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Auf dem Wege zu dem im zweiten Stock gelegenen Salon des Herzogs sprachen die beiden Männer nicht mehr miteinander.
»Hätten Sie, Herr Doktor, irgendwelche Einwendungen zu machen, wenn Seine Gnaden wünschte, daß ich bei Ihrer Unterredung mit ihm dabei wäre?« erkundigte sich Burrowes.
Der Spezialist zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Auch der Herzog selbst darf bei meiner Unterredung mit Sir Philipp nicht dabei sein,« erwiderte er bestimmten Tones.
Der Verwalter verbeugte sich verwirrt und öffnete die Tür zum herzoglichen Salon, während er meldete:
»Doktor Tarleton, Euer Gnaden.«
Der Arzt überschritt die Schwelle des Zimmers und sah mit Ärger, ja beinahe empört, daß nicht weniger als drei Personen im Zimmer waren.
In dem Herrn, der ihm am nächsten stand, erkannte er ohne Schwierigkeit seinen gelehrten Fachkollegen. Sir Philipp Blennerhasset war der Lieblingsarzt der aristokratischen Kreise des Mayfair Distriktes. Seine fachwissenschaftlichen Fähigkeiten waren kaum je hervorgetreten, aber da er das Glück hatte, ein eindrucksvolles Wesen sein eigen zu nennen und auf menschliche Schwächen in sympathischer Weise zu reagieren, war er zum Modearzt vorgerückt. Er war klug genug gewesen, sich dem nervenärztlichen Spezialgebiet zuzuwenden, einem Gebiet, in dem bekanntermaßen noch recht wenig wissenschaftliche Ergebnisse vorliegen; auf diese Art hatte er auch vermieden, daß man ihm seine berufliche Unwissenheit nachweisen konnte. Groß, tadellos nach der neuesten Mode gekleidet, ein wenig hochmütig in seinem Benehmen, war er ein krasser Gegensatz zu seinem Rivalen, der, ungeschlacht und ein wenig brutal, sehr von dem eleganten Hausarzt abstach. Sir Philipp übersah den ärgerlichen Blick, den ihm Dr. Tarleton zuwarf. Der Leibarzt Seiner Herzoglichen Gnaden war sich vollkommen der Tatsache bewußt, daß Leute, die Dr. Tarleton kannten, diesen für bedeutend fähiger hielten als ihn selbst. Aber Sir Philipp war sich auch darüber nicht im Zweifel, daß die Leute, die etwas von seiner Unterlegenheit ahnten oder wußten, bedeutend in der Minderheit waren, ohne Einfluß und deshalb leicht zu ignorieren waren.
Auch der Herzog von Altringham war unter den Anwesenden leicht zu erkennen. Er war ein glatzköpfiger Herr von etwa fünfzig Jahren, dessen aristokratische Gesichtszüge durch die langjährige Vorliebe für Alkohol etwas verfallen waren: selbst zu dieser frühen Morgenstunde stand auf dem Tisch neben ihm eine Karaffe Likör sowie das zugehörige Trinkglas. Beim Eintritt des Spezialisten erhob er sich. Er war noch im Frisiermantel, einer Mandarinenrobe aus rotem Seidenstoff, mit weißem Pelz abgesetzt. In seiner Miene las man Sorge und angstvolle Erwartung, obgleich er bemüht schien, sich ein hochmütiges Äußeres zu geben, gleichsam als wollte er daran erinnern, daß königliches Blut in seinen Adern fließe.
Beim dritten der anwesenden Herren nahm Dr. Tarleton ohne weiteres an, daß es der von Burrowes erwähnte Hauptmann Theobald sei. Es war ein elegant gekleideter, gut gebauter Herr, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, ohne besondere Kennzeichen, außer einer tiefen Blässe, an der langjähriger Tropenaufenthalt die Schuld haben mochte. Ohne Zweifel konnte man Burrowes zustimmen, der Theobald unter die hübschen Männer gerechnet hatte. Trotzdem erregte sein Anblick unfreundliche Gefühle im Herzen des Arztes, ohne daß er sich schlüssig werden konnte, wodurch sie in ihm erweckt worden waren. Gleichfalls zweifelsfrei erschien es, daß diese Antipathie von dem jungen Offizier erwidert wurde, und daß auch er die Einmischung Doktor Tarletons als lästig empfand.
Der finstere Blick des Spezialisten verschwand auch nicht, als Sir Philipp ihn förmlich dem Herzog und, ganz nebenbei, auch dem jungen Hauptmann vorstellte. Die Höflichkeit, mit der Tarleton diese Vorstellung erwiderte, war sehr gering, und er unterbrach die Bemühungen des Hausarztes, einen guten Gesprächsübergang zu finden, mit der kurzen Frage:
»Verzeihen Sie, Herr Kollege, aber ich habe Ihre Botschaft scheinbar mißverstanden. Ich möchte mit Ihnen möglichst bald die Beratung aufnehmen.«
Sir Philipp zog mit einem gut gespielten Ausdruck der Überraschung die Augenbrauen empor.
»Ich befürchte, Dr. Tarleton, daß ich Sie ebenfalls mißverstanden habe – eine Konferenz zwischen uns beiden erachte ich für überflüssig, denn ich behandle diesen Fall ja nicht.«
Der Angesprochene blickte ihn starr an und wandte dann seine Blicke den beiden andern Anwesenden zu. Der junge Offizier drehte seinen Schnurrbart in stiller Erregung, während der Herzog die Augen in schmerzlicher Überraschung von einem zum andern wandern ließ.
