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13

Seine Gnaden saß in einem breitarmigen Lehnstuhl, der, geschmückt mit den Emblemen des Hauses, einem Throne ähnelte. Dr. Tarleton saß ihm zur Linken, ein wenig im Hintergrund. Zur Rechten hatten die Mitglieder der herzoglichen Familie – die junge Herzogin, die Ladies Agatha und Rosa, und zuletzt, als Gast und zukünftiger Schwiegersohn, der Hauptmann Theobald, ihre Sitzplätze. Weiter links standen die übrigen Bewohner des Hauses, der Dienerschaft angehörig. Der Vertraute, Burrowes, stand vor diesen aufmarschierten Dienern mit einer Schale Reis in den Händen.

Der Herzog, dem man eine gewisse Würde nicht absprechen konnte, eröffnete die Sitzung mit einigen einleitenden und erklärenden Worten. Er erwähnte den ersten Mord mit keinem Wort, obzwar wohl niemand hier anwesend war, der nicht zum wenigsten den Bericht über die Totenschau in der Zeitung gelesen und ihn mit dem neuesten Vorfall in diesem Hause in Verbindung gebracht hätte. Er wies in einigen ernsten Worten auf das Ereignis der letzten Nacht hin und erklärte den Zuhörern, daß keine volle Klarheit darüber vorläge, ob Mord oder Selbstmord in diesem Falle in Frage käme.

Der Herzog fuhr dann weiter fort, daß, da als Todesursache das Pfeilgift von Nigeria erkannt worden sei, der Neger als einziger Eingeborener jenes Landes, vorläufig verdächtigt worden sei, und daß er, seine Unschuld beteuernd, sich bereit erklärt habe, sich der in seiner Heimat üblichen Schuldprobe zu unterwerfen. Der Herzog erklärte weiter, welcher Art diese Prozedur wäre, und bat seine Zuhörer, sich im Gefühl ihrer eigenen Schuldlosigkeit gleichfalls der vorgeschlagenen Zeremonie zu unterziehen. Nur so wäre es möglich, fügte der Herzog hinzu, eine öffentliche Untersuchung zu vermeiden, wie sie der anwesende Beamte des Innenministeriums vorzunehmen bevollmächtigt wäre.

Naturgemäß erregte diese Erklärung großes Aufsehen. Einige junge Mädchen begannen zu schluchzen. Selbst einige der anwesenden männlichen Diener zeigten eine gewisse Furcht, mit der einzigen Ausnahme Mr. Googes, des Kellermeisters, der nunmehr seine frühere Widerspenstigkeit dadurch wieder gutzumachen suchte, daß er den verstörten Kollegen mißbilligende Blicke zuwarf. Der treue Burrowes erbot sich selbst als erster, um durch sein Beispiel die mehr und mehr sichtbar werdende Auflehnung der übrigen Dienerschaft zu unterdrücken.

Aber der Herzog erinnerte sich seines Versprechens.

»Nein, Burrowes, ich werde selbst als erster mich der Prozedur unterziehen und hoffe, daß sich dann niemand mehr weigern wird, mir Folge zu leisten.«

Er wollte seine Hand gerade nach der Schale ausstrecken, als er durch einen Ausruf unterbrochen wurde.

»Ich widerspreche dieser heidnischen Prozedur! Die Kirche verbietet derartiges! Kein Christ, ob Mann oder Weib, darf daran teilnehmen.«

Aller Augen wandten sich der ältesten Tochter des Herzogs zu, die ihrem Vater derartig offen zu widersprechen wagte. Viele der Diener atmeten erleichtert auf und drückten ihr Einverständnis mit diesem Widerspruch aus. Warum sollten sie als ehrbare Engländer und Engländerinnen sich derartigen ausländischen Firlefanzereien unterwerfen?

Ein unterdrücktes Murmeln der Zustimmung ertönte.

