seine Tante die erste Frau des Herzogs und die Mutter seiner Töchter gewesen?
Townleigh betrat jetzt den Warteraum, eine lebende Widerlegung der Verleumdung, die Jimmy Borsall ausgesprochen hatte. Er betrachtete den ihm wohlbekannten Arzt mit Aufmerksamkeit und redete ihn mit bemerkenswerter Achtung in seinem Tone an:
»Wollen Sie, bitte, hier eintreten, Herr Doktor? Sir Charles Beaumanoir steht sofort zu Ihrer Verfügung.«
Als alter Beamter mußte Tarleton bei dieser offiziellen Phrase ein Lächeln unterdrücken. Er traf den großen Politiker vor seinem Schreibtisch sitzend, neben sich zahlreiche Briefkörbe bis an den Rand mit offiziellen Aktenstücken gefüllt, die der Minister, wie Tarleton wußte, ehe er sie unterzeichnete, lesen konnte oder es auch lassen mochte. Auf alle Fälle hatte er sie zu unterzeichnen. Sir Charles, ein hübscher Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren, trug einen schwarzen Gehrock und streng einfarbig graue Beinkleider von großer Eleganz. Seine schwarze Krawatte verriet die Kunst eines ausgezeichneten Kammerdieners, goldumrandete Augengläser hingen an einem dünnen Seidenfaden um den Hals. Jede Bewegung des Ministers unterstrich die Bedeutung einer Persönlichkeit, die sich des höchsten Vertrauens des Premierministers und des Geheimen Rats erfreute. Schon der erste Blick, den ihm Dr. Tarleton zuwarf, überzeugte ihn, daß er es mit einer charaktervollen Persönlichkeit zu tun habe, die sich nicht nur mit dem Anschein ihrer offiziellen Wichtigkeit begnügte. Er sah, daß der Minister ein Weltmann war, der sich sicherlich hüten würde, einen Schritt zu tun, der sich nicht mit seiner Stellung vereinbaren ließ.
Der Innenminister erhob sich beim Eintreten des Arztes und schüttelte ihm liebenswürdig die Hand; es war ihm aber offenbar nicht recht wohl bei der ganzen Sache. Der junge Privatsekretär verschwand, sobald er den Arzt glücklich in einen Klubsessel gelandet sah, der groß genug war, um ein normalgroßes Zwillingspaar aufzunehmen.
»Hoffentlich habe ich Sie nicht Ihrer Zeit beraubt, Doktor,« begann der Minister die Unterhaltung, »als ich Sie bat, mich aufzusuchen; aber da ich weiß, was Sie hierherführt, wollte ich gern inoffiziell Ihren Bericht hören, ehe Sie ihn amtlich einreichen. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie bitten, diese Unterredung als streng vertraulich zu betrachten.«
Dem Berater des Ministeriums blieb nichts übrig, als sein Haupt in stillschweigendem Einverständnis zu senken. Bisher hatte Sir Charles Beaumanoir seine amtlichen Pflichten nicht verletzt. Wie der Minister überhaupt erfahren hatte, daß und mit welcher Absicht er, Tarleton, das Ministerium betreten würde, war eine recht interessante Frage, die Lord Townleigh sicherlich am besten hätte beantworten können.
Durch die Leutseligkeit des hohen Herrn freimütiger geworden, erzählte Doktor Tarleton die Geschichte ausführlich. Er beschrieb, wie er nach Trafford House geholt worden war, wie er die Todesursache entdeckt habe, daß Sir Philipp Blennerhasset sich geweigert hätte, die Hände in diese Angelegenheit zu stecken und wie der Herzog von Anfang an getrachtet hatte, die Sache zu unterdrücken. Er berichtete von der Auffindung des Köchers in Hauptmann Theobalds Zimmer, wie die vorhandenen Spuren verwischt worden wären und erwähnte auch das Bild im Zimmer der Lady Rosa. Dann fügte er noch hinzu, daß der bei dem Toten gefundene Hausschlüssel wahrscheinlich Mademoiselle Prégut gehörte und schloß mit dem Hinweis auf seinen Besuch im Polizeiamt Chiswick.