»Aber es steht doch zweifellos fest,« erwiderte der Spezialist wütend, »daß man mir berichtet hat, ich sei auf Ihre Veranlassung zugezogen worden.«
»Auf meinen Rat hin, Herr Kollege, nur auf meinen Rat, nicht auf meine Veranlassung oder Anordnung.«
»Ich sehe darin keinen Unterschied!«
Sir Philipp bewegte ein wenig die Schultern in ablehnender Geste.
»Ich habe mich auf den Wunsch des Herrn Herzogs von der Behandlung dieses Falles zurückgezogen und dabei angedeutet, daß es ratsam wäre, Sie, Herr Kollege, statt meiner zuzuziehen, beziehungsweise mit dem Fall zu betrauen.«
Tarleton biß sich in dem Bewußtsein, in die Enge getrieben worden zu sein, auf die Lippen.
»Dieses Vorgehen ist doch unter medizinischen Kollegen reichlich ungewöhnlich, nicht wahr, Sir Philipp? Ich bin nur hierhergekommen, weil ich der Meinung war, daß Sie die Behandlung der Sache übernommen hätten, und daß Sie mich nur als zweiten Arzt mit zugezogen wünschten. Ich möchte deshalb Ihre Gründe hören, warum Sie den Fall aufgeben wollen.«
Bei dieser Rede warf der Herzog verstörte Blicke auf seinen Hausarzt, aber dieser war völlig ruhig geblieben.
»Ich weiß, daß Sie berechtigt sind, Doktor, die Gründe für meinen Rücktritt zu erfahren. Der Grund ist der, daß ich mich nicht berufen fühle, einen derartigen Fall zu übernehmen. Es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen, die Todesursache festzustellen, und einzig und allein aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, dem Herrn Herzog das Hinzuziehen eines Kollegen anzuraten, der darin mehr Spezialist ist als ich.«
Der Herzog hatte dieser Erklärung mit sichtlich wiederkehrender Beruhigung zugehört, während der Hauptmann nur die Stirn runzelte.
»Aber warum sollen Sie denn nicht mit mir eben wegen der Todesursache konsultieren?« beharrte der Spezialist, »das wäre doch sicherlich der gegebene Weg, nicht wahr?«
Der Modearzt schüttelte abwehrend den Kopf.
»Gar nicht daran zu denken, mein lieber Freund. Wenn ich ein Arzt mit allgemeiner Praxis wäre, dann wäre der von Ihnen vorgeschlagene Weg der richtige gewesen, und ich hätte auch sicherlich dementsprechend gehandelt; ich bin aber nur für Nervenkrankheiten zuständig. Ich habe mich jedoch überzeugt, daß die Todesursache bestimmt nicht im Nervensystem zu suchen ist. Da das wohl feststeht, ist es ebenso sicher, daß ich nur irrtümlich gerufen worden bin, und wenn ich mich hineinmischen würde, dann würde ich ein Honorar für einen Fall erhalten, dessen Lösung nicht in meiner Kraft steht.«
Diese etwas überhebliche Ablehnung eines Honorars durch einen, der seinen Barontitel und sein großes Vermögen der Behandlung von eingebildeten Krankheiten zu verdanken hatte, erweckte den Zorn Dr. Tarletons, wenn er auch seinen Gefühlen nicht Ausdruck geben durfte. Die Begründung des schmiegsamen Mediziners war unwiderlegbar, seine Stellungnahme nicht anzugreifen, soweit medizinische Etikette in Frage kam. Trotzdem hegte Dr. Tarleton keinen Augenblick Zweifel, daß jedes Wort, das Sir Philipp gesprochen hatte, eine Lüge war; der Hausarzt wollte ganz einfach von diesem zweifelhaften Fall abrücken. Es war ihm scheinbar ebenso klar, wie sich Dr. Tarleton dessen bewußt war, daß hier in der vergangenen Nacht ein Verbrechen begangen worden war. Wahrscheinlich lag der Fall so, daß der Herzog den Hausarzt ins Vertrauen gezogen hatte, und daß man ihn ersucht hatte, den Totenschein mit einer unschuldigen Todesursache zu versehen. Sir Philipp war aber nicht der Mann, seine Stellung und seine Praxis dadurch zu gefährden, daß er etwas gesetzwidriges unterstützte; auf der anderen Seite wagte er es aber auch nicht, einem Wunsch des Herzogs zu widersprechen und dadurch vielleicht die Geneigtheit der Aristokratie zu verlieren. Indem er Unkenntnis vorschützte, wollte er allen Unannehmlichkeiten ausweichen.
Das waren die Gedanken, die in den wenigen Minuten den Vertrauten des Innenministeriums beschäftigten, und er fühlte sich versucht, gleich seinem Kollegen zu handeln, und das Haus mit diesem zu verlassen. Aber er konnte keine Unkenntnis vorschützen, und da das feststand, war es seine Pflicht, die Polizei zu benachrichtigen. Aber auch diesen Weg durfte er nicht einschlagen, wenigstens solange nicht, ehe er sich nicht mit dem Herzog, der ihm ja bisher die Auskunft noch nicht verweigert hatte, ausgesprochen hatte. Seine Gnaden hatte sich bisher vollkommen korrekt benommen: erst hatte er seinen Hausarzt gerufen und auf dessen Rat hin einen Spezialisten zur Feststellung der Todesursache zugezogen; jetzt hatte er das Recht, über die Todesursache, wie sie dem Spezialisten vorlag, unterrichtet zu werden. Wenn auch Dr. Tarleton nicht das Gefühl unterdrücken konnte, daß er in eine Falle gelockt worden war, so konnte er doch, wenigstens vorläufig nicht, die Anstiftung hierzu dem Herzog zuschieben. Der Entschluß zu dieser freundlichen Auffassung schien bei dem Arzt nicht zum wenigsten durch die Begegnung mit Lady Rosa verursacht worden zu sein. Immer noch schlecht gelaunt durch das, was er unbedingt als Hinterlistigkeit seines Kollegen betrachtete, revanchierte er sich, als Sir Philipp eben das Zimmer verlassen wollte, durch eine Feststellung, die als Stich für diesen gedacht war:
»Ich habe die Todesursache bereits soweit festgestellt, und ich befürchte sehr stark, daß ich die Diagnose auf ›vorsätzlichen Mord‹ stellen muß,« sagte er, sich dem sich verabschiedenden Hausarzt zuwendend.