»Ruhe!« befahl der Herzog. »Agatha, ich werde mich nicht mit dir streiten! Dazu kenne ich dich zu gut! Aber wenn dein Fanatismus noch nicht völlig dein Gefühl für Würde ertötet hat, dann erinnere dich, bitte, daran, daß es ein ›Fünftes Gebot‹ gibt.«

»Ich gehorche dem zweiten Gebot!« war die energische Entgegnung. »Meine Pflicht weist mich hin, Götzendienst in dieser Form abzulehnen, auch wenn er mir durch meinen irdischen Vater befohlen wird.«

Hoch richtete sich Lady Agatha, als sie die Menge mit verachtungsvollem Lächeln musterte, auf. Als Hauptmann Theobald sie im Begriff sah, das Zimmer zu verlassen, wechselte er einige schnelle Worte mit dem Neger, der zustimmend nickte.

»Es ist alles in Ordnung,« erläuterte der Offizier seinem Schwiegervater. »Ich habe Falai erklärt, daß Lady Agatha einem andern Ju-Ju gehorcht – so nennen die Eingeborenen ihre Religion – und daß ihr dieses die Teilnahme an der Probe verbietet. Er versteht schon, um was es sich handelt.«

Offenbar fühlte sich Lady Agatha gedemütigt, daß sie unter diesen Bedingungen losgesprochen werden sollte.

»Ich wundre mich über dich, Ernest! Gibt es denn in Nigeria keine Missionare? Kann denn dieses, in geistige Nacht versunkene Geschöpf, keinen Unterschied zwischen christlichem Glauben und heidnischem Götzendienst machen?«

»Das genügt, Agatha!« unterbrach sie der Vater. »Ich persönlich finde geringen Unterschied zwischen deinem christlichen Fanatismus und diesem heidnischen Ju-Ju, oder wie das Ding auch heißen möge. Deine Religion scheint dir den kindlichen Ungehorsam zu predigen, und das genügt mir. Wenn du gehen willst, geh!«

Das kalte Lächeln verschwand, und eine Träne rollte über ihre Wangen, als sie diesen öffentlichen Tadel von ihrem Vater erhielt. Sie verbeugte sich demütig und verließ das Zimmer.

In der Befürchtung, daß dieses Beispiel Schule machen könnte, beeilte sich der Herzog, einen Löffel voll Reiskörner in den Mund zu nehmen. Energisch zerkaute er sie und hatte sie in wenigen Augenblicken verschluckt.

Er wollte gerade die Schale seiner Frau und seiner Tochter reichen, als sich Tarleton vorbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

»Sehr richtig! Sie haben recht! Danke bestens!« antwortete ihm der Herzog. »Dr. Tarleton hat angeregt, daß die Damen – vielmehr die Frauen – bis zuletzt warten sollen. Wenn der Neger unter der Probe zusammenbricht, dann ist es ja nicht mehr notwendig, andere dieser Zeremonie zu unterziehen.«

Falai stand in der Nähe der Tür, etwas von den anderen Dienern entfernt. Mit ernsthaften Augen blickte er auf den Herzog, um die Bedeutung von dessen Worten in sich aufzunehmen.

Mittlerweile hatte auch die Herzogin den Arzt mit einer Verbeugung und einem dankbaren Lächeln begrüßt. Bisher hatte sie die ganzen Vorbereitungen mit einer gewissen Gleichgültigkeit, ja Langeweile betrachtet. Sie erweckte den Eindruck einer großen Dame, die aus Versehen in eine Dorfbelustigung geraten war. Das Beginnen ihres Gatten hatte in ihr scheinbar keinen anderen Eindruck als den der Mißbilligung solcher proletarischer Gepflogenheit erweckt, und sie hatte auch beabsichtigt, sich der Prozedur mit demselben Gefühl, mit dem sie die ganzen Ereignisse betrachtete, zu unterwerfen.

Lady Rosa zitterte vor Erregung. Offenbar war sie der Meinung, daß die Schuldprobe ein Resultat zeitigen würde, und sie erwartete dieses, wie es auch ausfallen mochte, mit großer Sorge. Sie hatte ihren Vater dankbar und erleichtert angelächelt, als sich dieser mit gutem Erfolg unterworfen hatte. Jetzt aber war Hauptmann Theobald an der Reihe, und man konnte aus den angstvollen Blicken seiner Braut schließen, daß es nicht entschwundene Liebe war, die diese veranlaßt hatte, die Verlobung aufzulösen.

