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Drittes Kapitel.

. Der Detektiv Franklin Rider hatte sich zwar schon widerholt ausgezeichnet, aber es war ihm bisher noch nicht vergönnt gewesen, seine Fähigkeit in einem hervorragenden Falle zu entwickeln. Hier war ihm seiner Ansicht nach zum ersten Male die Gelegenheit gegeben, sich auszuzeichnen, und er trat mit aller Zuversicht an diese Aufgabe heran; es schien ihm nicht schwer, Licht in das bis jetzt über dem Verbrechen schwebende Dunkel zu bringen und den Schuldigen zu ermitteln.

Es kam ihm beinahe lächerlich vor, wie einfach und bequem sich der Polizei-Sergeant die Sache dachte und Alles bereits am Schnürchen hatte, denn er selbst ging von grundverschiedenen Voraussetzungen aus, deren erste darin bestand, daß David Hicks unschuldig sei; hatte doch auch die Tochter des Ermordeten mit so fester Ueberzeugung, als habe sie handgreifliche Beweise, die Unschuld des jungen Mannes erklärt. Und noch ein anderer Umstand war ihm aufgefallen, der wohl allen Anderen entgangen war. Jane hatte in der bestimmtesten Weise erklärt, das Andenken ihres Vaters sollte in Ehren gehalten werden; dies ließ ihn auf die Vermutung kommen, als befürchte sie das Gegenteil.

Rider war mit dem Sergeanten nur eine kurze Strecke zusammen gegangen, als er sich von ihm trennte; er bog in eine Seitenstraße ein und schritt dann wieder nach dem Schauplatze des Verbrechens zurück. Jetzt trat er in den Gang, welcher zwischen dem Hause des Maklers und dem daneben liegenden hinlief, um dort das Terrain zu untersuchen. Dieser Gang wurde sehr selten von Menschen betreten, da er lediglich den Zweck hatte, Luft und Licht zu schaffen.

Unter dem erbrochen gefundenen Fenster entdeckte Rider mit Hilfe einer kleinen Blendlaterne, die er stets bei sich trug, in dem feuchten, lehmartigen Boden frische Fußspuren. Von den Sohlen fand sich eine doppelte Reihe kleiner Nägel deutlich abgeprägt; an der Wand unterhalb des Fensters sah er frische Abschürfungen, die offenbar davon herrührten, daß eine im Klettern nicht besonders gewandte Person sich oben mit den Händen am Fenstergesims festgehalten und dann, mit den Füßen gegen die Wand gepreßt, hinaufgearbeitet hatte.

Der gewandte und elastische Detektiv machte dies einfacher; er erfaßte die Fensterbrüstung und war mit einem einzigen Schwunge oben. Hier entdeckte er, daß unter den Fensterläden ein Brecheisen von außen angesetzt worden war und somit der Eintritt in die Office von dieser Seite ganz außer Zweifel stand. Nun fertigte er von den Fußspuren mit angefeuchtetem Papier einen Abdruck, der zwar nicht in allen Theilen deutlich, aber für seine Zwecke genügend war.

Im Laufe des Vormittags wurde die Leichenschau durch den Coroner abgehalten. Nachdem die üblichen Formalitäten erledigt und die Geschworenen vereidigt waren, schritt der Coroner sofort zum Beginn der Verhandlungen.

Der Arzt sondirte die Wunde; er zog die Kugel heraus, die er dem Coroner einhändigte, und gab sein Gutachten dahin ab: »Melville Palmer war durch einen Schuß, der aus nächster Nähe abgefeuert worden und seitlich der Schläfe in den Kopf eingedrungen war, getödtet worden. Der Schuß kann im Ringen mit einem Gegner erfolgt sein oder auch, als dieser erst im letzten Augenblicke entdeckt war und, anstatt zum Schlage auszuholen, den Schuß abfeuerte.«

»Liegt hier möglicherweise ein Selbstmord vor?« wendete sich der Coroner an den Polizei-Sergeanten, welcher bis dahin die Leitung der Voruntersuchung in der Hand gehabt hatte.

