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Der Zustand war nicht Schlaf zu nennen, aus dem Jane am anderen Morgen dadurch geweckt wurde, daß Louise mit dem Tee ins Zimmer trat. Louise ging vorsichtig auf den Zehenspitzen. Jane war es, als wecke man sie aus einer wohltätigen Betäubung, um sie vor ein Gericht zu stellen, vor dessen Urteil es kein Entrinnen gab. Sie hörte, wie die Tür sich öffnete, und war doch eigentlich noch gar nicht wach. Das leichte Geräusch zerstörte den tranceähnlichen Zustand, in dem sie lag, und schuf ein Übergangsstadium zwischen der Welt des Unwirklichen und des Wirklichen. Ein erster Schleier hob sich, der ihr Bewußtsein vor dem Licht des Tages geschützt hatte. Er enthüllte wieder eine Welt von Dingen, die wohlvertraut waren, hinter einer Welt wimmelnder Schatten, in der man sich vor Dingen fürchtete, die man mehr ahnte als sah.
Jane sagte nichts. Sie rührte sich nicht. Louise hatte ihre Instruktion, die nie verletzt werden durfte. Sie ließ keine Ausnahme zu. Wenn Jane nicht wach war, durfte man sie nicht stören. Louise hatte dann das Teebrett neben das Bett zu stellen, in aller Stille zu erledigen, was ihr sonst noch oblag, und zu verschwinden. »Geräuschlos«, war die Parole, die ihr, eingehämmert worden war.
»Ich wünsche nicht, am Morgen mit Radau begrüßt zu werden«, hatte Jane einmal gesagt.
Und heute, wie immer, tat Louise, wie ihr befohlen war, Und doch nicht ganz so wie sonst. Unter ihren geschlossenen Augenlidern her stellte Jane fest, daß Louise auf irgend etwas wartete. Es drückte sich in ihrer Haltung, in ihren Bewegungen aus. Als sie das Teebrett hinstellte, beugte sie sich über das Bett und wartete einen Augenblick. Sie nahm sich eine volle Sekunde Zeit, in dieser gebeugten Stellung zu verharren. Jane wußte, daß Louise sie betrachtete, um festzustellen, ob sie wach sei. Sie gab kein Zeichen von sich. Sie gab sich sogar Mühe, den gleichmäßigen Atem eines Schlafenden zu wahren. Schließlich richtete Louise sich auf und verschwand vom Bett.
Während der nächsten Minuten – sie wußte nicht, war es lang, war es kurz – Zeit schien noch nicht meßbar – beobachtete sie die Bewegungen der Zofe, die im Zimmer hin und her glitt und sich als dunkle Silhouette immer wieder von den sonnenbeleuchteten Fenstern abhob. Dies Schattenspiel schien die gegebene Begleitung zu dem allmählichen Wach werden, das sich in ihrem Hirn vollzog.
John würde sie verstehen. Dies war ihr erster Gedanke, den sie sich immer wiederholte. Es war erleichternd, zu bemerken, daß dieser Gedanke sich bereitwillig einstellte, sooft sie es befahl. Wenn sie mit John gesprochen haben würde – wie sie miteinander sprechen mußten –, dann war es nicht anders möglich, er mußte dann selbst wissen, daß sie ihn nicht gänzlich im Stich gelassen hatte. Freilich, sie hatte versprochen. Diesem Bewußtsein war nicht auszuweichen. Aber wie hatte sie versprochen? Unter welchem Zwang? Dies Zusammentreffen in den Klippen konnte nicht als eine Verabredung bezeichnet werden, die kühlen Bluts getroffen worden war. Wenn ein Wort nicht paßte, so war es dieses. Aber gewiß würde er verstehen, wie schwer es fiel, sich so auszuliefern, würde verstehen, welcher Abgrund klaffte zwischen dem heißen Impuls der Leidenschaft und dem kühlen Wägen des Handelns aus gemessenem Entschluß.