Der Hauptmann, bleich aber entschlossen, trat vor und entnahm der Schale des Verwalters eine Handvoll Reis. Ehe er ihn zum Munde führte, wandte er sich mit einigen unverständlichen Worten seinem Diener zu.

»Verzeihung, Hauptmann, darf ich erfahren, was Sie Ihrem Diener eben sagten?« erkundigte sich der Arzt.

Theobald wandte sich ihm zu.

»Ich wiederholte die vorgeschriebene Formel, daß mich der Reis ersticken möge, wenn ich schuldig sei.« Und er schüttete den Reis in seinen Mund, während sich den Lippen des jungen Mädchens, die sich geweigert hatte, die Seine zu werden, ein heiserer Schrei entrang.

Sogar der Arzt fühlte sich erregt. Wenn Indizienbeweise überhaupt einen Wert hatten, dann war jedenfalls die Schuld des Hauptmanns eher anzunehmen als die seines Dieners. Auch die Achtung und die Sympathie, die Tarleton nunmehr dem Hauptmann entgegenbrachte, gaben keinerlei Gewißheit, daß der junge Offizier nicht ein Verbrechen begangen hätte, zu dem er sich aus besonderen Gründen für berechtigt hielt.

Aber die Miene des jungen Mannes drückte, während er sich nun der Zeremonie unterworfen, nur eine gewisse Traurigkeit aus. Erst als er die Probe erfolgreich bestanden hatte, warf er seiner Braut einen fragenden Blick zu, als ob er wissen wollte, ob auch sie nun von seiner Schuldlosigkeit überzeugt wäre. Aber das junge Mädchen hatte ihr Haupt gesenkt, und nur der Arzt bemerkte ihren befriedigenden Blick.

Jetzt aber kam die Reihe an diejenige Person, die die Zeremonie vorgeschlagen hatte. Man konnte der englischen Dienerschaft nicht gut zumuten, sich der Zeremonie zu unterwerfen, ehe nicht der Neger seine Unschuld bewiesen hatte. In ihren Augen konnte selbstverständlich diese Schuldprobe nicht als ausschlaggebend angesehen werden. Keinerlei Aberglauben belastete die Weißen in dieser Beziehung, und ein abgebrühter, europäischer Verbrecher hätte den Reis pfundweise verschlucken können, ohne mit der Wimper zu zucken. Bei Falai lag die Sache anders. Sein Aberglaube würde sicherlich den Zauber zur vollen Wirkung bringen, falls er sich schuldig fühlte.

Der Neger näherte sich dem Herzog mit zögernden Schritten, und seine ganze Gestalt zitterte. Das tiefe Schwarz seines Gesichts wechselte ins Aschgrau, als er den Reis in die Hand nahm. Vielleicht weil er ahnte oder wußte, daß sein Herr der einzige in der Versammlung war, der ihm freundlich gesinnt wäre, wandte er, als er den Reis in den Mund nahm, sein Gesicht dem jungen Hauptmann zu.

Die Erwartung unter den Versammelten war aufs höchste gespannt. Nur wenige der englischen Diener hatten irgendwelche Zweifel hinsichtlich der Schuld des Schwarzen. Die französische Zofe war nicht beliebt gewesen bei ihnen – nur wenige vertraute Diener erfreuen sich der Zuneigung ihrer Kollegen – und voller Mitgefühl blickten sie auf diesen einsamen, heimatlosen Schwarzen, der sich seinem Gericht unterzog, das, wenigstens für ihn, das schlimmste bedeutete, was man ihm antun konnte.

Große Schweißtropfen rollten über die von Messerschnitten – den Stammeszeichen – bedeckten Wangen Falais, als er in höchster Pein den Reis zerkaute; sogar sein hartnäckigster Ankläger, der Herzog, empfand Mitleid und wandte sich von dem furchtbaren Schauspiel ab. Zuletzt schien der Kampf des armen Schwarzen auch auf die Herzogin Eindruck zu machen.

