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An denselben Abend, an welchem Rider die Runde durch die Trödlerläden machte und den Ursprung der Pistole entdeckte, mittelst deren der Tod Melville Palmer's herbeigeführt wurde, schlich sich Tibald Gibbs zu seiner Schwester Rachel.
Der Officediener hatte bemerkt, daß er überwacht wurde, und er war dadurch aufs Höchste erschreckt, denn er nahm an, daß man dem wahren Zusammenhänge der Dinge auf der Spur sei. Bei Statton und Kent hatte er sich vorläufig nicht wieder blicken lassen, da auch diese davon abgeraten hatten.
Tibald traf seine Schwester unter dem Fenster an der Rückseite des Hauses in der Wall Street.
»Was ist los mit Dir, Tib? Du siehst geängstigt und besorgt aus,« sprach Rachel.
»Das letztere ist auch der Fall,« lautete die Antwort; »es sind mir Tag und Nacht Detektivs auf dem Halse.
»Aber dieselben können Dir doch nichts nachweisen?« fragte die Schwester lauernd.
»Nein; aber trotzdem kann ich der Ermordung Melville Palmer's angeklagt werden.«
»Dies sollte Dich nicht so sehr beunruhigen; Du hast doch den alten Mann nicht umgebracht?«
»Allerdings that ich es nicht; aber es liegen Nebenumstände vor, die sehr stark gegen mich sprechen und mir den Hals brechen können.«
»Ah, Du hast Geheimnisse vor mir, mein theurer Bruder!« rief Rachel spöttisch. »Was aber das Gehängtwerden betrifft, so habe ich weiter keine Sorge um Dich, denn wenn es zu einer Anklage gegen Dich kommen sollte, bin ich Dich zu retten imstande, indem ich die wirklich schuldige Person nenne; ich weiß es, wer den alten Kassirer ermordet hat!« –
Rider's Kollege, welcher Tibald's Ueberwachung übernommen hatte, war diesem nachgeschlichen und hatte die ganze Unterredung der beiden Geschwister mit angehört, und er versäumte nicht, dieselbe Franklin zu berichten.
Rider zweifelte nach dem Gehörten keinen Augenblick, daß Rachel Gibbs im Besitze von Beweisen war, die sich auf eine andere Person als David Hicks bezogen. Um dieselbe zum Geständnis zu bringen, beschloß er, den Officediener zu verhaften und gegen ihn die Anklage, die Ermordung Melville Palmer's bewirkt zu haben, zu erheben. Es war seine Absicht, Tibald durch Umstandsbeweise in die Enge zu treiben und ihn so sehr in Angst vor dem Galgen zu versetzen, daß er Rachel veranlassen würde, ihn durch ein offenes Geständnis zu retten.
Während Rider mit einer Anzahl von Gehilfen an der Ermittelung des Mörders arbeitete, hatten die Groß-Geschworenen eine Sitzung abgehalten und gegen David Hicks die förmliche Anklage auf Mord erhoben.
Der junge Mann hatte seine Einkerkerung standhaft ertragen, gestärkt und gehoben durch die Zuversicht und Treue seiner Braut, die ihn fast täglich im Gefängnis besuchte.
David's Advokat, Mr. Elwyn, einer der besten Kriminal-Advokaten New-Yorks, stellte seinem Klienten die unbedingte Notwendigkeit einer Erklärung seiner nächtlichen Fahrt nach Newburg vor, aber der Letztere verblieb bei seiner Weigerung.
»Ich will die Beweggründe Ihrer Reise und Ihre Weigerung, dieselben klarzulegen, nicht untersuchen,« sagte Elwyn einige Tage vor dem Beginn des Prozesses; »aber unter diesen Umständen müssen wir eine andere glaubwürdige Erklärung finden, oder Sie sind verloren;« setzte er hinzu.
