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»Vor allen Dingen muß mir Mr. Burrowes sagen, wieviel Schlüssel dieser Art zur Hintertür überhaupt vorhanden sind.«
Der Verwalter erhob mit einem flehenden Blick auf seinen Herrn Widerspruch gegen die Frage.
»Nur vier, außer dem Seiner Gnaden, soweit mir bekannt ist.«
»Und wer hatte sie?«
»Ich habe einen …«
»Verzeihen Sie! Haben Sie ihn bei sich?«
Burrowes zuckte zusammen, wurde rot und brachte dann mürrisch einen Schlüsselbund aus seiner Tasche.
»Hier ist er, Herr!« Er wollte gerade den Schlüssel abnehmen, als ihn Tarleton daran hinderte.
»Danke! Das genügt mir. Bitte, sagen Sie mir jetzt, wer die andern hat.«
»Der Kellermeister, Mr. Googe, – Mr. Hewitt, der Kammerdiener Seiner Gnaden, – und Mademoiselle.«
»Und die Haushälterin?« fragte der Herzog, dessen Gedrücktheit zu weichen begann.
»Mrs. Hempstead geht nachts niemals aus; sie hat Mademoiselle ihren Schlüssel gegeben.«
»Und wer ist Mademoiselle?« wollte der Arzt wissen.
»Die Zofe Ihrer Gnaden.«
»Ach so! Ja! Natürlich!« Der Arzt wandte sich zum Herzog. »Ich möchte Sie bitten, nach diesen drei Schlüsselinhabern zu schicken und sie auffordern zu lassen, gleichzeitig den Schlüssel hier vorzuweisen. Es ist nicht nötig, ihnen etwas zu erzählen, außer wenn Sie die Maßnahme mit einem Diebstahl begründen möchten.«
Der Herzog von Altringham stimmte mit anscheinender Freudigkeit zu.
»Gehen Sie, Burrowes, und holen Sie die Leute.«
»Entschuldigen Sie, Herr Herzog, aber ich halte es für richtiger, wenn Burrowes hier im Zimmer bleibt. Ich möchte nämlich alle vier zusammen sehen.«
Der Verwalter war anscheinend mit diesem Zusatz zu dem Befehl des Herzogs nicht sehr zufrieden; dieser hingegen erklärte sich damit einverstanden.
»Sie haben recht, Doktor! Ich sehe, wo Sie hinaus wollen! Klingeln Sie, Burrowes!«
Der Lakai, der den Ruf beantwortete, empfing den Befehl des Herzogs mit der Gleichmütigkeit, die seiner Kaste angeboren scheint.
»Sagen Sie dem Kellermeister, meinem Diener und der Zofe Ihrer Gnaden, daß sie hier sofort erscheinen möchten!«
Der erste, der dem Befehl nachkam, war der Kellermeister, ein dicker, apoplektischer Herr, der offenbar keine Mühe gescheut hatte, um seine Kenntnisse in Weinsorten zu vermehren. Der Kammerdiener des Herzogs folgte als nächster, noch verschmitzter als sonst aussehend und Tarleton einen Blick zuwerfend, als hätte er ihn eben über einer bösen Sache ertappt. Als letzte tänzelte Mademoiselle Prégut in das Zimmer.
Tarleton hatte in seinen langjährigen Erfahrungen viele Zofen kennengelernt, aber niemals einen solchen Typ. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, einen Dienstboten vor sich zu sehen. Eine typische Pariserin, wie man sie sonst nur in Paris selbst antrifft, ein Weib, von dem man stets den Eindruck mit sich fortnimmt, daß es immer bereit sei, jedes Anerbieten in Berücksichtigung zu ziehen. Ihre Kleidung ließ Lady Rosa ihr gegenüber beinahe liederlich erscheinen, und ihre schon von Natur aus angenehmen Züge erschienen durch freigebige Anwendung von kosmetischen Hilfsmitteln nur noch anziehender.
Der Herzog von Altringham empfing die drei mit einer Rede, die das beste Zeichen dafür war, daß er sich in seiner Rolle wohlzufühlen begann.