»Nein!«
Dieses Wort kam nicht von dem Arzt, der eben die Tür mit einem Knall hinter sich zuwarf, um anzudeuten, daß er die Diagnose seines Kollegen nicht mehr gehört habe; der Ausruf war den Lippen des Herzogs entschlüpft, der wie ein Ohnmächtiger in seinen Stuhl gesunken war und mit zitternder Hand nach der Likörflasche griff.
Dr. Tarleton wandte sich dem Herzog zu und setzte sich. Mechanisch griff er nach dem Amulett – seiner Uhr –, ohne das er offenbar keinen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Die beiden anderen im Zimmer anwesenden Herren betrachteten erstaunt die kostbare Repetieruhr, die der Arzt aus seiner Westentasche gezogen hatte, um sie an ihrem schäbigen, schwarzen Seidenband hin und her zu pendeln. Diesmal aber führte der Spezialist die Uhr auch noch ans Ohr und ließ sie repetieren, was ein Zeichen außergewöhnlicher Aufregung bei ihm war.
Hauptmann Theobald, der stehengeblieben war, brach als erster das Schweigen, und seine Stimme hatte einen vorwurfsvollen Ton.
»Sind Sie dessen, was Sie eben behauptet haben, auch sicher? Woher wissen Sie denn, daß es ein Mordfall ist? Ich habe selbst den Toten gesehen, konnte aber keinerlei Zeichen von Gewalttat an ihm entdecken.«
Tarleton hörte zu, doch antwortete er auf die Fragen nicht. Er wandte sich an den Herzog, der seine Blicke erwartungsvoll auf ihn gerichtet hielt und die Unterredung seinem künftigen Schwiegersohn überlassen zu wollen schien.
»Ich befinde mich in einem Dilemma, Euer Gnaden,« sagte der Spezialist freimütig. »Sie haben mich – ich verstand wohl recht – auf Anraten des Kollegen Sir Philipp zugezogen, der Sie wohl auch davon unterrichtet hat, daß ich Spezialberater des Innenministeriums bin, nicht wahr?«
Der Herzog raffte sich soweit zusammen, um mit dem Kopf zu nicken.
»Sie haben mich holen lassen, um mein ärztliches Urteil abzugeben, und dieses Urteil steht selbstverständlich vollkommen zu Ihrer Verfügung. Aber, wenn Sie wünschen, daß ich einen Totenschein ausstelle, der die Leiche zur Beerdigung freigeben würde, dann muß mir, befürchte ich, bedeutend mehr in dieser Sache mitgeteilt werden als dies bisher der Fall gewesen ist.«
Die Miene des Herzogs drückte offene Trostlosigkeit aus.
»Um Gotteswillen, Doktor, reden Sie nicht von einer gerichtlichen Totenschau. Etwas derartiges im Trafford House!? Diese furchtbare Sache muß unter allen Umständen aus den Zeitungen ferngehalten werden.«
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Ich befürchte, daß ich Ihnen Ihren Wunsch nicht erfüllen kann, denn ich muß Ihnen erklären, was Sie vielleicht von Sir Philipp noch nicht erfahren haben, ich bin Beamter des Innenministeriums.«
Er unterbrach sich, da er glaubte, der Herzog wolle eine Bemerkung machen. Obgleich ein merkwürdiges Zucken über dessen Gesicht gelaufen war – ein Zeichen des Interesses eher als der Furcht –, sprach er doch kein Wort.
»Ich befinde mich insofern im Vorteil,« fuhr der Sachverständige fort, »als ich, solange ich den Fall in Händen habe, in offizieller Funktion, also kein Privatarzt bin; deshalb bleibt es Ihnen erspart, der Polizei offizielle Kenntnis von dem Todesfall zu geben, das heißt, sie zu benachrichtigen, daß ein Verbrechen begangen worden ist.«
Wieder fiel der Hauptmann zornig ein:
»Warum reiten Sie immer auf diesem Wort herum? Welche Beweise haben Sie, daß der Tote nicht Selbstmord begangen hat?«
Dr. Tarleton wandte sich ihm strengen Blickes zu.
»Ich kann Ihnen kein Recht zuerkennen, an mich Fragen zu stellen, Herr! Auch wenn Sie selbst verdächtigt würden, hätten Sie kein Recht, mich – außer im Gerichtssaal – unter Kreuzverhör zu vernehmen.«
Das geheime Vorurteil, das der Arzt gegen diesen jungen Mann empfand, hatte ihn zu stärkeren Ausdrücken hingerissen, als er beabsichtigt hatte. Der Hauptmann wurde bleich vor unterdrückter Wut, aber der Herzog mischte sich schnell ein, um seinen zukünftigen Schwiegersohn vor einer überstürzten Antwort zurückzuhalten.