Tarleton wurde sich jetzt eines kaum bemerkbaren Mienenspieles der Herzogin bewußt, die bisher, so weit wie möglich, seine beobachtenden Blicke zu vermeiden gesucht hatte. Daß sie eine vollendete Schauspielerin wäre, hatte er, trotz der gegenteiligen Meinung Mr. Jimmy Borsalls, sofort erkannt. Sogar ihn hatte ihr Benehmen bei dieser Prozedur in die Irre geführt; sie hatte bis zur Vollendung die Rolle einer Dame gespielt, die bei derartigen Zeremonien sich absolut keine Gedanken machte und ihre Teilnahme als höchst unnötig empfand. Aber als sie die Leiden Falais sah, verlor sie doch ihre Selbstbeherrschung, ihre Lippen öffneten sich, und in kurzen, heftigen Stößen entfuhr ihr der Atem. Furcht, blasse, ängstliche Furcht, war in ihren Augen zu lesen.

Und plötzlich schien es dem Arzt, als spränge ein telepathischer Funke aus dem Gehirn der Herzogin zu ihm über, ein Vorgang, den ihm sein medizinisches Gewissen verbot, anzuerkennen, der aber trotz alledem fühlbar war. Die geisterhafte Botschaft gab ihm die Gewißheit, daß die Herzogin sich fürchtete, nicht für den Neger, sondern vor ihm und für sich selbst. Sie schien sich plötzlich der Möglichkeit bewußt zu werden, daß der Neger ein Mörder sein könnte, und daß auch sie gewärtig sein müßte, sein Opfer zu werden.

Diese Botschaft verschwand so schnell wie sie gekommen war, ehe der Arzt dazu kommen konnte, sich seines Aberglaubens zu schämen. Die Herzogin schien sich zurückzufinden. Ihre Züge nahmen wieder die frühere hochmütige Gleichgültigkeit an; sie hatte sich wieder in ihren Stuhl zurückgelegt, wenn sie auch hinter ihren halbgeschlossenen Lidern großes Interesse für die fortschreitende Schuldprobe des Negers empfand.

Lady Rosa brachte dem weiteren Verlauf der Prozedur nur noch geringe Aufmerksamkeit entgegen. Wahrscheinlich war ihr Interesse verschwunden, sobald ihr Bräutigam schuldlos gesprochen war – sie nannte es in ihrem Innern so – und nur noch weibliches Mitleid für den unglücklichen Schwarzen zeigte sich in ihren Blicken.

Die Qualen des Dieners erreichten endlich ihr Ende. Man konnte hören, wie er den zerkauten Reis in großen Portionen hinunterschluckte, während er die Augen fest geschlossen hielt. Mit einem erleichterten Seufzer wandte er sich endlich mit weitgeöffnetem Munde seinem Herrn zu, als ob er ihm beweisen wollte, daß nicht ein Reiskörnchen in seinem Mund verblieben war.

Ein leichtes Gekicher kam aus den Reihen der jungen weiblichen Dienstboten, als sie dieses komische Ende der Tragödie sahen. Der Herzog von Altringham schnitt das Lachen kurz ab.

Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß Seine Herrlichkeit über diesen Ausgang des Versuches enttäuscht war, wenn er natürlich auch als gebildeter Mensch nichts anderes erwartet haben konnte. Sein Benehmen deutete dem Arzt an, daß er für ein weiteres Fortsetzen der Schuldprobe kein Interesse mehr hätte, doch mußte er es geschehen lassen, daß die andern noch verbleibenden Bewohner des Hauses sich gleichfalls unterwarfen.

Der melancholisch aussehende Burrowes verzehrte sein Quantum, ohne mit der Wimper zu zucken und kam ohne besondere Ereignisse damit zu Ende. Aber das merkwürdige Gemisch von Tragödie und Komödie wurde am offensichtlichsten, als der apoplektische Kellermeister an der Reihe war.