Louise hatte in ihren Verrichtungen eine Pause eintreten lassen. Eben im Begriff, am Fenster vorbeizugleiten, blieb sie stehen. Sie sah nach dem Bett hinüber. Aufmerksam, erwartungsvoll sah sie zu ihr hinüber. Jane fragte sich verwundert, was dazu Anlaß gab. Hatte sie sich bewegt? Hatte sie, ohne es zu wissen, durch eine Kleinigkeit verraten, daß sie in Wirklichkeit nicht schlief? Wie jemand, der sich im Schlaf unwillkürlich bewegt, drehte sie sich in ihren Kissen und fuhr fort, gleichmäßig, wie eine Schlummernde zu atmen. Nach einer Weile setzte Louise ihre Arbeit fort. Ganz ohne Zweifel hatte sie das Bedürfnis, ihr etwas mitzuteilen, aber Jane war heute morgen keineswegs zu Unterhaltungen geneigt. Allein wollte sie sein. All dies genau durchdenken, ehe sie wieder mit John zusammentraf.
Wie ewig lang Louise doch brauchte! Warum wirtschaftete sie soviel herum? Sonst immer hatte es kaum fünf Minuten gedauert, bis sie Janes Kleider zurechtgelegt, den Toilettentisch in Ordnung gebracht und die Tür schon wieder hinter sich geschlossen hatte.
Jane fühlte eine Gereiztheit in sich aufsteigen. Sie fürchtete, sie ahnte, daß sie in einer Selbsttäuschung befangen war, schrieb aber ihr unbehagliches Gefühl nur der störenden Gegenwart Louises zu. Wie war es möglich, aufrichtig, offen und ohne die Befangenheit der Leidenschaften, diese Dinge zu überlegen, solange diese Person mit ihrem Herumwirtschaften sich so störend in ihr inneres Zwiegespräch eindrängte.
Der Gedanke verließ sie auch jetzt nicht, daß sie und John geschaffen waren, um sich zu ergänzen. Und wenn sie auch heute noch dies denken mußte – dann konnte man gewiß nicht sagen, daß sie völlig versagt hatte. Dann bedeutete die vergangene Nacht nicht, daß alles zu Ende war. Mit einer Freude, von der sie glaubte, sie werde dauern, fühlte sie ihr Herz wieder mutig schlagen, das Blut befreit strömen. Nein, das war nicht das Ende. Im Leben endeten Dinge, die wesentlich waren, nicht auf diese Art. Sie wußte nicht, was sie tun würden, sie und er. Aber all dies und tausend andere Dinge waren noch zwischen ihnen zu erörtern. Es war doch kein einfaches Versagen. Sie war nicht ein allzu schwaches, treuloses Gefäß, das die kostbare Essenz, die man ihm anvertraute, achtlos verrinnen ließ. Es würde ihr noch einmal beschieden sein, daß sie in seinen Armen lag, und diesmal würde es kein leeres Geschehen sein. Er würde sie nicht noch einmal sich entgleiten lassen. Er würde sie dann kennen, ihre Schwächen, ihre Überempfindlichkeit und diese Phantasie, deren Bilder sich zu leicht warnend und abschreckend zwischen sie und jede Erfüllung drängten.
Der Gedanke war beglückend, und doch hatte sie ihn noch nicht zur Hälfte ausgekostet, als sie erschreckt innehielt. Die Tür hatte sich geöffnet. Das Türschloß hatte kaum hörbar geschnappt, und doch hatte sie es wahrgenommen. Louise hatte sich plötzlich umgedreht, die dunkle Masse ihres Oberkörpers, in der gegen die hellen Fenster kein Gesicht zu erkennen war, stand in fragender Haltung der Tür zugekehrt. Dann war sie zur Tür hingegangen. Man hörte flüstern. Es war Stephens Stimme. Jane strengte sich an, um etwas zu erfassen.
»Nichts – Frühstück – um zwölf Uhr – wird weg sein.«
Diese Bruchstücke waren das einzige, was Jane in dem eilig dahinrinnenden Geflüster hatte erfassen können. Dann schloß die Tür sich wieder. Louise kroch wieder nach dem Fenster hinüber. Sie zog das Rouleau herunter, das Sonnenlicht draußen sollte ausgesperrt werden. Jane richtete sich auf dem Ellbogen auf.
»Was tun Sie da eigentlich, Louise?« fragte sie.
Louise war zu allen Zeiten eine schreckhafte Person, aber in ihrem plötzlichen Zusammenfahren verriet sich mehr: ein Schuldbewußtsein, und in ihrem erschreckten Ausruf eine Furcht.
»Ich dachte, Sie schlafen noch, gnädige Frau.«
»Warum ziehen Sie dann den Vorhang herunter?«
»Damit das Sonnenlicht Sie nicht aufweckt.«
»Aber Sie haben doch mein Frühstück gebracht?«
»Jawohl, gnädige Frau.«
»Hatten Sie die Absicht, mich schlafen zu lassen, bis mein Tee kalt ist?«
Louise war mattgesetzt. Sie zog sich mit um Entschuldigung bittenden Bewegungen langsam gegen die Tür zurück.