»Das genügt, Ernest,« sagte er autoritativ. »Ich müßte dich, wenn du dich nicht beherrschen kannst, ersuchen, das Zimmer zu verlassen.«
Die Hände des Hauptmanns ballten sich, aber er gehorchte, während sich sein Schwiegervater wieder dem Arzt zuwandte.
»Sie bemerkten soeben, Herr Doktor, daß ich mich nicht an die Polizei zu wenden brauchte. Sie glauben gar nicht, wie ich Ihnen für diesen Trost dankbar …«
»Verzeihung,« unterbrach ihn der Angesprochene, »ich sagte, solange ich die Sache in Händen habe. Falls ich gezwungen würde, mich zurückzuziehen – gleichgültig aus welchem Grunde – würden Sie verpflichtet sein, sofort die Polizei zu benachrichtigen, denn wenn Sie es versäumten, müßte ich es tun.«
Der Herzog wandte sich mit vorwurfsvollem Stirnrunzeln dem Hauptmann zu.
»Hoffentlich werden Sie dazu keine Ursache haben,« sagte er in ernstem Tone zu dem Sachverständigen. »Solange ich ein Bekanntwerden in der Öffentlichkeit vermeiden kann, bin ich zu jedem Honorar bereit.«
Der Arzt lächelte grimmig, denn es war nicht das erste Mal, daß man ihm derartige Angebote machte.
»Ich glaube kaum, daß es möglich sein wird, eine gerichtliche Totenschau zu vermeiden, denn der Leichnam kann ja ohne Totenschein nicht beerdigt werden.«
»Aber bedenken Sie, Doktor, eine gerichtliche Untersuchung in meinem Hause. Stellen Sie sich vor, was das heißt! Denken Sie an meine Frau!«
Nur durch eine leichte Kopfbewegung deutete der Arzt an, daß er auch noch andere Interessen als die der Herzogin wahrzunehmen habe.
»Es tut mir leid, daß ich vorläufig keinen andern Ausweg weiß,« sprach er in bedauerndem Tone. »Doch gedulden Sie sich, ich bin ja erst am Anfang der Untersuchung. Ich muß Sie bitten, mir Vollmacht zu geben, diese Untersuchung ganz nach meinem Dafürhalten durchzuführen. Gegen wen sich auch meine Verdachtsgründe richten sollten, – Sie müssen mir erlauben, vollkommen ohne fremde Einmischung zu handeln.«
Wieder wollte Hauptmann Theobald aufbrausen, und auch der Herzog gab Zeichen von Verblüffung von sich.
»Sie wollen doch nicht etwa andeuten, daß Verdacht auf ein Mitglied meiner Familie fallen könnte?« fragte er vorwurfsvoll.
»Es dürfte mir eher möglich sein, mich mit Euer Gnaden über den Fall zu unterhalten, wenn ich mit Ihnen allein sprechen könnte,« war die fest gegebene Antwort.
Diesmal fluchte der Hauptmann ganz offen, und Seine Gnaden mußte die immer noch zitternde Hand in Abwehr erheben.
»Dr. Tarleton hat recht, Ernest, denn ich bin der einzige, der ins Vertrauen gezogen werden darf.«
Er betonte die letzten Worte, um dem Arzt seine Willigkeit kundzutun.
»Bitte, geh! Ich glaube, du kannst mir die Wahrnehmung deiner Interessen getrost überlassen.«
»Meiner Interessen?« rief der junge Offizier wütend aus. »Was hat denn diese verfluchte Sache mit mir zu tun? Ich habe den Menschen vor seinem Tode niemals gesehen, ja, ich weiß nicht einmal, wie er heißt.«
Der Arzt, so wenig ihm auch der Hauptmann sympathisch war, wurde durch die offenbare Aufrichtigkeit des Protestes doch beeinflußt. Wider Willen antwortete er deshalb:
»Ich bin gern bereit, Hauptmann, diese Erklärung entgegenzunehmen, und danke Ihnen, daß Sie sie gegeben haben; sie hilft mir jedenfalls bei meiner Untersuchung. In der Zwischenzeit aber – das werden Sie verstehen können – muß ich dem Herzog meinen Bericht im Vertrauen unterbreiten.«
Der junge Mann hörte sich diese einschränkende Dankesbezeugung nur mit gemischten Gefühlen an, die – scheinbar vom Herzog geteilt – sich auch nicht verminderten, als er jetzt wunschgemäß das Zimmer verließ.
Bis jetzt hatte der Arzt nur mit größter Behutsamkeit seine Verhandlungen mit dem Herzog geführt. Er wollte vor allen Dingen die Frage klären, wie weit der Herzog für die unnatürliche Verschwiegenheit des Hausverwalters verantwortlich war. Es stand für ihn außer jedem Zweifel, daß Burrowes etwas, was er wußte, zurückhielt, entweder in seinem – Burrowes – Interesse, oder in dem seines Herrn. Es war möglich, daß der Diener aus eigenem Antrieb handelte – ohne jede Veranlassung von Seiten des Herzogs.