Sir Charles hörte ihm von Anfang bis Ende mit der größten Aufmerksamkeit zu, und erst als der Arzt geendet hatte, sagte er:
»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, Doktor, daß ich diesen Bericht als erster habe hören dürfen. So weit ich sehen kann, liegt gegenwärtig keine Notwendigkeit vor, in dieser Sache weiter zu gehen, wenigstens nicht, soweit der Herzog in Betracht kommt. Die Totenschau wird doch selbstverständlich in Chiswick stattfinden.«
»Wenn Sie nicht anders anordnen, Sir Charles,« warf der Berater ein.
»Ich wüßte nicht, warum ich eingreifen sollte,« erwiderte der Minister hastig, »denn bisher habe ich ja amtlich noch keine Kenntnis von der Sache. Was Sie mir gesagt haben, ist vertraulich. Ich bin der Meinung, daß die Justiz nichts gewinnen kann, wenn die Sache übereilt wird. Wir, daß heißt Sie, kennen ja die Wahrheit über den Tod des Mannes noch nicht. Wir können weiter nichts tun, als vorläufig die Schau abzuhalten und das gewöhnliche Urteil ›Mord, begangen von Unbekannt‹, fällen zu lassen. Sie stimmen mir doch sicherlich zu, nicht wahr?«
Tarleton verbeugte sich ernst.
»Wenn das der Fall ist, macht es ja nichts aus, wo die Totenschau stattfindet. Ich möchte Ihnen raten, Ihr Zeugnis auf das rein medizinische Ergebnis zu beschränken, daß also der Ermordete durch Gift, aus Nigeria stammend, umgekommen ist, und daß das Mordinstrument wahrscheinlich ein Pfeil, ebenfalls aus Nigeria, gewesen ist.«
Der Spezialist war noch ernster geworden.
»Wollen Herr Minister damit sagen, daß die weitere Untersuchung in dieser Angelegenheit unterbleiben soll?«
Der Innenminister errötete.
»Das habe ich doch nicht gesagt. Ich will das auch nicht andeuten. Der Ausspruch der Totenbeschauer wird jedenfalls den Fall offen lassen, und wenn weitere Details ans Licht kommen, braucht ja die Untersuchung nur fortgesetzt zu werden.«
»Ich würde es bedauern, wenn die Untersuchung jetzt schon abgebrochen würde,« erwiderte Tarleton festen Tones. »Irgendwo in Trafford House befindet sich ein Mörder auf freiem Fuße, und ich möchte ihm gern sein Verbrechen beweisen, wenn es auch nur deshalb wäre, um nicht Unschuldige unter dem Verdacht leiden zu sehen.«
Der Minister nickte.
»Ich finde diesen Wunsch begreiflich und gerecht und sympathisiere damit. Aber all das kann auch getan werden, ohne daß die Öffentlichkeit davon etwas erfährt. Das Verbrechen kann ja unter derart mildernden Umständen begangen worden sein, daß kein Schwurgericht jemals darüber urteilen würde. Eine öffentliche Verhandlung möchte ja mehr Schaden anrichten, als sie gutmachen könnte.«
Es war nicht das erste Mal, daß der Berater des Ministeriums derartigen Folgerungen zuhörte, und meist hatte er sich gefügt. Aber gerade in diesem Falle war er selbst persönlich zu sehr interessiert, und er wagte es deshalb zu sagen:
»Ich würde mich ebensosehr freuen, wie Sie selbst, wenn die Angelegenheit ohne Verletzung persönlicher Interessen oder ohne Skandal erledigt werden könnte. Das einzige, was mich bei meinen Untersuchungen leitet, ist, den Ruf eines Menschen zu schützen, der auf diesen Schutz ebensoviel Recht hat wie der Herzog.«
»Wen meinen Sie?« fragte Sir Charles erwartungsvoll.