»Keineswegs,« erwiderte dieser, »denn erstens fehlt für eine solche Annahme selbst der Schatten eines Grundes, und zweitens liegt die Ursache des Mordes klar zutage. Der Kassenschrank ist beraubt; eine bedeutende Summe Geldes, die sich nachweislich in demselben befunden hatte, ist verschwunden; wir haben es also hier nur mit einem Raubmord zu thun. Drittens aber kann der Ermordete sich nicht todtgeschossen und dann die Waffe entfernt haben; von einer solchen ist auch nicht eine Spur gefunden worden. Der Mörder hat also bei der Flucht die Waffe mit sich fortgenommen, da die Ermittelung ihres Ursprunges leicht zur Feststellung des Thäters führen konnte.«

Auch der Detektiv hielt einen Selbstmord schon aus dem Grunde für völlig ausgeschlossen, weil er eine grundverschiedene Theorie von derjenigen des Sergeanten hatte. Denn während der Letztere sich bereits eine feste Meinung gebildet hatte, daß Hicks der Thäter sei, war Rider nach dem nur ihm bekannten Einbruch von außen, ein Selbstmord noch viel weniger denkbar. Daß er seine Entdeckungen unter dem Fenster und an den Fensterläden bei dem Inquest für sich behielt, hatte den Grund in seinem Ehrgeiz, eine schwierige Aufgabe ganz allein zu lösen.

Nachdem der Detektiv seine Aussagen über den Befund gemacht hatte und die Annahme eines Selbstmordes von ihm als vollständig ausgeschlossen zurückgewiesen worden war, erklärte der Sergeant mit vielem Selbstgefühl seine Ansicht über das geschehene Verbrechen und nannte David Hicks als den mutmaßlichen Mörder.

Nunmehr wurde Mr. Amos Dwight auf den Zeugenstand gerufen.

Der Effektenmakler schilderte den Ermordeten zwar als einen Sonderling in manchen Dingen, aber in allen sonstigen, zumal geschäftlichen Angelegenheiten als einen durchaus ehrenwerthen Charakter. Zu den kleinen Liebhabereien Palmer's gehörte auch eine Sammlung von alten Münzen und Waffen, wie Pistolen, Dolche, Pfeile und andere Gegenstände, die keinen großen Raum einnahmen. Ueber seine Finanzverhältnisse, wie überhaupt über seine Privat-Angelegenheiten war der Verstorbene sehr verschlossen; man vermutete aber, daß er seine nicht unbedeutenden Ersparnisse in seinem Privat-Geldschrank aufgespeichert hatte, der in dem nach rückwärts gelegenen Raume der Office stand.

Miß Jane, die Tochter des Ermordeten, war die nächste Zeugin. Ueber den Schlüssel zu ihres Vaters Geldschrank befragt, erklärte sie, daß sich derselbe in seinen Taschen finden müsse, wo er sich auch in der Tat befand.

Der Schrank wurde untersucht. Die Münzsammlung, die alten Waffen, die Privatpapiere, dies Alles war mit einer Genauigkeit geordnet, welche von der Sorgfalt Palmer's bis in die kleinsten Dinge zeugte. Geld fand sich jedoch außer den alten Münzen in dem Schranke nicht vor, nicht einmal ein Anhaltspunkt in den Papieren, daß der Tote jemals etwas besessen hatte; da war kein Schuldschein, kein Bankbuch, kein Aktien-Zertifikat, keine Hypothek – kurz, durchaus nichts, was auf irgend einen Besitz hätte deuten können.