Andererseits konnte es auch sein, daß Burrowes nach einem bestimmten Plane handelte, der andere Mitwisser hatte. Es konnte in diesem Sinne, ehe man nach dem Sachverständigen geschickt hatte, eine Beratung stattgefunden haben, um ihm mit einer zurechtgemachten Geschichte aufzuwarten; wenn es sich so verhielt, dann war dieser schöne Plan durch die Schuld Lady Agathas bereits zusammengebrochen. Sie war bestimmt nicht ins Vertrauen gezogen worden, denn hatte nicht Burrowes, als er sie im Zimmer des Toten sah, ausgerufen:
»Wie haben Eure Herrlichkeit dieses Unglück erfahren?«
Dr. Tarleton neigte der Ansicht zu, daß auch der Herzog nur teilweise eingeweiht worden war, und daß Burrowes den Hauptanteil auf sich genommen hatte; ferner daß dieser nach einem plausiblen Grund gesucht hatte, um Hauptmann Theobald zu veranlassen, ihm zu helfen, und daß er so wenig wie möglich seinen Herrn unterrichten wollte – wahrscheinlich um kein Aufsehen zu erregen. Der Arzt war in einer unangenehmen Lage: er hatte keinerlei Grund, dem Herzog anzudeuten, daß Seiner Gnaden ihm etwas verschwieg, andererseits aber konnte er sich nicht dazu aufschwingen, dem Herzog volles Vertrauen zu schenken.
Die goldene Uhr ließ in ihren Schwingungen nach, als der Herzog sich endlich ermannte, das Schweigen zu brechen.
»Sie haben doch nicht etwa den Hauptmann Theobald in Verdacht? Ich selbst setze das vollste Vertrauen in ihn.«
»Daran zweifle ich keineswegs,« erwiderte der Sachverständige. »Unter alltäglichen Umständen würde auch ich dasselbe Vertrauen in ihn setzen. Aber es liegt ein recht merkwürdiges Verbrechen vor, und ich habe begründete Ursache, zu vermuten, daß er indirekt damit in Verbindung steht, wenn ich auch nicht sagen will, daß er davon Kenntnis hatte.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen. Aber Sie haben mir ja noch nicht Ihre Gründe mitgeteilt, warum Sie überhaupt an einen Mord glauben. Burrowes versichert mir, daß es Selbstmord wäre.«
Tarleton nickte energisch. Dieser Adlige hatte mit dieser Bemerkung seine Stellungnahme zu der Angelegenheit kundgegeben. Es war nun nicht mehr gut anzunehmen, daß er von den Ereignissen der vergangenen Nacht Kenntnis hatte, und damit war, wie es der Arzt von Anfang an vermutete, die Hauptbelastung auf den schweigsamen Burrowes übergegangen.
»Ich habe den Körper etwas sorgfältiger untersucht, als es anscheinend Sir Philipp getan hat,« antwortete der Sachverständige, ohne auf die Ansicht des Verwalters über die Todesursache näher einzugehen. »Es steht nun zweifelsfrei fest, daß das Gift, das den Tod – ich möchte betonen den augenblicklichen Tod – verursacht hat, am Nacken eingeführt worden ist. Tatsächlich habe ich auch den Einstich gefunden.«
Der Herzog schien über diese Mitteilung entsetzt.
»Konnte der Tote die Einspritzung nicht vorher selbst bewerkstelligt haben?« fragte er in flehendem Tone.
Der Kriminalist schüttelte verneinend den Kopf.
»Das würde allen meinen Erfahrungen und auch allen bisher gemachten Beobachtungen widersprechen. Selbstmörder stechen oder schießen sich immer in die Vorderseite des Körpers – meist ins Gesicht oder in die Brust. Ich muß Ihnen offen gestehen, daß kein Arzt, der auf seinen Ruf hält, es auf sich nehmen könnte, den Toten für einen Selbstmörder zu erklären.«
»Das ist eine böse Überraschung für mich, Doktor,« stieß der Herzog aufgeregt hervor, und er trank einen langen Schluck aus dem neben ihm stehenden Glas. »Was sagten Sie doch eben? Daß eine Verbindung zwischen diesem – Ereignis und Hauptmann Theobald bestünde, nicht wahr? Wissen Sie, daß er ein Verwandter der Herzogin ist?«
»Ich habe es von Mr. Burrowes erfahren,« antwortete der Spezialist trocken. »Der Grund, der mich diese Bemerkung machen ließ, ist, daß das Gift, an dem der Tote gestorben ist, nach meiner Annahme aus – Nigeria stammt.«
»Nigeria?!!« Der bis dahin trostlose Blick des Herzogs wurde plötzlich intensiv aufmerksam.
»Ja. Es ist eines der tödlichsten Gifte, die die Wissenschaft kennt. Die Eingeborenen jener unzivilisierten Gegend tauchen ihre Pfeilspitzen in das Gift, und es genügt schon der leichteste Stich, um die Wunde tödlich zu machen, außer, wenn sie sofort ausgebrannt wird. Man kennt kein Reagenzmittel, um das Gift nachzuweisen, aber die Symptome, die es hervorbringt, sind wohlbekannt, und ich habe sie auch an dem Toten feststellen können.«
Tarleton hätte diese Erklärungen, da sie ihn interessierten, gern fortgesetzt, aber sein Gastgeber unterbrach ihn durch eine Geste des Entsetzens.
»Entschuldigen Sie, bitte, aber ich bin erschüttert. Was Sie mir bisher erzählt haben, scheint mir jedoch nicht geeignet, den Verdacht auf Theobald zu lenken, denn tatsächlich ist ein Diener aus Nigeria hier im Hause, ein Schwarzer namens Falai. Er ist der Diener des Hauptmanns, und ich glaube nicht, daß über die Person des Täters noch Zweifel bestehen können.«
Diese Erklärung war in nicht gerade sehr überzeugendem Ton gehalten, denn es war dem Herzog jetzt wohl klar geworden, daß Tarleton nicht der Mann wäre, dem man Ansichten aufnötigen könnte. Dieser antwortete nun auch ziemlich schroff:
»Ich würde außerordentlich überrascht sein, wenn es sich herausstellen würde, daß der Diener Falai mit der Angelegenheit irgend etwas zu tun hätte. Es ist noch vieles klarzustellen, ehe wir den Verdacht auf irgend jemanden festlegen können, vor allen Dingen haben wir den Toten zu identifizieren. Weiter interessiert es uns, was den Mann veranlaßt haben könnte, mitten in der Nacht diesen Palast zu betreten, und zwar heimlich zu betreten. Und was war der Grund, daß man ihn ermordet hat?«
»Hat Ihnen Burrowes nicht gesagt, daß wir gegenwärtig wertvolle Juwelen hier im Hause haben?« deutete der Herzog an.