»Was? Ich sollte meine Zuflucht zu einer Lüge nehmen?« rief Hicks abwehrend. »Dies werde ich nimmermehr thun!«
»So sagen Sie die Wahrheit!«
»Dies kann ich noch weniger.«
»Gut! Dann hören Sie, wie ich Sie zu verteidigen gedenke, und achten Sie auf die Geschichte, welche sie den Geschworenen erzählen müssen,« sagte Mr. Elwyn in sehr ernstem Tone. »Sie haben in Newburg eine reiche Tante, deren voraussichtlicher Erbe Sie sind; ein Freund hatte Ihnen mitgeteilt, daß Mr. Statton am nächsten Morgen hinüberfahren würde, um der alten Dame mitzuteilen, Sie wären durch Aktien-Spekulationen sein Schuldner bis zum Betrage von zehntausend Dollars geworden. Sie hatten jedoch nur einen Check über tausend Dollars ausgestellt; derselbe mußte demnach durch Vorsetzung des Wortes ›Zehn‹ im geschriebenen Texte und Anhängen einer Null in der Zifferreihe auf zehntausend Dollars gefälscht worden sein. Statton und Kent beabsichtigten also, Ihre Tante zu betrügen und Sie gleich bei derselben in den Ruf eines leichtsinnigen Börsenspielers zu bringen. Und dies zu vermeiden, wollten Sie Ihre Tante sehen, ehe Statton mit dem ersten Zuge in Newburg eintreffen konnte, und Sie reisten schon kurz nach Mitternacht dorthin ab; Sie weigerten sich aber, dies bei der Leichenschau zu sagen, weil Sie dadurch einen jungen Clerk, Ihren Freund, der Ihnen von der Absicht seines Prinzipals Mitteilung gemacht hatte, in die Gefahr gebracht hätten, sofort entlassen zu werden. Dieser Clerk war Giles Hamlin, auf dessen Verdienst eine betagte Mutter und eine kranke Schwester angewiesen sind; der Vertrauensbruch von Ihrer Seite wäre somit für diese drei Personen verhängnisvoll gewesen.«
»Woher wissen Sie aber, daß Giles Hamlin, der mir in der That eine derartige Mitteilung gemacht hat, mich auf diese Weise warnte?« unterbrach Hicks den Advokaten.
»Der junge Mann hat mir dies selbst freiwillig erzählt und mir anheimgestellt, ihn zur Bekräftigung Ihrer Aussage auf den Zeugenstand zu rufen.«
»Aber der Zweck meiner Reise war dennoch ein anderer,« versetzte David, »und ich würde auch jetzt nicht meinen Freund in Gefahr bringen.«
»Eine derartige Rücksicht ist nunmehr überflüssig,« entgegnete Elwyn: »denn Hamlin steht seit einigen Tagen in meinen Diensten und hat ein besseres Einkommen als früher. Im Uebrigen aber müssen Sie Ihre lächerlichen Bedenken beiseite setzen, wenn es sich um ihren Kopf handelt.«
»Aber ich kann keine wissentliche Lüge unter Eid aussagen!« rief Hicks in entschiedenem Tone; »meine Unschuld muß durch ehrliche Mittel festgestellt werden.«
In diesem Moment öffnete der Schließer die Zellenthür, und Mr. Dwight, sowie dessen Tochter traten herein.
Das junge Mädchen hatte vor der Thür auf den gerade anderweit beschäftigten Schließer warten müssen und die Unterredung des Advokaten mit Hicks mit angehört. So erfreut sie auch von dem ihr prächtig dünkenden Plane Elwyn's war, so bestürzt wurde sie, als ihr Bräutigam sich weigerte, von dieser so einfachen und glaubwürdigen Erklärung Gebrauch zu machen.
David überrascht, Magdalen schon am frühen Morgen bei sich zu sehen, während sie sonst erst im Laufe des Nachmittags kam. »Du hier, Geliebte?« rief er, indem er ihre Hände erfaßte und seine Augen freudig aufleuchteten.
»Ja, mein Teuerster, und ich habe an der Thür gehört, was hier verhandelt wurde,« antwortete Miß Dwight. »Wenn Du stirbst, wirst Du damit auch mich in's Grab bringen! Willst Du mir das Herz brechen? Willst Du mich töten? Du mußt die Geschichte erzählen, wie sie Mr. Elwyn so trefflich für Dich ausgedacht hat.«
»Aber, Magdalen, man wird mir ansehen, daß ich lüge; ich kann es nicht.«
»Wenn man den festen Willen hat, so kann man Alles! Es gilt, ein unschuldiges Menschenleben – nein zwei Menschenleben, auch das meinige, zu retten! unter solchen Umständen halte ich jedes Mittel für erlaubt. O, David, ich beschwöre Dich, so zu handeln, wie es Dein Verteidiger wünscht!«
Und in Thränen ausbrechend, sank das junge Mädchen zu seinen Füßen nieder. »O, David, Du liebst mich nicht, sonst würdest Du um meinetwillen Alles thun, wie ich es Deinetwegen thun würde. Rette Dich und damit uns Beide!«
Hicks war durch die Thränen und den Jammer des herrlichen Geschöpfes, für das er sich gern selbst geopfert hätte, überwunden: indem er sich zu ihr niederbeugte, zog er sie an seine Brust und sagte: »Geliebte, ich werde Deinem Rate folgen; ich will Alles thun, was Du verlangst, nur trockne Deine Augen.«
Mr. Elwyn war erfreut, daß sein Klient endlich Vernunft angenommen hatte, wie er sich ausdrückte. »Nun kann ich wenigstens mit Lust und Liebe zur Sache und einiger Aussicht auf Erfolg ans Werk gehen. Gestehen muß ich aber, lieber Hicks, daß die öffentliche Meinung stark gegen Sie eingenommen ist und kaum mehr als eine Nichteinigung der Jury zu erreichen sein wird.«
Nach diesen Worten verließ er die Zelle.