Dieser hochgeschätzte Mr. Googe trat, vertrauensvoll lächelnd, vor, um sich der Probe zu unterziehen; aber er hatte kaum den Reis in den Mund genommen, als sich bei ihm schon Zeichen von Angst bemerkbar machten. Der gute Mann hatte bereits die meisten seiner Zähne durch Alter und gutes Leben verloren, und da er niemals falsche Zähne tragen wollte, war er nur weiche Nahrung gewohnt. Für Reiskörner war sein Gebiß nicht mehr geeignet, und als er versuchte, sie ungekaut hinunterzuschlucken, verfiel er in einen Paroxismus von Husten- und Erstickungsanfällen, der ihm vor jedem Eingeborenen-Gericht in Nigeria das Todesurteil eingebracht haben würde. Die Tränen rollten über seine Wangen, und er sandte seinem Herrn flehende Blicke zu.

»Ich … ich bringe das wirklich nicht herunter, Euer Gnaden,« murmelte er trostlos.

»Genug!« Der Herzog wandte sich mit einem zornigen Blick Theobald zu und sprach das Wort in energischem Ton. »Ich will diese Witze nicht mehr weiter mit ansehen. Es ist direkt widersinnig, weiße Leute diesem wilden Verfahren zu unterwerfen. Man sieht ja, was dabei herausgekommen ist; der einzige, der begründeterweise verdächtigt werden könnte, hat sich freigekaut, und ein alter, vertrauter Diener des Hauses, den niemand im Verdacht haben würde, auch nur einer Fliege ein Leid zu tun, ist offenbar überführt. Sage Falai, daß ich die Fortsetzung dieses Verfahrens verbiete.«

Der junge Offizier verbeugte sich achtungsvoll.

»Es tut mir ebenso leid wie Ihnen, Herzog. Ich sehe ein, daß es eine verfehlte Sache war, und werde mein möglichstes tun, um Falai die Angelegenheit zu erklären.«

Er richtete einige Worte an den Neger, die derselbe mit offensichtlicher Bestürzung vernahm, und mit einem unverständlichen Wortschwall beantwortete.

Unterdessen hatte sich der Herzog mit Tarleton besprochen.

»Hoffentlich sind Sie mit meiner Entscheidung einverstanden, Doktor; denn ich kann meine Zustimmung zu derartigen Sachen nicht länger geben.«

Die Gefühle des Arztes waren geteilt, denn er hätte gern gesehen, wie sich die Herzogin bei der Schuldprobe benehmen würde. Andrerseits, so überzeugt er auch von der Unschuld Lady Rosas war, fürchtete er doch die Wirkung der Sache auf sie. Ob sie wirklich etwas wußte oder vielleicht auch nur vermutete, was ihre Lippen verschlossen hielt – auf alle Fälle fürchtete er, daß ihre Nerven dem Versuch nicht würden standhalten können.

Im allgemeinen war er deshalb mit der Entscheidung des Herzogs einverstanden und gab dies zu erkennen.

»Ihr könnt jetzt gehen,« gab Seine Gnaden kund. »Ich danke euch allen, daß ihr bereit wart, euch meiner Anregung zu unterwerfen. Auch nicht eine Spur des Verdachtes bleibt an euch haften.«

Einige von der Dienerschaft gingen bereits dem Ausgang zu. Andere wieder stellten sich flüsternd zusammen. Zur großen Überraschung des Herzogs trat die Haushälterin, eine alte Dame im Spitzenhäubchen und Fäustlingen, vor, und sagte verlegen:

»Gestatten Euer Gnaden, daß ich einige Worte spreche?«

»Was gibt es, Mrs. Hempstead?«

»Es tut mir ausnehmend leid, daß ich Euer Gnaden belästigen muß, aber einige der Dienerschaft beschweren sich über die letzten Geschehnisse in diesem Hause.«

Der Herzog fing sofort Feuer.

»Was gefällt Ihnen nicht?! Ich bin erstaunt über Sie, Mrs. Hempstead.«

Die alte Dame zupfte verlegen an ihrer Schürze.