»Seine Tochter.«
Der Innenminister strahlte vor Freude.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Doktor. Ich werde offen sein – obgleich ich Ihnen nichts Neues mitteile. Die verstorbene Herzogin von Altringham war meine Kusine.«
»Ah!«
Der Berater vermochte diesen Ausruf nicht zu unterdrücken, denn die eben vernommene Feststellung des Ministers warf viel Licht auf die bisherigen Zweifel des Arztes und erklärte den Eifer des Herzogs, den Bericht des Arztes direkt dem Minister zu unterbreiten, ohne vorher die Polizei zu benachrichtigen, die Entfernung der Leiche unter Mithilfe des Herzogs in der sicheren Erwartung der moralischen Unterstützung durch den Minister, und zuletzt das Benehmen Sir Charles' in dieser Sache.
»Ich habe die beiden Mädchen immer als meine Nichten betrachtet, denn sie sind meine nächsten Verwandten,« erklärte der Minister. »Seit jedoch der Herzog wieder geheiratet hat, habe ich Trafford House nicht mehr betreten.« Er unterbrach sich einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Ich möchte Ihnen nicht verbergen, daß der Herzog hier gewesen ist und mich über diese schreckliche Sache unterrichtet hat.«
Das bedeutete eine neue Überraschung für den Arzt, diesmal zeigte er sie aber nicht.
»Ja,« fuhr der Minister fort, »er kam gestern hierher mit der Hoffnung, daß ich Sie abrufen würde, was ich jedoch selbstverständlich ablehnte. Er versuchte mir klarzumachen, daß der Mord durch den schwarzen Diener begangen sein müßte, aber was er offenbar am meisten befürchtete, war, daß Lady Rosa irgendwie an dem Verbrechen beteiligt gewesen sein könnte.«
Tarleton hüstelte, und Sir Charles warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Sie sind wohl der Meinung, daß er schauspielert?«
»Ich glaube, daß er Lady Rosas Namen hineingebracht hat, um Sie desto eher für eine Unterdrückung der Untersuchung zu gewinnen. Da Sie, Herr Minister, offen mit mir gesprochen haben, möchte auch ich nicht mit einer Mitteilung zurückhalten, die ich bisher allein weiß: Montacutes richtiger Name ist Dunlop.«
»Dunlop? Wo habe ich doch nur diesen Namen gehört?«
»Es ist der Mädchenname der jetzigen Herzogin.«
Der Minister schlug mit der Faust auf den Tisch, daß es nur so knallte.
»Donnerwetter! Sie haben recht! Ich hätte es ahnen müssen, daß jenes Weib dahinter steckt! Natürlich war sie es, die den Verdacht auf ihre Stieftochter lenken wollte.«
»Diesen Anschein erweckt es,« gab der Sachverständige zu. »Andrerseits schien der Herzog aber wieder sehr viel Gewicht darauf zu legen, daß die Herzogin von dem Verbrechen überhaupt nichts erfährt.«
»Hm!« Der Minister blickte nachdenklich vor sich hin.
»Ich muß gestehen, daß ich mich gegenwärtig kaum in diesem Labyrinth zurechtfinde. Es scheint mir einleuchtend zu sein, daß dieser Montacute oder Dunlop ein Verwandter der Herzogin war; aber wenn dem so ist – warum hat sie ihm dann das Haus verbeten?«
Diese Frage hatte sich Dr. Tarleton selbst schon wiederholt gestellt, und es war ihm schwer geworden, sie zu beantworten.