»Ich habe nach Euch geschickt, weil man mir gemeldet hat, daß Ihr einen Schlüssel zur Hintertür habt, und weil einer dieser Schlüssel fehlt. Das bedeutet einen recht ernstlichen Verlust, denn wir haben Juwelen im Haus, die für einen Einbrecher einen großen Anreiz bilden würden. Ich muß Euch deshalb auffordern, die Schlüssel vorzuzeigen, die sich in Eurem Besitz befinden müssen.«
Der Arzt betrachtete in stiller Erwartung die Mienen der drei vor ihm stehenden Personen.
Das Verlangen des Herzogs löste bei jedem der drei eine verschiedene Wirkung aus.
Der apoplektische Kellermeister ließ einen erschrockenen Seufzer hören, und seine Miene nahm die Starre eines fest gefaßten Entschlusses an. Der schmiegsame Kammerdiener lächelte liebenswürdig und griff augenblicklich in die Tasche. Die Zofe der Herzogin zeigte eine leichte Verwirrung nach einem überraschten Augenschlag, zog aber dann, als dächte sie intensiv nach, die Augenbrauen zusammen.
Der Kammerdiener, der erste, der dem Befehl nachkam, zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche, der genau demjenigen glich, den Dr. Tarleton bei sich führte.
»Hier ist mein Schlüssel, Euer Gnaden.«
Der Herzog winkte ab.
»Danke, Hewitt, das genügt. Ich wollte mich nur überzeugen, daß Sie ihn noch haben. Es ist gut. Sie brauchen nicht länger zu warten.«
Hewitt hätte es offenbar vorgezogen, doch zu warten. Langsam ging er rückwärts der Tür zu und verschwand.
»Nun, Googe!?«
Der Kellermeister nahm seinen Mut zusammen.
»Entschuldigen Euer Gnaden, aber seit zweiundzwanzig Jahren – so viel wird es zu Weihnachten – bin ich bei Euer Gnaden im Dienst, und es ist das erste Mal, daß man mich merken läßt, man könnte sich nicht auf mich verlassen.«
Der Herzog war aufrichtig besorgt.
»Sie dürfen das nicht so auffassen, Googe. Niemand, auch ich nicht, hegt gegen Sie einen Verdacht. Einer dieser Schlüssel ist verloren gegangen, und ich wollte mich nur vergewissern, ob es nicht vielleicht der Ihrige sein könnte.«
»Wenn sich Euer Gnaden mit einer einfachen Frage begnügen, dann will ich sie beantworten,« war die unnachgiebige Antwort, »aber durchsuchen lasse ich mich nicht und habe es auch niemals gestattet – entschuldigen Euer Gnaden,« zornig und finster blickte er den Spezialisten an, als wollte er ihm anheimstellen, ruhig die Handschellen herauszunehmen und ihn zu fesseln.
»Soweit ich in Frage komme, bin ich vollkommen bereit, das Wort Mr. Googes anzuerkennen,« war die beruhigende Antwort Dr. Tarletons.
Aber jetzt setzte der Herzog seinen Willen durch.
»Ich danke Ihnen, Doktor, aber das ist nunmehr meine eigene Angelegenheit. Wenn ein alter Diener, der seit zwanzig Jahren bei mir ist, und dem ich immer vertraut habe, sich weigert, mir einen kleinen Gefallen zu tun, dann wird es höchste Zeit, daß ich mich von ihm trenne. Burrowes, veranlassen Sie, bitte, meine Bank, Mr. Googe eine angemessene Pension – vielleicht einhundertfünfzig Pfund pro Jahr – regelmäßig auszuzahlen.«
Der dicke Kellermeister brach innerlich zusammen und fing zu wimmern an.
»E-u-e-r G-n-a-d-e-n! I-c-h- -i-c-h weiß nicht, was ich getan habe – ich dachte, der Herr sei ein Detektiv!«
Er suchte bereits mit zitternden Fingern in einer anscheinend recht geräumigen Tasche seines Rockes, aus der er gleich darauf eine Anzahl Schlüssel hervorbrachte, meistens wohl zu den von ihm verwalteten Kellern gehörend. Vor innerer Bewegung zitternd, suchte er den verlangten Schlüssel heraus und händigte ihn dem Verwalter ein.