Jane konnte über die Vermögensverhältnisse ihres Vaters nur insoweit Aufschluß geben, daß derselbe noch kürzlich davon gesprochen habe, er gedenke recht bald seine Stellung im Dwight'schen Geschäft niederzulegen und sich einen hübschen Landsitz zu kaufen, auf dem er sich ganz der Obst- und Blumenkultur widmen könne. Wie ihr bekannt, war sein ganzes Vermögen in jenem Privat-Kassenschrank enthalten gewesen; über die Höhe vermochte sie indessen nichts anzugeben. Ihr Vater war außerordentlich sparsam und spekulirte grundsätzlich nie.

Rider erbat sich nunmehr von Miß Palmer die Erlaubnis, die Papiere ihres Vaters durchsehen zu dürfen, was sie gern bewilligte. Unter anderen mehr oder minder wichtigen Schriftstücken fand er einen Brief, der ihm für die Untersuchung wichtig erschien, und ohne sich dazu eine besondere Genehmigung zu erbitten, steckte er denselben in seine Brusttasche.

Den Coroner ersuchte der Detektiv, ihm die von dem Arzt aus der Wunde entfernte Kugel zu überlassen, und da dieser nur darin die Absicht sah, die Aufklärung des Verbrechens mit allen Mitteln zu verfolgen, so willfahrte, er der Forderung.

Rachel und Tibald Gibbs, sowie die übrigen in Dwight's Geschäft Angestellten wurden ebenfalls vernommen, aber ohne daß durch deren Aussagen irgend etwas Neues zu dem bereits bekannten Thatbestand geliefert worden wäre.

Mr. Dwight beschäftigte sich während dieser Zeit in teilnehmender Weise mit Jane und bot ihr, da das bedeutende Vermögen, welches ihr Vater gespart haben mußte, so spurlos verschwunden war, seinen Beistand an.

Miß Palmer war dankbar für die Aufmerksamkeit, welche ihr der Prinzipal ihres unglücklichen Vaters erwies; aber sie erklärte, keiner materiellen Hilfe zu bedürfen, da ihr erst kürzlich von einer entfernten Verwandten eine Erbschaft von fünftausend Dollars zugefallen war. Dann fügte sie hinzu: Ich bin außerdem fähig und jederzeit gewillt, meinen Unterhalt zu verdienen, wenn es das Schicksal so will.«

»Sie sind ein braves, edles und im Unglück starkes Mädchen,« versetzte der Makler; »wenn Sie meiner je bedürfen sollten, so kommen Sie getrost zu mir. Was ich imstande sein werde, für Sie zu thun, soll geschehen, um ihnen die Wege des Lebens zu erleichtern.«

Darauf verabschiedete er sich mit einem warmen Händedruck von ihr.

Während der Vernehmung der letzten Zeugen durch den Coroner war der Präsident seiner Bank, bei welcher Mr. Palmer den Check und sechsundachtzigtausend Dollars einkassiert hatte, in die Makler-Office getreten.

Zu gleicher Zeit erschien ein alter Herr mit silberweißem Haar und einem grauen, wie Seide schimmernden, wallenden, langen Vollbart im Zimmer; derselbe hatte ein Paar blitzende dunkle Augen und machte in Haltung wie Kleidung den Eindruck einer einfachen, aber vornehmen Eleganz.

Niemand kannte den Fremden, der nach einem Blick auf Jane scheinbar mit größter Aufmerksamkeit dem Gange der Verhandlungen folgte.

Der Bankpräsident wendete sich nach geschlossenem Verhör des letzten Zeugen an den Coroner und flüsterte ihm einige Worte zu.

Dieser nickte und schritt nach dem nach rückwärts gelegenen Zimmer, wohin ihm Jener folgte. Die Beiden hatten dort eine kurze Unterredung; unmittelbar darauf erschien der Coroner wieder im vorderen Raum und ersuchte Rider, sowie den Polizei-Sergeanten, ihm zu folgen.