»Louise! Wer hat Sie veranlaßt, das Rouleau herunterzulassen?«
Jane saß jetzt aufrecht in ihrem Bett. Irgend etwas Verstohlenes lag in der Luft, sie fühlte es.
»Mich veranlaßt, gnädige Frau?«
»Jawohl! So sagte ich. Das war nicht Ihr eigener Einfall. Ist es Ihnen von Mr. Carroll befohlen worden?«
Louise war nur fähig zu antworten, sie habe geglaubt, Jane schlafe noch.
»Warum hat er das angeordnet? Nehmen Sie Ihre Hand von der Tür weg und geben Sie Antwort! Warum hat er Ihnen das befohlen?«
Die Sache schien nicht nur auffallend, es schien etwas Unheimliches dahinter zu stecken. In ihrem Zustand geschärfter seelischer Empfindlichkeit war sie dem Argwohn leicht zugänglich.
»Er sagte, Sie – Sie wären sehr ermüdet, und es wäre gut für Sie, wenn Sie so lange als möglich schlafen.«
»Ich wäre ermüdet?! Ich bin früh ins Bett gegangen. Ich bin schon um neun Uhr ins Bett gegangen!«
»Das hat er gesagt, gnädige Frau.«
»Ziehen Sie den Vorhang wieder hoch, Louise.«
Widerstrebend tat Louise, was ihr aufgetragen war.
»Jetzt reichen Sie mir meinen Schlafrock, und ich wünsche, daß Sie mir endlich diese Sache erklären.«
»Aber es ist doch nichts zu erklären, gnädige Frau!«!
»Es ist sehr viel zu erklären! Irgend etwas ist los. Was ist los? Ich habe es sofort gemerkt, wie Sie mit dem Tee hereinkamen. Warum haben Sie sich so lange vor mein Bett gestellt und mich beobachtet, ob ich noch schlafe? Und warum haben Sie nachher jeden Augenblick innegehalten und nach dem Bett herübergesehen?«
»Ich wußte nicht, daß Sie wach sind.«
»Das haben Sie schon einmal gesagt. Ich weiß das jetzt endlich! Aber Sie haben immer auf den Augenblick gewartet, wo ich aufwachen würde! Was ist los?«
Louise schwieg. Ihr ganzer Körper schwieg beharrlich. Sie schien des Willens beraubt zu sein. Als sie dann doch sprach, schien ihre Stimme aus ihrem Mund zu kommen, ohne daß sie selbst darum wußte.
Sie sagte: »Ich wollte es Ihnen gleich selbst sagen.«
»Was wollten Sie mir sagen?«
»Und dann kam Mr. Carroll an die Tür.«
»Was war das, was Sie mir sagen wollten?«
»Und Mr. Carroll sagte, ich dürfe gar nichts sagen – ich sollte mein möglichstes tun, damit Sie auch im Bett frühstücken, nämlich um zwölf, sagte er, hätten sie ihn dann schon fortgeschafft. Sie kämen noch vor zwölf, ihn holen.«
Jane saß starr und regungslos in ihrem Bett. Sie saß wie eine Wachspuppe, die sich noch nie bewegt hat. Plötzlich sprach sie. Etwas in ihr schien auf die unbeantworteten Fragen, die sie umdrängten, auf einmal Antwort gegeben zu haben. In einem Gedanken drängte sich alles wie in einem Brennpunkt zusammen:
»Wie ist er ihnen in die Hände gefallen? Wann?«
»Heute morgen«, antwortete Louise.
Es schien für Jane nichts Sonderbares, daß plötzlich zwischen ihr und Louise ein stillschweigendes Einverständnis darüber bestand, von wem hier die Rede war. Es kam ihr noch nicht einmal der Gedanke, daß ein Mißverständnis möglich sein könnte.
»Die Seesoldaten – wie?« sagte Jane in demselben mechanischen Ton wie vorher.