»Nehmen Sie ihn, Mr. Burrowes, und lassen Sie ihn mir niemals wieder vor Augen kommen! Nachdem ich die Güte Seiner Gnaden so mißbraucht habe, würde ich mich schämen, wenn ich den Schlüssel jemals wieder verwenden würde, wirklich, schämen müßte ich mich.«
»Sorgen Sie sich deshalb nicht, Googe,« rief ihm sein Herr beruhigend zu, als der Dicke der Tür zuhinkte. »Trinken Sie ein Gläschen von dem berühmten ..92er Portwein, den Sie für mich in Cheltenham gekauft haben.«
Während der Kellermeister sich schluchzend durch die Tür entfernte, wandte sich der Herzog der Französin zu, die den Auftritt mit einem verächtlichen Lächeln beobachtet hatte.
»Und jetzt möchte ich Sie ersuchen; Prégut.«
Mademoiselle schien sich nichts besseres zu wünschen, als der Forderung Seiner Gnaden nachzukommen.
»Ich denke gerade darüber nach, wo ich den Schlüssel zuletzt gebraucht habe,« sagte sie mit ausgesprochen fremdem Akzent. »Ich habe ihn lange nicht benutzt, nein. Zweifellos kann ich ihn in meinem Bureau finden, wenn Euer Gnaden mir erlauben, ihn suchen zu gehen.«
Der Herzog wandte sich fragend dem Arzt zu, der mit einem Nicken antwortete.
»Ich glaube nicht an die mögliche Gefahr, daß sie sich den Schlüssel vom Kammerdiener borgen wird,« bemerkte er, als die Zofe so graziös und selbstbewußt aus dem Zimmer getänzelt war, als ob sie keinerlei Zweifel hegte, den Schlüssel zu finden.
»Sie können sich darauf verlassen,« fuhr er weiter fort, »daß sie ihre Ausrede bereitliegen hat. Sie wird uns wahrscheinlich erzählen, daß sie den Schlüssel in ein Fach gelegt hätte, und daß er daraus, sie weiß nicht wann und wie – verschwunden sei. Sie gehört zu jener Sorte von Frauen, die schon im voraus ahnen, daß aus einer Sache Ungelegenheiten entstehen würden und hat sich infolgedessen schon darauf vorbereitet.«
Der Herzog schien sich nicht im klaren zu sein, wie er diese Bemerkung aufzufassen hätte, denn er wandte sich seinem schweigenden Diener zu.
»Sie werden doch hoffentlich mit uns den Lunch einnehmen, nicht wahr, Doktor? Mr. Burrowes, bitte, sorgen Sie dafür, daß für Herrn Doktor gedeckt wird.«
Burrowes benutzte diesen Wink, um sich zurückzuziehen, und sein Herr wandte sich wieder vertraulich dem Spezialisten zu.
»Sie müssen offen zu mir sein, Doktor. Sie glauben also, daß der Ermordete den Schlüssel von der Prégut bekommen haben könnte?«
»Daß er ihren Schlüssel im Besitz hatte, darüber besteht wohl kein Zweifel. Das heißt, wenn Sie selbst noch Ihren eigenen haben.«
Der Herzog errötete tief.
»Aber?!! Herr!«
»Ich denke ja auch nur daran, daß er Ihnen selbst gestohlen worden sein könnte, Herzog,« erwiderte Tarleton in sanftem Ton.
Seine Gnaden zog langsam einen Schlüsselbund aus der Tasche und wählte den betreffenden Schlüssel aus.
»Sind Sie nun zufrieden, Doktor?«
»Besten Dank, Herzog. Der Fall liegt nun, soweit der Schlüssel in Frage kommt, klar.«
»Aber sicherlich hängt noch mehr damit zusammen, wenn Ihre Vermutung, daß der Tote hierherkam, um ein Weib zu besuchen, richtig ist, wie? Ich habe gleich an die Prégut gedacht, als Sie mir von der Anwesenheit dieses Mannes in meinem Hause erzählten. Sie haben wohl selbst gesehen, daß sie zu den Frauen gehört, die imstande sind, einen Mann anzuziehen. Wie mir scheint, spitzt sich der ganze Fall auf eine Intrigue zu.«
»Die durch einen Mord beendet worden ist,« rief ihm der Arzt ins Gedächtnis zurück.
Die Miene des Herzogs wurde wieder düster.