Nachdem die drei hinter der Thür verschwunden waren, schloß der Coroner dieselbe und erklärte nunmehr den die Untersuchung wegen des Raubes führenden Beamten, daß Mr. Toller, der Bankpräsident ihnen geheime und wichtige Mitteilungen zu machen habe.

»Meine Herren, damit sie verstehen, wie es kommt, daß unsere Bank gewisse Vorkehrungen getroffen hatte, welche möglicherweise zur Entdeckung des Mörders von Melville Palmer und zur Wiedererlangung des gestohlenen Geldes führen können, muß ich ihnen den Zweck dieser Vorkehrungen kurz erklären.« begann Mr. Toller seine Mitteilungen.

»Wir haben Grund zu der Annahme, daß unser Kassirer unehrlich ist und uns bestiehlt,« fuhr er fort. »Aus diesem Grunde zeichnete ich vorgestern Abend im Geheimen alles Geld, das er voraussichtlich am nächsten Tage auszuzahlen haben würde; bei einem Packet von hunderttausend Dollars in großen Banknoten brachte ich mit roter Tinte ein ›V‹ in der rechten unteren Ecke der Rückseite jeder Note an, und zwar so klein, daß es auf den ersten Blick nicht auffällt. In ähnlicher Weise kennzeichnete ich auch den Rest des Geldes; doch ich halte es für unnötig, Ihnen auch die anderen Merkmale anzugeben, da wir es in diesem Falle nur mit dem vorhin erwähnten Packet Banknoten zu thun haben. Ich stand zufällig in der Nähe der Kasse, als Melville Palmer den Check über sechsundachtzigtausend Dollars zur Auszahlung vorlegte, und ich sah, wie unser Kassierer das Geld von dem Packete nahm, dessen einzelne Noten mit einem ›V‹ gezeichnet waren, und den Rest wieder in den Geldschrank zurücklegte, wo ich denselben nach Geschäftsschluß auch vorfand. Es sind noch genau vierzehntausend Dollars von diesem Gelde vorhanden; ich weiß deshalb mit aller Bestimmtheit, daß sonst Niemand von dem auf diese Art gezeichneten Gelde bezahlt worden ist, und da ich das Merkmal auf den uns verbliebenen vierzehntausend Dollars sofort ändern werde, ehe das Geld in Umlauf kommen kann, so sollte meine Mitteilung Sie in die Lage bringen, Ihnen das Auffinden des Verbrechers bedeutend zu erleichtern.

»Der uns mitgeteilte Umstand erscheint mir ungeheuer günstig,« sagte der Sergeant im Eifer.

Rider sprach dem Bankpräsidenten ebenfalls seinen Dank für die freundliche Mitteilung aus.

Inzwischen hatte der alte fremde Herr wie durch Zufall, gleich nachdem sich der Coroner mit den beiden Polizeibeamten in das nach hinten gelegene Zimmer begeben hatte, seinen Stand dicht bei der Thür genommen, welche die beiden Gelasse trennte. Er hatte genug von der Mitteilung Mr. Tolleres vernommen, um das Wesentlichste derselben zu wissen; als er sich dann umdrehte, sah er, daß Tibald Gibbs dicht hinter ihm gestanden hatte, und dessen Miene verriet ihm, daß auch dieser die Auseinandersetzung des Bankpräsidenten gehört hatte.

Die leuchtenden Augen des hübschen alten Herrn richteten sich für einen Moment auf das Gesicht des Office-Dieners, und alte, trübe Erinnerungen stiegen vor seinem Geiste auf, die einen Schatten auf seinem Antlitz hervorriefen.

Gibbs war sich jedoch offenbar nicht bewußt, daß er beobachtet und erkannt worden war.

Als der Coroner mit Mr. Toller und den beiden Polizeibeamten wieder in das vordere Gemach zurückkehrte, hatte der Fremde die Office bereits verlassen. Gleich darauf wendete sich auch Tibald Gibbs zum Gehen.


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