Tarleton warf ihm einen durchdringenden Blick zu.
»Mr. Burrowes hat mir, zweifellos in der besten Absicht, verschiedenes mitgeteilt, was ich als nicht angängig fallen lassen mußte, und ich möchte Euer Gnaden bitten, meinem Beispiele in dieser Hinsicht zu folgen. Es ist vollkommen ausgeschlossen, daß der Tote das Haus in diebischer Absicht betreten hat, denn er hatte einen Schlüssel zum Hause bei sich, den er allem Anschein nach schon lange im Besitz hat.«
»Unmöglich!!«
»Doch! Ich habe ihn an seinem Schlüsselbund gefunden, und ich habe ihn nun in meiner Tasche.«
»Bitte, lassen Sie mich ihn sehen.« Interessiert ergriff der Herzog den Schlüssel, den ihm der Arzt hinhielt und gab ihn dann mit einem Seufzer der Befriedigung zurück. »Es ist der Schlüssel zum Seitentürchen,« erklärte er, »und er muß ihn von einem der Diener erhalten haben.«
»Möglich! Bis jetzt haben wir nur eine mögliche Erklärung seiner Anwesenheit zu dieser Stunde.«
Der Besitzer des Hauses schien wohl die Erklärung im voraus zu wissen:
»Und was meinen Sie?« fragte er zögernd genug.
»Er muß das Haus betreten haben, um eine Frau aufzusuchen.«
Erst als er diese Worte ausgesprochen hatte, wurde sich der Arzt des Schwerwiegenden seiner Bemerkung bewußt; wie ein Blitz durchfuhr ihn der mögliche Verlauf des Mordes. Wenn der Tote das Haus betreten hatte, um als schmachtender Liebhaber ein Weib zu besuchen – wenn sein Tod erfolgte, sobald ein anderer Liebesdurstiger aus Nigeria angekommen war – was für ein Zweifel konnte da noch über die Beweggründe herrschen? Und wenn dieser Zweifel gelöst war – welche Schlüsse würde jemand ziehen, der über die Existenz der jugendschönen Herzogstochter unterrichtet war?
Bestürzt über die erschreckenden Möglichkeiten, denen er sich durch seine Folgerungen eben bewußt geworden war, sah der Arzt nach seinem Auftraggeber. Dieser zeigte keine Überraschung, wenn er auch entsetzt schien. Einige Augenblicke betrachteten sich die beiden Männer schweigend in gegenseitiger Furcht.
Der Herzog von Altringham war der erste, der wieder begann:
»Sie können recht haben, Doktor,« sagte er mit heiserer Stimme. »Wir haben viele weibliche Dienstboten im Hause, und ich kenne kaum einige von ihnen vom Ansehen. Eine aber ist bestimmt dabei, die man als hübsch bezeichnen kann – hübsch im wahren Sinne des Wortes.«
Ungläubig schüttelte der Arzt den Kopf.
»Der Leichnam wurde nicht im Dienerflügel des Hauses gefunden,« widersprach er.
»Das Mädchen, das ich im Auge habe, schläft auch nicht bei den Dienstboten,« war die schnelle Antwort. »Sie hat ihr Zimmer in diesem Teil des Hauses, sogar hier auf dieser Etage, sie ist die Zofe meiner Frau, ich möchte beinahe sagen, ihre Gesellschafterin, eine Französin, Mademoiselle Prégut.«
Mit gerunzelter Stirn hörte der Sachverständige den Erklärungen des Herzogs zu. Das war also die zweite Verteidigungslinie! Die Theorie eines Einbruches hatte nicht standgehalten, der Tote mußte also jetzt der Liebhaber der Zofe sein. Nachdenklich betrachtete Tarleton den Herzog, um sich darüber klar zu werden, ob diese Deutung etwa schon im voraus in Beratung mit dem treuen Burrowes zurechtgelegt worden war – oder ob sie vielleicht dem Herzog eben erst eingefallen wäre. Dutzende von Einwürfen hätte er diesem entgegenhalten können, aber er unterdrückte sie. Zuviel blieb noch aufzuklären, um sich den Luxus gestatten zu können, sich schon eine feste Meinung zu bilden. In der Zwischenzeit aber war es sicherlich der beste Weg, den Hausherrn in dem Glauben zu lassen, daß er – Dr. Tarleton – sich auf eine falsche Spur hatte führen lassen.
Dem Herzog wurde unter den beobachtenden Blicken seines Gegenübers unbehaglich zumute. Das rote Gesicht wurde beinahe purpurfarbig, seine Augen fingen an zu wässern – sowohl durch seine Verwirrung, als auch durch den genossenen Alkohol.