»Es könnte ja auch sein, daß einer der männlichen Angestellten in die Französin verliebt ist,« deutete der Herzog an, »zum Beispiel der Neger? Steht nicht anscheinend alles in Verbindung? Wahrscheinlich ist er doch der einzige im ganzen Haus, der die tödliche Wirkung der Pfeile kannte. Das weist doch alles auf ihn hin!«
Die Stimme des Sprechers war beinahe flehend geworden, und auch seine Miene drückte eine stumme Bitte aus. Tarleton dachte angestrengt nach. Gewisse Möglichkeiten hatten sich vor ihm aufgebaut, die er aber noch nicht Seiner Gnaden anvertrauen wollte, ganz besonders, nachdem der Herzog bereits einmal versucht hatte, ihn irre zu führen.
Endlich begann er wieder.
»Ich hoffe aufrichtig, daß Ihre Theorie richtig sein möge, aber ich muß Ihnen doch eine Einwendung machen, die sicherlich auch bei einer Totenschau erhoben werden würde.«
Der Herzog murmelte etwas zwischen den Zähnen, das wie ein Fluch klang.
»Es ist einerseits schwer glaublich, daß ein Mann in der Stellung Montacutes – ein Schauspieler, dem sich doch sicherlich viele derartige Möglichkeiten bieten – sich soweit herablassen sollte, sich Nacht um Nacht in ein Haus einzuschmuggeln, nur um ein Weib wie Prégut heimlich zu treffen. Er konnte ihr eine Wohnung mieten und sie in vollkommener Sicherheit besuchen. Andererseits ist es wiederum leicht zu verstehen, wenn er trachtet, seine ihm untersagten offiziellen Besuche bei Lady Rosa verstohlen fortzusetzen. Das Haus war ihm durch die Herzogin verboten worden, wie Sie ja wissen werden – und sie waren vielleicht zu ängstlich, sich anderweit zu treffen, in der Befürchtung, daß es Ihnen zu Ohren kommen könnte. Wenn ich dies ausspreche, so möchte ich betonen, daß ich damit über Ihr Fräulein Tochter nichts Schlimmes sagen will. Ein Mädchen, die sich über ihre Taten noch nicht klar ist, kann vieles in Ordnung finden, was sie tut, um ihrer Stiefmutter einen Streich zu spielen, ohne sich etwas Böses dabei zu denken.«
Verzweifelt hatte der Herzog, während er diesen Andeutungen zuhörte, sein Gesicht in die Hände vergraben. Wirklich betrübt schaute er auf.
»Keiner wird gutes glauben wollen,« stöhnte er, »und Sie, Doktor, wissen ja, wie die Welt urteilen wird, wenn so etwas bekannt wird. Aber wie verhält es sich dann mit dem Schlüssel?«
»Mademoiselle Prégut sieht mir ganz danach aus, als ob sie sich leicht bestechen ließe.«
»Ah! Aber Sie vergessen doch, daß meine Tochter verlobt ist. Wollen Sie sagen, daß sie weiter die Besuche eines Mannes empfing, für den sie allem Anschein nach nichts mehr übrig hatte?«
»Freiwillig sicherlich nicht, das möchte ich fast behaupten. Und das bringt uns der zweiten Möglichkeit näher. Nehmen Sie an, daß Montacute, sich auf frühere Beziehungen stützend, Lady Rosa gezwungen hat, ihn zu empfangen – also als Erpresser aufgetreten ist. Wäre das nicht genügend Grund für jemand, der Ihre Tochter liebt, Montacute beiseite zu schaffen?«
Ein noch schwererer Seufzer entrang sich dem Herzog. Eine drückende Stille folgte, und der Spezialist war nicht böse darüber, als der Lunchgong ertönte.
Sein Gastgeber führte ihn ins Speisezimmer, in dem sich bald darauf auch die jüngeren Familienmitglieder einfanden. Der Herzog übernahm die förmliche Vorstellung des Arztes bei seinen Töchtern. Lady Agatha, bereits für ihren Ausgang in Schwesterntracht gekleidet, nahm die Vorstellung mit einer leichten Verbeugung entgegen und ließ sich, außer einem leichten Lächeln, das Mitleid oder Verachtung ausdrücken konnte, nicht merken, daß sie den Arzt bereits kennengelernt hatte. Das Lächeln mochte Mitleid für seine Blindheit in der Mordaffäre oder aber Verachtung über den vorgeschobenen Beruf des Arztes ausdrücken. Lady Rosa, die am Arm ihres Verlobten eingetreten war, konnte man die höchste Überraschung darüber anmerken, nunmehr den Mann, der sie in Ihrem Zimmer befragt hatte, als Gast des Hauses wiederzusehen. Einzig und allein der Hauptmann zeigte die Sorge, die ihn bedrückte.