»Ich hätte niemals gedacht, daß etwas derartiges sich zwischen uns ereignen würde. Aber die Dienerschaft fürchtet sich. Sie denkt – und wir alle sind diesbezüglich einer Meinung – daß hier im Hause ein Mord passiert ist. Wir sind der Meinung, daß die Polizei geholt werden muß.«

Hätte ein Blitz durch die Decke geschlagen, wäre der Herzog nicht erstaunter gewesen, als über diese Anregung. Er starrte die alte Dame an, die ihn schon als Kind auf ihren Knien gehalten hatte, und das Mitleid schien ihn bei dieser Erinnerung zu überkommen.

»Das hätte ich von Ihnen allerdings nicht erwartet, Mrs. Hempstead. Können Sie sich denn nicht denken, daß mich diese Sache genau so beunruhigt wie Sie? Hier steht Dr. Tarleton, der offizielle Berater des Innenministeriums, der dadurch auch gleichzeitig die Polizei vertritt. Vertrauen Sie denn nicht wenigstens ihm?«

Gedankenvoll blickte die alte Frau den Arzt an.

»Wir würden das gern tun, Euer Gnaden. Aber wir wissen doch, daß Dr. Tarleton schon seit zwei Tagen hier im Hause weilt; er kam am frühen Morgen, und am selben Tage fand eine Untersuchung wegen eines fehlenden Schlüssels statt, die uns aufmerksam machte, daß hier etwas nicht in Ordnung wäre. Und nun ist eine Angestellte Euer Gnaden, trotzdem Dr. Tarleton sich im Hause befindet, ermordet worden. Das ist es, was uns so erschreckt.«

Tarleton selbst war über den Mut erstaunt, mit dem die alte Dame diese Dinge aussprach. Unterdessen hatten sich sämtliche Diener um die alte Dame versammelt, mit alleiniger Ausnahme des Negers, der das Zimmer mit seinem Herrn verlassen hatte. Es war ziemlich offensichtlich, auf wen sich der Verdacht der Leute richtete, und ein allgemeines Murmeln der Anklage ließ sich vernehmen.

»Ein Wilder gehört nicht in dieses Haus! – Er läuft schon frühmorgens hier herum! – Man hört ihn die ganze Nacht herumschnüffeln! – Die vergifteten Pfeile müssen vernichtet werden!«

Der Sachverständige ergriff die erste Gelegenheit, um sich Gehör zu verschaffen.

»Ich kann Ihnen allen versichern, daß die Pfeile aus Hauptmann Theobalds Zimmer sich nicht mehr im Hause befinden; ich selbst habe sie mitgenommen!«

»Und der Schwarze?!«

»Auch ihn würde ich mit mir nehmen, wenn er mit mir ginge. Ich habe keine Angst vor ihm.«

Ein überraschtes Murmeln. Dann die Frage: »Und wenn er nicht mitgehen wollte?«

»Dann würde ich ihn sofort verhaften lassen. Ich gebe mein Wort, daß er keine weitere Nacht hier im Haus verbleibt.«

Die Erregung begann sich zu legen. Mehrere der Diener murmelten ein »Besten Dank, Herr!« Tarleton fügte noch ein paar beruhigende Worte zu, und die Dienerschaft verließ das Zimmer.

Sobald sie draußen waren, dankte der Herzog seinem Helfer.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Sie angefangen hätte. Ich wollte schon die ganze Gesellschaft entlassen, wenn ich nicht auf meine Frau Rücksicht zu nehmen hätte.«

Die Herzogin erhob sich müde vom Stuhl, von dem aus sie der ganzen Szene zugeschaut hatte.

»Was mich betrifft, so kannst du sie ruhig entlassen, ich habe genug von all diesen schrecklichen Dingen, und vor allem, ich bleibe auch nicht mit einer Leiche unter einem Dach. Ich werde heute abend mit dem Nachtzug nach Paris fahren und mir dort sofort eine neue Zofe engagieren.«

Mit einer graziösen Verbeugung gegen den Arzt verließ Ihre Gnaden, ohne die Antwort ihres Gatten abzuwarten, das Zimmer.

Der Herzog blickte zweifelnd seine Tochter an, die eben das Zimmer verlassen wollte.