»Um Himmelswillen, Doktor! Reden Sie doch offen von der Leber weg! Sie wollen doch nicht etwa andeuten, daß der Mann irgendjemand von meiner Familie zu besuchen pflegte?«
»Es ist zu früh für mich, irgendeine Meinung zu äußern, da ich den ganzen Fall noch nicht restlos aufgeklärt habe; ich kann nur bemerken, daß Ihre Tochter, Lady Agatha, diese Meinung zu haben scheint.«
»Agatha?« Der Herzog war ebenso erschrocken wie verwirrt. Große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.
»Wer hat Ihnen das erzählt?« fragte er wütend.
Stillschweigend nahm Tarleton von dieser Überraschung Kenntnis und fügte sie zu seinen bereits an der Dame selbst gemachten Beobachtungen. Es war ihm vollkommen klar, daß Lady Agatha außerhalb des Kreises der Vertrauten stand, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die amtliche Aufklärung zu vereiteln und daß, was wichtiger war, dieser Kreis vor ihr Furcht empfand. Wenn es ihm gelingen würde, diese verschlossenen und trotzigen Lippen zur Rede zu bringen, so würde das Geheimnis wohl gelöst werden können.
Er ging mit sich zu Rate, ob er dem Herzog den Auftritt in dem oberen Zimmer schildern sollte. Bei näherer Überlegung sagte er sich, daß der Herzog doch früher oder später davon erfahren würde, und daß das Vertrauen, das der Herzog in ihn zu setzen schien, erschüttert würde, wenn er ihm die Szene verschwieg. Er schilderte daher in kurzen Worten den dramatischen Vorgang, einige besonders krasse Ausdrücke Lady Agathas mildernd.
»Das Mädchen ist wahnsinnig,« rief der Vater ärgerlich aus, als er die Geschichte zu Ende gehört hatte. »Sie hat mir meine zweite Ehe niemals vergeben – als ob es nicht meine Pflicht wäre, dem Herzogstitel einen männlichen Erben zu geben! Sie sieht in jedem Menschen und in jeder Sache nur das Schlechte – nur bei sich selbst nicht! Hoffentlich messen Sie ihrem Wüten keine Bedeutung zu.«
Diese Schilderung stimmte so sehr mit dem Eindruck überein, den Tarleton von Lady Agathas Charakter empfangen hatte, daß er zustimmend nickte. Er ließ seine Uhr eine weitere Schwingung vollführen, ehe er wieder sprach – eine neue Spur schien ihm aufzutauchen.
»Mir ist eben eingefallen, daß auch noch eine andere Erklärung dieser geheimnisvollen Besuche des Unbekannten bestehen könnte: Vielleicht ist er gar nicht als Liebesdurstiger gekommen – vielleicht wollte er Erpressung verüben.«
»Ah!!« Der Herzog schien aufzuleben und blickte erwartungsvoll weiteren Erläuterungen entgegen.
»Es ist sehr leicht möglich,« fuhr der Arzt fort, während seine Gedanken bei dem jungen, lieblichen Wesen weilten, das er diesen Morgen kennengelernt hatte, »daß ein junges, unmündiges Menschenkind, dem die mütterliche Fürsorge fehlt, in die Gewalt eines Erpressers gekommen ist, ohne daß etwas wirklich Schlimmes passiert wäre.«
Der Herzog hörte hoffnungsvoll, aber etwas verwirrt zu. War es denn möglich, daß er wirklich die Französin im Auge hatte, und daß er überhaupt nicht auf den Gedanken kam, daß es sich um seine Tochter handeln könnte? Nun erschien wieder Tarleton die Sache rätselhaft.
»In diesem Falle,« fuhr er fort, »wäre es sehr leicht möglich, daß der Liebhaber der Dame etwas von diesen Erpressungen erfahren hatte. Er konnte ja dem Manne begegnet sein und ihn ausgefragt haben, oder aber vielleicht sich mit der Braut auseinandergesetzt haben; das Resultat hatte ihn vielleicht überzeugt, daß es keinen anderen Ausweg gab, als den Erpresser verschwinden zu lassen.«
»Und wenn es so wäre,« warf der Herzog in ernsthaftem Tone ein, »wenn wirklich der Freund des bedrängten Weibes den Mann getötet hatte, der es verfolgte, dann würden Sie es doch sicherlich nicht als ein Verbrechen bezeichnen wollen, nicht wahr?«
Der Kriminalist preßte die Lippen zusammen und ließ seinen Talisman erregt hin und her pendeln, ehe er antwortete. Er hatte selbst kein sehr großes Vertrauen zu dieser Erklärung, und auch sein Instinkt warnte ihn vor der Annahme dieser Theorie, vor der Gefahr, daß der Herzog mit raschen Händen diesen Rettungsanker ergreifen würde, um die weitere Aufklärung zu unterbinden. Allein deshalb, und nicht, um gewissenhafter Untersuchung weiterzuhelfen, konnte der Herzog die Theorie als die richtige anerkennen wollen.
»Darüber kann ich keinerlei Meinung äußern,« beantwortete endlich der Kriminalist die vom Herzog gestellte Frage. »Es ist auch noch nicht so weit, um ein endgültiges Urteil abzugeben, denn wir unterhalten uns ja nur über mögliche Motive. Auch eine andere Theorie hat vieles für sich, nämlich, daß das Opfer des Erpressers – das Weib selbst – das Gift angewendet hätte.«
»Nein, nein!! Das wäre zu schrecklich!« – Der Schrecken war ein Beweis, daß der Herzog nicht mehr nur an die Zofe seiner Frau allein dachte.
»Gewiß! Es wäre schrecklich, aber die Natur der Wunde macht diese Theorie sehr wahrscheinlich. Ein Weib ist viel eher imstande, sein Opfer von hinten zu ermorden, als ein Mann.«
Der Herzog zitterte sichtbar. Es dauerte geraume Zeit, ehe er sich soweit beruhigt hatte, um wieder sprechen zu können.