Immer noch fehlte die sechste Person, für die gedeckt war, und endlich begab sich der Herzog zu seinem Stuhl.
»Man benachrichtige Ihre Gnaden, daß ich Platz genommen habe,« befahl er.
Der Kellermeister, der seine Würde wiedergefunden zu haben schien, gab den Befehl an einen Lakai weiter, und die Mahlzeit begann.
Für Tarleton hatte man rechts von der Herzogin, deren Stuhl bisher leer geblieben war, gedeckt. Links vom Stuhl der Herzogin saß Lady Rosa, gegenüber der Hauptmann. Die unerwartete Abwesenheit der Herzogin gab der Tischrunde etwas Bedrücktes, und der Herzog war offenbar sehr erzürnt.
Seine Laune wurde nicht besser, als der Lakai mit seiner Botschaft von der Herzogin zurückkam:
»Ihre Gnaden hat ein Tablett in ihr Zimmer befohlen, da sie Kopfschmerzen habe.«
Gegen seinen Willen konnte es der Herzog nicht unterlassen, einen Blick auf den Arzt zu werfen, um zu sehen, wie dieser die Meldung aufnahm. Aber Tarleton war zu sehr beschäftigt, die Miene Lady Agathas zu beobachten. Sie war die einzige Person, die etwas Sicheres über das Verbrechen wußte, und die sich auch nicht die Mühe gegeben hatte, ihn in die Irre zu führen; er hatte das sichere Gefühl, daß er einen großen Schritt zur Enthüllung des Geheimnisses getan haben würde, wenn es ihm gelänge, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Die Botschaft, die der Vater ihrer Stiefmutter hatte senden lassen, hatte die Augen Lady Agathas erwartungsvoll aufleuchten lassen, und als die Antwort der Herzogin zurückkam, machte sich eine gewisse Befriedigung darin bemerkbar, wie bei einem Propheten, dessen Weissagung in Erfüllung gegangen war.
Mittlerweile blieb am Tisch die Atmosphäre gedrückt und schwer. Vier der anwesenden Personen wußten, daß einige Meter von ihnen entfernt, vor kaum zwölf Stunden, ein Verbrechen begangen worden war – und die fünfte, wenn sie wirklich nichts ahnte, mußte aus dem Benehmen der anderen bald begreifen, daß etwas nicht in Ordnung sei.
In der schlimmsten Lage befand sich wohl Hauptmann Theobald. Jedesmal wenn er dachte, daß ihn der Arzt nicht beobachtete, wandten sich seine Augen in schlecht verhehlter Sorge seiner Verlobten zu, aber sobald er die Augen des Arztes auf sich ruhen fühlte, schlug er seine Blicke auf den Teller nieder, als hegte er die Befürchtung, seine Sorgen könnten mißverstanden werden.
Endlich machte Lady Rosa über diese Situation eine Bemerkung.
»Was ist denn eigentlich los, Ernest?« fragte sie ihren Bräutigam schelmisch. »Hat dir etwa Dr. Tarleton erzählt, daß ich den Keim einer gefährlichen Krankheit in mir trage?«
Ihr Vater betrachtete sie verstört und warf seinem Schwiegersohn einen drohenden Blick zu. Hauptmann Theobald errötete und ließ sein Messer auf den Fußboden fallen.
»Ich bin nicht ganz wohl heute morgen, glaube ich,« murmelte er, während ein Lakai das Messer aufhob, und ein anderer vortrat, um ihm ein neues zu reichen. »Ich glaube, ich werde ein bißchen Kognak zu mir nehmen, Googe!«
Der Kellermeister ging zum Büfett und füllte dort mit liebevoller Sorgfalt ein Gläschen.
Wieder blickte der Herzog fragend auf den Arzt, aber dieser schien sich um nichts, was am Tisch vor sich ging, zu kümmern. Er hatte sein Eßbesteck niedergelegt und beschäftigte sich damit, seine Uhr an einem schwarzen Seidenband langsam hin und her pendeln zu lassen, als gäbe es nichts in der ganzen Welt, was ihn mehr interessierte.