»Wahrscheinlich wird sie sagen, daß sein Charakter ihr unangenehm war, oder etwas ähnliches. In mir erweckt es mehr den Anschein, als hätte sie vordem mit ihm auf intimem Fuß gestanden und wünschte nicht, durch seine Besuche in Trafford House daran erinnert zu werden.«
»Ja, das ist möglich,« stimmte der Minister nachdenklich zu. »Das Merkwürdigste aber ist, daß er sich ihrem Hausverweis unterworfen, dann aber heimlich das Haus besucht haben sollte.«
»Gewiß, aber ich glaube nicht, daß er seine heimlichen Besuche derselben Person wegen machte,« entgegnete der Sachverständige. »Meines Erachtens hat Lady Rosa, seit ihm das Haus verboten worden ist, nichts mehr damit zu tun gehabt. Ebenso bin ich fest überzeugt, daß sie von dem Verbrechen keinerlei Ahnung hat – ja, sie weiß jetzt noch nicht einmal, daß überhaupt ein Verbrechen begangen worden ist.«
Die Wärme, mit der er sich für die junge Dame einsetzte, zauberte ein freundliches Lächeln auf das Gesicht seines Vorgesetzten.
»Schönen Dank, Doktor. Ich kann sehen, daß meine Nichte einen guten Freund in Ihnen gefunden hat. Ganz nebenbei! Wielange arbeiten Sie denn schon für mein Ministerium?«
»Siebzehn Jahre!« lautete nach kurzem Besinnen die Antwort.
»Wie kommt es dann, daß Sie noch keinen Titel haben?«
Tarleton errötete. Es war schon seit langem sein geheimer Kummer, daß sein Name ständig in der Liste fehlte, in der alljährlich die Titelverleihungen veröffentlicht wurden; aber er war stolz und hatte sich niemals so weit erniedrigt, sich um einen Titel zu bemühen.
»Wahrscheinlich habe ich zu viele Feinde,« murmelte er.
»Um so mehr haben Ihre Freunde die Verpflichtung, sich ein wenig für Sie anzustrengen,« erwiderte herzlichen Tones Sir Charles, während er den Stuhl zurückschob. »Also, mein lieber Doktor, ich lasse Ihnen, soweit ich in Frage komme, vollkommen freie Hand in der Sache. Ich bitte Sie nun noch, ehe Sie Ihren offiziellen Bericht einreichen, mir vertraulich seinen Inhalt mitteilen zu wollen.«
Tarleton verließ mit größerer Befriedigung das Ministerium, als er es von Anfang an erwartet hatte.
Er hatte gemerkt, daß der Minister wünschte, den Fall möglichst zu unterdrücken, und er war klug genug, die höfliche Erkundigung des Ministers nach seinem Titel als angebotenen Preis zu erkennen. Im allgemeinen aber hatte er den Eindruck gewonnen, als sei Sir Charles ihm freundlicher gesinnt als dem Herzog. Er hatte nicht vorgegeben, daß er den Neger für den Schuldigen hielt, er hoffte ebenso herzlich wie Tarleton, daß Lady Rosa nichts mit dem Mord zu tun hätte, er zeigte keinerlei Lust, die Frau, die Tarleton sich vorgenommen hatte zur Verantwortung zu ziehen, zu schützen, und vor allen Dingen hatte Sir Charles ihm völlig freie Hand in seinen Untersuchungen gelassen. Der Herzog hatte sich vergeblich an den Minister gewandt, soweit die Untersuchung in Frage kam.
Er begab sich direkt vom Ministerium ins herzogliche Haus, und diesmal versuchte man nicht, ihm Steine in den Weg zu legen. Der ihn mit Achtung empfangende Lakai nahm die Karte entgegen, die er ihm mit dem Ersuchen übergab, ihn der Herzogin zu melden. Der Diener bat ihn, einstweilen in der Bibliothek zu warten.
Es dauerte beinahe eine Viertelstunde, wie der Arzt durch einen Blick auf seine Uhr feststellte. Er hatte sie bereits zum vierten oder fünften Male herausgenommen, als sich die Tür öffnete und Mademoiselle Prégut hereintrat.