»Und was wird mit dir, Rosa? Ich kann dich doch unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht hier lassen; und allein sollte deine Mutter auf keinen Fall reisen.«

Lady Rosa lächelte spöttisch.

»Ich glaube, daß du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Sie ist wohl imstande, auf sich aufzupassen. Wahrscheinlich würde sie mich eingeladen haben, wenn es sie nach meiner Gesellschaft verlangte.«

Ungeduldig wartete Tarleton, daß Lady Rosa sich entferne, weil er mit dem Herzog über die so überraschend angekündete Reise der Herzogin sprechen wollte. Es war vollkommen ausgeschlossen, daß die Herzogin England verließ, so lange die Geheimnisse von Trafford House nicht gelöst waren. Schwer war es, dem Gatten dieses Verbot schmackhaft zu machen.

Lady Rosa hatte noch nicht die Tür erreicht und der Herzog noch nicht Zeit gefunden, die ironische Antwort seiner Tochter zu beantworten, als sich die Tür öffnete und Hauptmann Theobald mit bestürztem Ausdruck ins Zimmer trat.

»Doktor, was soll ich tun? Falai ist plötzlich fortgelaufen.«

»Donnerwetter,« rief der Herzog aus. »Das konnte man ja voraussehen.«

»Warum ist er fort?« erkundigte sich der vorsichtige Arzt.

»Er weigert sich, länger hier im Hause zu verweilen, wo sich ein von uns geschützter Mörder aufhalte.«

Lady Rosa fing an zu weinen.

Der Herzog von Altringham blickte die Anwesenden mit ausgesprochenem Mißvergnügen an.

»Theobald, ich wundere mich über dich! Du hast kein Recht, die infamen Lügen dieses Wilden hier zu vertreten. Seine Flucht zeigt uns klar und deutlich, daß er der schuldige Teil ist, und wahrscheinlich wollte er dies durch seine Beschuldigungen verdecken. Du kannst sehen, wie sich Rosa darüber aufregt. Du wirst hoffentlich so viel Rücksicht nehmen und diese Geschichte nicht auch noch andern erzählen.«

Der junge Offizier schämte sich. Die Verzweiflung, die seine Mitteilung bei Lady Rosa ausgelöst hatte, bedrückte ihn offenbar aufs tiefste.

»Ich bedaure es außerordentlich, daß ich die Sache vor Lady Rosa erwähnt habe,« erklärte der junge Offizier demütig. »Ich dachte, ich müßte Dr. Tarleton antworten.«

Der Herzog war aufs tiefste überrascht, als der Sachverständige des Ministeriums seinen Tadel unterstützte.

»Ich würde die Frage sicher nicht gestellt haben, wenn ich ihre Wirkung auf Lady Rosa vorausgesehen hätte,« sagte Tarleton. »So wie aber die Sache liegt, kann ich Ihnen nur raten, die Worte des Schwarzen außerhalb dieses Zimmers nicht zu wiederholen.«

»Ich werde das niemals tun,« erwiderte der Hauptmann.

»Die Dienerschaft ist schon erregt genug,« fuhr Tarleton fort. »Wenn sie nun auch noch auf die Idee käme, daß die Flucht des Negers ein Eingeständnis seiner Schuld ist, wie der Herzog ja auch denkt, dann wäre es möglich, daß sie sich wieder beunruhigt. Ich glaube sicherlich nicht, daß Lady Rosa etwas davon erwähnen wird.«

Lady Rosa nickte schluchzend. Aber offenbar konnte sie sich mit der Ansicht ihres Vaters nicht einverstanden erklären. Der Herzog hielt es nun an der Zeit, in schärferem Ton mit ihr zu sprechen.

»Genug, Rosa! Was gibt es da zu weinen? Du kannst dich darauf verlassen, daß alles Unglück nun ein Ende haben wird. Gehe jetzt auf dein Zimmer und lasse dich nicht vor einem der Diener sehen, ehe du nicht wieder zur Besinnung gekommen bist.«

Lady Rosa riß sich mit Gewalt zusammen und begab sich, gehorsam dem Befehl ihres Vaters, auf ihr Zimmer.


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