Das Ende der Mahlzeit bedeutete für alle eine wirkliche Erlösung. Als man sich erhoben hatte, ging der Offizier auf seine Braut zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie verließen zusammen den Speisesaal, gefolgt von Lady Agatha, die denselben traurigen Blick hatte, den Tarleton schon einmal vorher bei ihr bemerkt hatte.
Der Spezialist begleitete den Herzog in die Bibliothek, wohin man die Zofe Ihrer Gnaden bestellt hatte.
Mademoiselle Prégut handelte, als sie zum zweiten Male aufgefordert wurde, den Schlüssel zu zeigen, genau so, wie es der Arzt prophezeit hatte. Sie war liebenswürdig – ja sogar zu Tränen bereit. Sie hatte den Schlüssel wer weiß wie lange nicht benutzt – oh, ein Menschenalter schon nicht mehr. Sie hatte ihn weggelegt – oh, so sorgfältig – in ein Fach ihres Bureaus. Nun hatte sie gesucht – wirklich gründlich gesucht – und hatte ihn trotzdem nicht gefunden!! Sicherlich hatte einer der unteren Dienstboten ihre Sachen mit einer verabscheuungswürdigen Neugier durchwühlt und den Schlüssel mit sich genommen.
Diese ganze Erzählung wurde noch glaubhafter durch die offensichtliche Empörung Mademoiselles. Sie war erstaunt, erschrocken, daß ihr so etwas passieren mußte. Immer hatte sie mit ehrlichen Menschen zu tun gehabt. Verschlagenheit war ihr ein Greuel, den sie bei einem Menschen überhaupt nicht fassen konnte. Es machte sie trostlos; heulen hätte sie können. Wenn es nicht ihre Zuneigung zu Ihrer Gnaden verbieten möchte, so würde sie noch heute um Erlaubnis nachgesucht haben, das Haus überhaupt zu verlassen!
Und sie weinte tatsächlich, reichlich, aber mit Grazie und unter Berücksichtigung der in ihrem Gesicht so sorgfältig verteilten kosmetischen Mittel, die durch Feuchtigkeit leiden konnten!
»Na, Doktor!?« erkundigte sich Seine Gnaden, nachdem sich die Französin aus dem Zimmer geweint hatte.
Der Sachverständige war schon dabei, sich mit seiner Uhr zu beraten.
»Ich befürchte, es wird sich nötig erweisen, Ihrer Gnaden bezüglich dieser Frau einige Fragen zu stellen,« erwiderte er kurz.
Der Herzog runzelte die Stirn und richtete sich stolz auf.
»Herr Doktor, ich muß Sie bitten, Ihre Untersuchungen in gewissen Grenzen zu halten, denn ich kann nicht erlauben, daß Sie Ihre Gnaden auch noch mit dieser Angelegenheit behelligen wollen. Ich wünsche nicht, daß sie von der unglücklichen Sache erfährt, wenn es irgendwie zu vermeiden ist.«
»Aber Euer Gnaden können diese Person doch sicherlich nicht als passende Gesellschaft für die Herzogin betrachten, solange die Verbindung der Mademoiselle mit diesem Verbrechen nicht aufgeklärt ist. Sind Sie denn über ihr Vorleben unterrichtet?«
»Ich begreife nicht, worauf Sie hinzielen, Doktor. Vor dem Lunch hatten Sie angedeutet, daß die Prégut bestochen worden wäre, den Schlüssel herzugeben – das wäre doch sicherlich kein so furchtbares Verbrechen, wenn sie über den Zweck des Schlüssels im unklaren gehalten wurde, nicht wahr? Sicherlich hat die Herzogin sich genau über sie erkundigt, ehe sie Mademoiselle engagiert hat und die besten Auskünfte erhalten, darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich glaube aber auch nicht, daß es ein großes Verbrechen wäre, wenn ich versuchte, Ihrer Gnaden in dieser Beziehung einige Fragen vorzulegen,« bestand der Sachverständige beharrlich auf seiner Meinung. »Auch eine andere Frage bedarf noch der Aufklärung, nämlich, warum Montacute Ihr Haus nicht mehr betreten durfte.«
»Diese Frage kann ich Ihnen beantworten,« erwiderte der Herzog schnell. »Meine Frau sah mit dem Instinkt des Weibes eher als ich blinder Narr, daß Montacute mit der Absicht umging, Lady Rosa zu heiraten.«
»Wäre das ein großes Unglück gewesen?«
»Es war ein unverschämter Dünkel. Ein Schauspieler – ein Abenteurer, dessen Name wahrscheinlich nur fälschlicherweise angenommen war, sollte in das Haus der Fitz Charles hineinheiraten!«
»Ich muß mich entschuldigen, aber so viel ich weiß, haben schon oft Herzöge königlichen Geschlechts Schauspielerinnen geheiratet,« sagte Tarleton anzüglich.