Die Zofe trug diesmal eine andere Miene zur Schau. Obgleich ebenso elegant gekleidet wie bei der letzten Untersuchung, und genau so geschminkt und gepudert wie vorher, lag unter dieser Farbschicht doch eine fahle Blässe verborgen, und auch die Furcht, die in ihren Augen lag, war offensichtlich genug. Sie kam nur zögernd näher und legte ihre Hand auf die Stuhllehne, als ob sie der Stütze bedürfe, während sie mit dem Arzte sprach.
»Madame, die Herzogin, hat mich angewiesen, die Karte des Herrn Doktors zu bestätigen. Ihre Gnaden bedauert außerordentlich, daß sie sich gerade heute morgen zu krank fühlt, um Besuch zu empfangen. Madame läßt Herrn Doktor ersuchen, die in Frage kommende Mitteilung durch mich bestellen zu lassen, da ich vollständig das Vertrauen Ihrer Gnaden genieße.«
Tarleton nickte grimmig. Er zweifelte nicht daran, daß Mademoiselle diesmal die Wahrheit sagte.
»Ich kann es verstehen, daß Ihre Gnaden sich heute nicht wohl fühlt,« erwiderte er. – »«Wahrscheinlich hat sie heute morgen eine böse Nachricht empfangen.«
Die Zofe blickte ihn erstaunt an. Sie hatte ihn wohl nicht so gut unterrichtet vermutet.
»Ihre Gnaden hat tatsächlich schlimme Nachricht erhalten, das stimmt,« gab sie zögernd zu. »Ich kann aber nicht recht verstehen, wie Monsieur …«
»So ist es; ich komme ja gerade wegen dieser Nachricht,« unterbrach sie kurz der Spezialist. »Ich kann Ihre Gnaden einige wichtige Neuigkeiten in dieser Beziehung mitteilen, die ich ihr aber nur persönlich unterbreiten möchte.«
Préguts Unruhe wuchs merklich.
»Wenn Monsieur, der Herr Doktor, gütig genug wären, seine Mitteilungen durch mich zu Ihrer Gnaden gelangen zu lassen, da Ihre Gnaden so krank ist …«
Der Arzt schüttelte ablehnend den Kopf.
»Ich muß die Herzogin persönlich sprechen. Ich bin Mediziner und werde deshalb, so krank Ihre Gnaden auch sein mag, sicherlich keine Verschlimmerung ihres Befindens verursachen. Hat man nach Sir Philipp Blennerhasset geschickt?«
»Oui! Wenigstens …« Die erschrockene Französin zögerte, weiter zu sprechen.
Dr. Tarleton stürzte sich wie ein Habicht auf die Ursache dieses Zögerns. Wahrscheinlich hatte sich der Hausarzt geweigert, noch einmal das Haus zu betreten.
»So, so?!« sagte er, »Sir Philipp ist nicht gekommen? Um so mehr erscheint meine Anwesenheit notwendig.«
Mademoiselle Prégut gab endlich nach.
»Ich werde diese Botschaft ausrichten, Monsieur. Möglich, daß Ihre Gnaden durch die Nachricht ihre Zustimmung gibt, Herrn Doktor persönlich zu empfangen.«
Wieder verging eine Viertelstunde, und der Arzt konnte sich den Verlauf der sicherlich oben stattfindenden Beratung vorstellen. Er pendelte ungeduldig seine kostbare Repetieruhr hin und her, als die Tür aufgerissen wurde und Hauptmann Theobald ins Zimmer stürmte.
»Dr. Tarleton, ich muß Sie sofort sprechen.« Seine Aufregung war derartig groß, daß der Arzt beinahe seine Uhr fallen ließ. »Montacutes Verschwinden ist in allen Zeitungen.
»In den Abendzeitungen wird noch mehr darüber stehen,« erwiderte Dr. Tarleton ernst. »Die Leiche wurde in Chiswick gefunden und erkannt.«
»Ah! Das hätte ich mir denken können!« Dieses Geständnis entschlüpfte ungewollt dem Mund des Hauptmanns.