»Jawohl, gnädige Frau.«
»Ist es zu einem Kampf gekommen?«
»Es muß wohl.«
»Er hat sich doch nicht einfach ergeben?«
Nein, das konnte und wollte sie nicht glauben. Sie mochte ihn im Stich gelassen haben, sich nicht treu geblieben sein, aber nicht so über alles Maß hinaus, daß es ihn dazu hätte bringen können, sich selbst nicht treu zu sein. Sie hätte es sogar ertragen können, daß er verwundet worden war, aber sie hätte es nicht ertragen können, zu hören, daß sein unerschrockener Geist derart gebrochen war, daß er sich kampflos auslieferte.
Sie konnte Louises Antwort nicht erwarten. Sie mußte sich äußerste Gewalt antun, um ihre Ungeduld nicht zu verraten. Und doch stand Louise regungslos und wortlos vor ihr da, eine blöde schwarze Masse gegen das helle Fenster.
»Herr Madden war keiner von denen, die sich einfach ausliefern«, sagte Jane. Sie war sich klar darüber, daß sie sich von Louises Schweigen dazu verleiten ließ, Dinge zu sagen, die sie besser nicht gesagt hätte. Aber Louises Schweigen bewirkte, daß sie sich erneut vor sich selbst angeklagt fühlte. Sie empfand ein lebhaftes Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Wenn jemand sich einfallen ließ, zu. behaupten, John Madden habe sich kampflos ergeben, so mußte, mußte es eine freche Lüge sein. Mit aller Gewalt versicherte sie sich, daß sie ihm gegenüber nicht in dem Grade versagt hatte. Und ganz unmöglich war es, daß John so über alles Maß hinaus versagt haben sollte, als es galt, die Frau, die er liebte, zu verstehen.
»Wenn sie behaupten, daß er sich kampflos ergeben hat, dann lügen sie ganz einfach das Blaue vom Himmel herunter.« Und sie sprach weiter. Beharrte dabei. Ihre Stimme nahm einen kaum wahrnehmbaren zänkischen Ton an, denn sie hatte sich selbst nicht mehr ganz in der Gewalt. Dann hörte sie von weit her Louises Stimme, die sich einmischte. Und Louise hatte gesagt:
»Er hat sich nicht ergeben.«
»Nein, natürlich nicht!«
»Sie haben ihn gefunden.«
Sie saß in ihrem Bett und horchte. Sie war jetzt sehr still.
Louise schwieg wieder, sie wußte nicht warum. Jedenfalls war das nicht die Art, in der sie geplant hatte, ihre große Neuigkeit an ihre Herrin loszuwerden. Sie hatte alles ganz falsch angefaßt, und das Mißverständnis, das sich in das Gespräch eingeschlichen hatte, schien plötzlich dem Ganzen, was sie zu erzählen hatte, eine neue und übertriebene Bedeutung zu geben. Daß Mr. Carroll so geheimnisvoll an der Tür erschienen war, war schuld daran. Er hatte sie direkt aus der Fassung gebracht. Sie war ganz erschreckt, als Janes Stimme jetzt vom Bett her an ihr Ohr schlug. Es klang so schleppend.
»Was wollen Sie sagen?« fragte Jane. »Wo haben sie ihn gefunden?«
»Da unten an den Klippen, gnädige Frau.«
»Wann?«
»Ich habe es Ihnen schon gesagt, heute morgen.«
»Sie haben gesagt, er wäre ihnen heute morgen in die Hände gefallen.«
»Ja, das wollte ich damit sagen.«
»Wollten Sie sagen, sie fanden ihn dort ...«
Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. Es klang zu irrsinnig, zu endgültig.
»Er muß schon eine Zeitlang tot gewesen sein, sagen sie unten, gnädige Frau.«
Louise hatte es ausgesprochen. Tot. Es fing an, in ihrem Kopf zu hämmern, langsam, unerbittlich. – Tot.