Er war erschrocken, als er die Wut des Herzogs sah.
»Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, auf Ihre Gnaden gemünzt, Herr?«
»Keinesfalls, Herzog. Ich habe nicht die geringste Ahnung davon, daß Ihre Gnaden jemals auf der Bühne aufgetreten ist.«
Der Herzog sprach nun in milderem Ton.
»Sie hat einer Filmgesellschaft angehört, aber nur kurze Zeit. Tatsächlich habe ich sie durch einen Film kennengelernt, in dem sie spielte, und den ich auf der Leinwand in einer Vorstellung sah.«
Der Sachverständige starrte ihn verwundert an, und blitzschnell war er sich über seine weiteren Schritte klar geworden. Wenn der Mann wahnsinnig genug gewesen war, sich im Alter von fünfzig Jahren in ein Gesicht zu verlieben, das er nur auf der Leinwand gesehen hatte, dann war es zu gefährlich, ihn zum Vertrauten seiner Pläne zu machen. Ein verliebter und vernarrter Ehemann ist nicht imstande, seiner Frau etwas zu verheimlichen, was sie zu wissen begehrt. Tarleton war sich vollkommen klar, daß er erst einmal die Herzogin sprechen mußte, ehe er einen Schritt weiterging. Schon erschien ihm die bisher unbekannte Herzogin als das treibende Element in diesem Drama. Sie war es, die der Stieftochter verboten hatte, sich von dem Ermordeten den Hof machen zu lassen! Ihr Vetter war es, der den Toten in der Liebe des jungen Mädchens abgelöst hatte! Von ihrem Vetter hatte der Mörder die Waffe erhalten, und von der Zofe war dem Ermordeten die Möglichkeit geboten worden, das Haus unbeobachtet zu betreten. Und endlich war sie es, die sofort, als sie erfuhr, daß man ihre Zofe über den Schlüssel verhören wollte, sich geweigert hatte, ihre Gemächer zu verlassen, um nicht dem Beamten gegenübertreten zu müssen.
Tarleton blickte nun im Ernst auf seine Uhr und erhob sich.
»Also gut!« sagte er abschließend. »Ich glaube nicht, daß mir vor der Totenschau noch etwas zu tun übrig bleibt.«
Die Miene des Herzogs verfinsterte sich wieder.
»Sie wollen doch nicht etwa die Polizei benachrichtigen?« erkundigte er sich.
Der Sachverständige zuckte die Achseln.
»Ich kann ja schließlich noch vierundzwanzig Stunden warten, wenn Sie darauf bestehen, aber länger keinesfalls.«
»Aber – aber können Sie denn nicht einen Geheimbericht an den Minister machen?«
»Dagegen habe ich, wenn Sie es wünschen, nichts einzuwenden, befürchte aber, daß dieser Bericht keinerlei Zweck haben wird.«
»Ich würde trotzdem bitten, es zu tun, Doktor.«
Der Herzog griff suchend nach seiner Brieftasche. »Es dürfte wohl noch zu früh sein, mich nach Ihrem Honorar zu erkundigen?«
Der Sachverständige wich zurück und schüttelte den Kopf.
»Viel zu früh – danke sehr. Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich in Ihrem Auftrag oder in dem der Justiz tätig sein werde.«
Dr. Tarleton verbeugte sich und verließ das Zimmer, während sein adliger Mandant ihm sprachlos nachblickte.
Der Arzt hatte die Hoffnung aufgegeben, die Wahrheit aus dem Herzog heraus zu bekommen, und sich deshalb vorgenommen, in einer anderen Richtung weiter zu arbeiten.