Kurz darauf schieden auch Magdalen und ihr Vater, welche nur die Kenntnis, daß zwischen Mr. Elwyn und Hicks eine Berathung stattfinden sollte, so zeitig herbeigeführt hatte, durch die neugefundene Theorie über David's mitternächtliche Fahrt nach Newburg wenigstens etwas erleichtert, von dem jungen Manne.
Am Abend desselben Tages begab sich Rider nach dem Boardinghaus, in dem Tibald Gibbs wohnte, um denselben zu verhaften. Sein Gehilfe war schon einige Zeit auf der Lauer gewesen und berichtete ihm, daß der Officediener kurz vorher in das Haus eingetreten und nicht wieder zurückgekehrt sei.
Nun trat auch Franklin in den offenen Hausflur, wo er von der Wirthin erfuhr, daß Gibbs in seinem Zimmer sei, und da er die Räumlichkeiten von seinem letzten Besuch her kannte, stieg er unverweilt die Treppe hinauf. Das Zimmer war verschlossen, und Niemand antwortete auf sein Rufen; als er aber dann die Thür gewaltsam öffnete, fand er Niemanden in dem Raume.
»Er ist mir entwischt!« rief der Detektiv ergrimmt.
Bald darauf hörte er von einem hinzukommenden Zimmermädchen, daß Tibald über eine Hintertreppe in den Hofraum gegangen sei und sich von da eiligst durch einen Seitenausgang nach der angrenzenden Straße begeben habe.
Rider beschäftigte sich nunmehr mit verschiedenen Kollegen mit der Auffindung des Dwight'schen Officedieners, der an seinem hinkenden Gange leicht zu erkennen war; auch dessen Schwester Rachel wurde scharf überwacht und sonstige Vorkehrungen zu Tibald's Ermittelung getroffen. Aber trotz aller Bemühungen blieb derselbe verschwunden.
Inzwischen hatte der Prozeß gegen David Hicks begonnen. Derselbe erregte das größte Aufsehen, und allgemein hegte man nur sehr geringe Hoffnung auf die Freisprechung des Angeklagten; allseitig erwog man die Wahrscheinlichkeit seiner Verurtheilung, denn das Belastungsmaterial, welches die Distriktsanwaltschaft gegen ihn gesammelt, war erdrückend.
Die Erklärung über den Grund seiner Reise nach Newburg, wie sie sein Advokat für ihn erfunden hatte, und die Erzählung, wie die Verwechselung der beiden Ueberröcke im Eisenbahnwagen vor sich gegangen, welche die Auffindung der Diebesgeräte aufklären sollte, machten keinen überzeugenden Eindruck auf die Geschwornen.
Am Abend vor der Schluß-Verhandlung waren der Detektiv Rider, der Advokat Elwyn und Robert Wake in der Office des Ersteren versammelt und besprachen die Aussichten des Angeklagten.
»Meine einzige Hoffnung stützt sich auf die Zweifel, die bei einzelnen Geschworenen auftauchen mögen, und die Nichteinigung der Jury.
Mit diesen Worten schloß Mr. Elwyn diese Besprechung, welche lediglich den Zweck gehabt hatte, nochmals alle Entlastungsmomente durchzuberaten.
Während diese drei Herren, von der Unschuld des Angeklagten überzeugt, beisammen saßen und wegen dessen Schicksal besorgt waren, befand sich Jane Palmer in der höchsten Aufregung in ihrem Zimmer; ruhelos schritt sie auf und ab, hielt wie zu ihrer Erleichterung Selbstgespräche. Sie hatte bisher an jedem Verhandlungstage des Hicks'schen Prozesses von Morgens bis Abends im Gerichtssaale verbracht und war den Verhandlungen mit einer Aufmerksamkeit gefolgt, als wenn es ihr eigenes Leben gelte.