»Sie haben zufällig heute morgen eine Patrouille die Klippen entlang geschickt,« fuhr Louise fort, die sich jetzt etwas wohler fühlte, da alle Mißverständnisse behoben waren, »und da fanden sie ihn daliegen. Denken Sie doch mal an, sie wußten zuerst gar nicht, wer es war. Man hätte meinen sollen, John Madden hätten sie erkennen müssen, wo doch tausend Pfund Belohnung für ihn ausgeschrieben sind.«
Jane hörte das alles nur halb. Viel klarer und deutlicher war das dröhnende Hämmern in ihr, das immer von neuem wiederholte: Tot! Aber da hörte sie plötzlich etwas, das diese Benommenheit vertrieb. Louise sagte:
»Oh, was für ein schreckliches Volk diese Iren doch sein müssen. Die reinen Wilden. Es schauert einem, wenn man dran denkt. Es tut mir nicht leid, daß er tot ist; er hat so viele von unseren Leuten um die Ecke gebracht. Aber kann sich einer das vorstellen, daß seine eigene Partei hergeht und sticht ihn nieder – wo ewig das Gerede war, er sei einer von den besten Leuten, die sie hätten?!«
»Was reden Sie da eigentlich?«
Jane hatte das Gefühl, als habe sie die Gewalt über ihre eigene Stimme verloren, und doch schien sie sehr ruhig gefragt zu haben, denn Louise fuhr ganz unbeirrt fort:
»Sie haben ihn schon tot gefunden, gnädige Frau. Die Seesoldaten hatten nichts damit zu tun. Einer von seinen eigenen Leuten hat ihn umgebracht. Es kann nicht anders sein. Es war ja kein anderer da. Einen Stich von hinten, zwischen die Schulterblätter. Ein Stich – dann war es geschehen. Mich wollten sie ihn nicht sehen lassen. Aber der Sergeant hat mir ganz genau Bescheid gesagt.«
»Nicht sehen lassen?«
Louise hatte es bei ihrer Herrin noch niemals erlebt, daß sie derart langsam begriff, was man ihr mitteilte. Jedermann, dachte Louise, hätte doch gleich von vornherein angenommen, daß der Tote hier ins Haus gebracht worden sein mußte. Hatte sie es nicht sogar gesagt? Hatte sie nicht gesagt, um zwölf Uhr würde er wohl weggeschafft sein? Nun, und so war es ja auch. Um zwölf Uhr war er aus dem Haus, nein, war sie aus dem Haus, die Leiche nämlich. Vielleicht war es das, was sie vergessen hatte zu sagen. Die Leiche. Sie lag jetzt unten in dem kleinen Raum neben dem Eßzimmer, im selben Raum, wo sie damals den anderen hingelegt hatten, der standrechtlich erschossen worden war.
»Nämlich, sie haben ihn hier ganz dicht beim Haus gefunden«, sagte sie. »Sie wußten zunächst gar nicht, ob er wirklich tot ist, haben ihn gleich nach dem nächsten Haus geschafft. Das ist doch klar. Aber wenn er ihnen gleich zuerst wie ein Toter vorgekommen ist, da hatten sie sich doch nicht geirrt. Wer es auch gewesen ist, der; hat gründlich gearbeitet.«
Sie hörte auf zu reden. Jane stieg aus dem Bett. Sie schleifte ihren Körper nach, als wäre sie erst am Morgen von einem Ball nach Hause gekommen und fühle sich noch zu müde, um überhaupt wieder anzufangen zu leben. Louise hatte ihre Herrin in London manchmal so gesehen.
»Wollen Sie nicht lieber im Bett frühstücken, gnädige Frau?« fragte sie.
»Wieviel Uhr ist es, Louise?«
»Ein Viertel vor neun.«
Es schien eine logische Frage. Im übrigen schien Jane Louises Vorschlag einfach überhört zu haben.
»Sie können hinuntergehen, Louise,« fuhr sie ruhig fort, »ich brauche Sie nicht.«
»Aber gnädige Frau!«
»Ich brauche Sie nicht!«
Der Ton war derart, daß er jede weitere Diskussion abschnitt. Louise verschwand aus dem Zimmer, ohne noch ein Wort zu wagen. Ehe sie die Tür schloß, blickte sie zurück. Jane stand vor dem Spiegel und löste ihre Zöpfe auf. Von dem Platz aus, wo sie stand, konnte Louise im Spiegel Janes Gesicht sehen. Dieses Gesicht starrte das Gesicht im Spiegel an und sah – nichts.
Die drei Männer saßen am Frühstückstisch, jeder bei einem anderen Gang der Mahlzeit. Sie tauschten abgerissene Bemerkungen über das Ereignis der Nacht aus, als plötzlich die Tür aufging und Jane erschien. Stephen sprang rasch, aber ungeschickt auf. Wenn es eine Höflichkeit sein sollte, dann verriet sie mehr Erstaunen als Grazie. Draper umfaßte die Armlehnen seines Stuhles und hob sich ein wenig von seinem Sitz. Der Priester setzte ruhig seine Mahlzeit fort. Er hob die Augen für einen Augenblick und wandte sich dann wieder seinem Teller zu. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und sagte:
»Guten Morgen, Vater Hanrahan«, als hätte sie ihn zum Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit gewählt. Er sah auf und begegnete ihrem Blick, der schwer von Bedeutung war, ohne Unbehagen. Wenn es eine Antwort gab, die in einem Blick erteilt werden konnte, so gab er diese Antwort. In diesem Blick war die Gelassenheit eines Mannes, der sich keiner Schuld bewußt ist und noch nicht einmal das Wort Rechtfertigung kennt.