»Aber der Tote wurde doch in der Nische seitwärts der Treppe gefunden; das wäre doch sicherlich kein geeigneter Platz für ein geheimes Treffen, wie?«
»Es stimmt zwar, daß mir Mr. Burrowes gesagt hat, er hätte den Toten dort gefunden, aber das will ja nicht besagen, daß der Mord dort auch verübt worden ist; der Tote kann auch nach der Tat dorthin gebracht worden sein, denn Burrowes hatte ihn ja auch, ehe ich kam, bereits weggeschafft.«
Der Arzt sprach vollkommen ruhig und gelassen, um seinen Klienten nicht im Zweifel zu lassen, daß er nicht bereit sei, den Verwalter als vollkommen glaubwürdigen Zeugen zu betrachten.
Der Peer sank schweratmend in seinen Stuhl zurück. Die Unterredung ermüdete ihn. Dr. Tarleton hatte für einen kommenden nervösen Zusammenbruch einen guten Blick, und so überwand das Interesse des Arztes das des Kriminalisten.
»Sie sehen ermüdet aus, Herzog,« sagte er. »Wenn Sie Brom im Hause haben, würde ich Ihnen raten, etwas davon einzunehmen. Die Sache ist zu aufregend für Sie. Warum beauftragen Sie nicht Ihren Rechtsanwalt, die Sache für Sie zu erledigen?«
Der Kranke blickte ihn überrascht, aber dankbar an. »Sie sind sehr freundlich, Doktor. Wollen Sie, bitte, für mich klingeln, damit mir mein Diener die Medizin bringen kann, – danke sehr.«
Das Klingeln veranlaßte fast sofort den Eintritt eines Kammerdieners, der aus einem anschließenden Ankleidezimmer heraustrat. Sein Äußeres war bedeutend weniger vertrauenerweckend als das des Verwalters. Etwas Verstohlenes, Katzengleiches lag in seinen Bewegungen und in der Unterwürfigkeit, mit der er seinen Herrn bediente – als wenn er etwas wüßte, das genügen würde, den Herzog und viele seiner Bekannten an den Galgen zu bringen. Er blickte nicht ein einziges Mal dem Arzt ins Gesicht, sondern hielt die Augen abgewandt, als ob er es für seine Pflicht erachtete, den Verdacht auf sich selbst zu lenken.
»Brom, Hewitt!!«
Hewitt verschwand und erschien wieder mit der Lautlosigkeit eines Reptils. Sobald der Herzog die Dosis eingenommen hatte, erhob er sich.
»Das Frühstück wird, wie ich glaube, um neun Uhr serviert, Doktor, und ich würde mich freuen, wenn Sie es mit meinen Töchtern einnehmen würden. Sie können aber auch jetzt etwas bekommen, wenn Sie wünschen – Burrowes kann es Ihnen bringen.«
Tarleton befragte seinen Talisman. Er hatte Hunger und außerdem überlegte er sich noch, daß ihm die Zeit des Frühstücks der herzoglichen Familie genügen würde, um oben ungestört eine gründliche Nachforschung anzustellen. Er nahm daher die zweite Einladung des Herzogs an. Dieser ließ durch Hewitt den Verwalter rufen.
»Ich habe über Ihre liebenswürdige Anregung nachgedacht,« bemerkte der Herzog zu Tarleton, als sie wieder allein waren, »aber ich glaube nicht, daß es Zweck haben wird, meinen Rechtsanwalt zu benachrichtigen. Er ist nur Anwalt für Zivilsachen und würde sofort die Zuziehung eines Kriminalisten vorschlagen. Wer weiß, wohin das alles führen würde. Es wäre mir lieber, wenn Sie die Angelegenheit weiter bearbeiten würden, denn Sie haben ja Erfahrung. Hoffentlich werden Sie aber nichts unternehmen, ohne mich zu benachrichtigen, nicht wahr?«
Das trieb Tarleton in die Enge. Er sollte seinem adligen Auftraggeber alles sagen, ihm, der ihm sicherlich keinen reinen Wein eingeschenkt hatte. Trotzdem glaubte er einen Ausweg zu finden.
»Natürlich ist das die Voraussetzung zwischen uns beiden, Herzog,« antwortete er, seine Worte sorgfältig abwägend. »Euer Gnaden geben mir völlige Handlungsfreiheit, selbstverständlich unter der Bedingung, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Bitte, haben Sie doch die Güte, Mr. Burrowes dementsprechend zu unterweisen,« fügte er hinzu, als der Verwalter in der Tür erschien.
Der Herzog war enttäuscht; er hätte es vorgezogen, seine Instruktionen Mr. Burrowes unter vier Augen zukommen zu lassen. Das scharfe Auge Tarletons sah wohl die zwischen Herrn und Diener ausgetauschten Blicke der Verständigung, der eine warnend, versprechend der andere.
»Burrowes wird Ihnen das Frühstück besorgen, Doktor. Burrowes, wollen Sie, bitte, Herrn Doktor jede verlangte Auskunft geben. Dr. Tarleton setzt seine Untersuchung mit meiner vollen Einwilligung fort, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie ihm jede Hilfe gewähren.«
»Gewiß, Euer Gnaden!«
Soweit es Worte betraf, konnte Dr. Tarleton nicht mehr verlangen. Trotzdem versuchte er, den Blick, den sich Herr und Diener zuwarfen, vor Verlassen des Zimmers aufzufangen.