Mehr als einmal war sie im Gerichtssaale nahe daran gewesen, aufzuspringen und ein Geständnis abzulegen, aber ebenso oft wurde sie auf ihren Sitz gebannt, als hingen bleierne Gewichte an ihren Gliedmaßen und als wäre sie nicht Herrin ihrer selbst. Ihr Geisteszustand grenzte fast an Zerrüttung, und sie achtete nicht der Folgen, als sie jetzt mit lauter Stimme rief: »Mein Entschluß ist gefaßt!«
Jede ihrer Bewegungen im Hause wurde von der Dienerin scharf überwacht, wovon Jane wiederholt Beweise gehabt hatte; aber was lag ihr jetzt noch daran, ob Rachel wirklich lauschte und spionirte? Sie wollte sich reine Bahn machen, die Last von ihrer Brust abwälzen, denn sie erkannte, daß ihr früher gefaßter Entschluß sich doch nicht durchführen ließe. Sollte ein unschuldiger Mensch wegen dieses Verbrechens verurteilt, vielleicht gar gehängt werden?
»Nimmermehr!« rief sie; »morgen trete ich auf den Zeugenstand und bekenne Alles!«
In diesem Augenblicke hätte sie der ganzen Welt Trotz geboten; es überkam sie ein innerer Friede. Sie legte sich auf das Sopha nieder und entschlummerte sanft; es war das erste Mal seit langen Wochen, daß ihr ein ruhiger, von beängstigenden Gedanken freier Schlaf beschieden war.
Rachel Gibbs aber, die den laut kundgegebenen Entschluß ihrer jungen Herrin vernommen hatte, flüsterte, als sie sah, daß Miß Palmer eingeschlummert war: »So? Du willst bekennen? Du willst also auch sagen, auf welche Weise ich die fünftausend Dollars aus Dir herausgepreßt habe? Ich soll also das Geld wieder herausgeben, damit die Priester Dir für das schwere Geld Seelenmessen lesen oder Du damit einem sogenannten guten Zwecke dienen kannst? – Nein, mein Täubchen, Du hast die Rechnung ohne Rachel Gibbs gemacht, welche den ganzen Betrag als einen Notpfennig für ihre alten Tage zu behalten gedenkt.«
Darauf zog sich die alte Jungfer in ihr Zimmer zurück, um darüber nachzudenken, was sie zu thun habe. Sie warf verschiedene Pläne in ihrem ränkevollen Kopf hin und her, ohne aber zu einem Entschlusse kommen zu können.
»Ich muß Tibald sehen; er muß Rath schaffen!« murmelte sie endlich vor sich hin und verließ wenige Minuten später das Haus, um ihren Bruder aufzusuchen.
Eine halbe Stunde darauf hatte Rachel den Officediener bereits in einem Hause, nicht weit von demjenigen, in welches Jane und der geheimnisvolle Powel getreten waren, aus dem Schlafe gerüttelt. Sie machte ihrem Bruder von dem Entschlusse, welchen ihre junge Herrin gefaßt hatte, Mitteilung und nannte ihm die Gründe, weshalb Jane nicht bekennen dürfe.
»Mir paßt das Bekenntnis auch durchaus nicht in den Kram,« antwortete Gibbs; »denn erstens hängen sie niemals zwei Menschen für dasselbe Verbrechen, und zweitens hat mich Hicks wie einen Hund behandelt. Mir würde das Herz im Leibe lachen, wenn ich ihn hängen sehen könnte; endlich aber, und dies ist die Hauptsache, könnten dadurch wieder neue, unbequeme Nachforschungen nach meinem Anteil an der Beute hervorgerufen werden. Ich hoffe, das Geld in Ruhe und Frieden zu genießen, wenn es auch auf dem Lande ist, wo ich diesen Spürhunden aus den Augen und aus dem Wege bin.«
Die beiden Geschwister hatten darauf eine Besprechung im Flüstertöne; sie liehen sich sogar gegenseitig das Ohr, als fürchteten sie, es könnte Jemand ihre Pläne vernehmen.
Endlich sprach Tibald wieder laut die wenigen Worte: »Einverstanden; heute Nacht!«
»Nein, nicht heute Nacht, sondern sogleich!« entgegnete Rachel.
»Gut; ehe eine Stunde verflossen ist.«
Die alte Jungfer schlich sich darauf ebenso leise und verstohlen, wie sie gekommen war, wieder nach ihrer Wohnung zurück.
Gibbs dagegen ging nach einem Quartier, wo er sicher war, die Leute zu finden, welche er zur Ausführung seines Planes brauchte.