Tarletons Miene wurde noch strenger.
»Also hatte ich doch recht, als ich vermutete, daß Sie bei diesem Verbrechen Ihre Hilfe geliehen haben. Es dürfte in Ihrem Interesse stehen, mir alles offen zu beichten.«
Aber der junge Offizier war scheinbar gar nicht wegen dieser Vorhaltungen überrascht.
»Ich werde ganz offen zu Ihnen sein, nur müssen auch Sie mir offen entgegentreten, Doktor. Jemand hat mit Rosa gesprochen; waren Sie es?«
»Ich verstehe zwar nicht, was Sie meinen, muß aber trotzdem sagen, daß ich, außer einigen Fragen, die ich ihr bezüglich Montacute stellte, kein Wort weiter mit ihr gewechselt habe.«
»Von dem Mord haben Sie nichts gesagt? Auch nicht über die in meinem Zimmer gefundenen Pfeile?«
»Kein Wort!« erwiderte ihm der Sachverständige. »Warum fragen Sie?«
»Weil ich bei ihr einen Stimmungswechsel zu beobachten glaube. Es hat den Anschein, als wollte sie mir ausweichen, ohne daß sie mir bisher dafür eine Erklärung gegeben hätte. Es muß sie also jemand gegen mich aufgehetzt haben. Ist es nicht schrecklich, daß sie mich eines Verbrechens schuldig glauben könnte?«
Der Arzt war offensichtlich sehr erstaunt und äußerte dies in seiner gewöhnlichen Weise, indem er seine Repetieruhr ans Ohr hielt und sie schlagen ließ. Ganz plötzlich schien ihm der silberne Klang des Schlagwerkes seine Gedanken zu erleuchten.
»Es ist wohl möglich, daß ich dieses Verhalten Lady Rosas erklären kann,« sagte er in bedächtigem Ton. »Am Morgen, als man mich hierher rief, traf ich Lady Rosa recht zeitig, wie sie im Hause umherwanderte. Sie begründete ihre Anwesenheit mit der durchsichtigen Erklärung, daß sie gestört worden wäre. Ist es nicht möglich, daß sie beobachtet hätte, wie Sie und Mr. Burrowes die Leiche nach oben schafften?«
Hauptmann Theobald ließ einen erschrockenen Ausruf hören, aber im nächsten Augenblick schüttelte er verneinend den Kopf.
»Das kann ich mir eigentlich nicht gut denken, denn dann hätte sie mir gestern etwas davon gesagt. Erst seit heute bemerkte ich diese Änderung in ihrem Benehmen.«
»Sie hat ja auch erst heute die Nachricht von dem Verschwinden Montacutes in der Zeitung gelesen. Pst! Ruhig!«
Die beiden Männer schwiegen, während Dr. Tarleton auf die Tür zeigte. Beinahe in demselben Augenblick öffnete Mademoiselle die Tür.
»Ihre Gnaden ist bereit, Sie zu empfangen.«
Die Zofe sprach in unterdrückter Erregung, und ihre Augen hatten ein totes Aussehen, dem Spezialisten ein untrügbares Zeichen dafür, daß sie irgendein Narkotikum genommen hatte.
Er wandte sich dem erstaunten Offizier zu.
»Ich möchte mich gern noch einmal mit Ihnen unterhalten, Hauptmann. Nigeria interessiert mich ziemlich stark. Mittlerweile möchte ich Ihnen raten, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
Theobald nickte verständnisvoll, und der Doktor folgte der Zofe aus dem Zimmer.
In größter Erwartung stieg er mit ihr die Treppe empor – endlich sollte er die Frau des Hauses zu sehen bekommen, die Frau, deren Beteiligung er bei jedem Schritt der Untersuchung gefühlt hatte, die sich aber bisher nur zu gut unsichtbar gehalten hatte. Ihre äußeren Verteidigungslinien waren nun überrannt, und sie würde endlich ihre Karten offen hinzulegen haben.