Wenn sie etwas brauchte, das ihr die Peinlichkeit der Situation, in der sie sich zwischen den drei Männern befand, erträglicher machen konnte, so mußte es für sie eine Erleichterung sein, Drapers ruhige, schleppende Stimme zu hören, mit der er seine Absicht kundgab, nach England abzufahren.
»Freilich müssen Sie das nicht so auffassen, als ob ich gleich nach dieser Tasse Kaffee auf mein Schiff klettern würde, wenn ich hier noch von irgendwelchem Nutzen sein kann.« Seine Stimme hob sich gegen den Schluß des Satzes. Es war eine Anfrage. Er bot Jane seine Hilfe an. Sie mußte antworten, und sie antwortete, nicht bereitwillig, aber ohne einen Augenblick zu zögern.
»Sie müssen Ihre Pläne so einrichten,« sagte sie, »wie es Ihrem persönlichen Geschmack entspricht. Ich verbiete Ihnen, auf uns irgendwelche Rücksicht zu nehmen.«
»Aber wenn Sie sich mit der Absicht tragen, nach England zurückzukehren, wäre ich mit dem größten Vergnügen der Welt bereit, noch ein oder zwei Tage auf Sie zu warten.«
»Wir haben uns eigentlich noch gar nicht überlegt, was wir tun werden«, sagte Jane gelassenen Tones. »Hast du schon irgendwelche Pläne gemacht, Dicky?«
»Nicht im geringsten«, sagte Stephen. »Ich werde alles tun, was du wünschst, Liebes.«
»Nun, nach dieser Sache, die hier passiert ist,« sagte Jane, »halte ich es eigentlich für ziemlich auf der Hand liegend, daß wir Ardogina sofort verlassen, sobald alles geordnet ist.«
Alle drei schienen sie überrascht, sie von dem Ereignis der letzten Nacht sprechen zu hören. Sogar Vater Hanrahan hob die Augen von seinem Teller. Sie suchte und hielt sofort seinen Blick.
»Ich weiß ja eigentlich noch gar nicht, ob überhaupt etwas vorgefallen ist,« fuhr sie ruhig fort, »Louise hat mir in sehr verworrener Form über allerlei berichtet. Ich weiß, daß er tot ist – daß er ermordet worden ist. Es ist doch wohl Mord, nicht wahr, wenn ihr eure eigenen Leute erschlagt?«
Stephen legte die Hand auf ihren Arm.
»Was ist?« fragte sie, aber ohne Ungeduld, als wisse sie, daß, wenn er sie unterbrach, es nicht in der Absicht geschah, sie an irgend etwas zu hindern.
»Willst du wirklich jetzt darüber reden?« sagte er.
»Warum nicht?« antwortete sie. »Gerade jetzt vermag ich noch darüber zu reden. Siehst du denn nicht, daß ich ganz ruhig bin?«
Sie ließ sekundenlang den Blick des Priesters los, um die anderen anzusehen. Nur einen Augenblick, dann kehrte ihr Blick zu Vater Hanrahan zurück.
»Wer brachte ihn um, Vater Hanrahan?« fragte sie.
»Da ist keiner, der's weiß«, sagte er.
»Er ist da unten gefunden worden,« mischte sich Stephen ein, »heute in aller Frühe.«
»Wird die Leiche untersucht werden?« beharrte sie. »Wird man versuchen, festzustellen, wer der Mörder ist?«'
»Wer sollte das versuchen?« meinte Draper. »Ich denke, die Behörden wollten ihn lebend oder tot in die Hände bekommen. Jetzt haben sie ihn. Wenn es einen gibt, der den Wunsch hat, tausend Pfund einzustreichen, dürfte er es schwierig finden, die Engländer davon zu überzeugen, daß er die tausend Pfund auch verdient hat.«
»Ich dachte, die Sinn-Feiner hätten auch Gerichtshöfe eingerichtet«, fuhr sie fort. Sie hatte kein Erbarmen mit sich selbst. »Unternehmen die Sinn-Feiner gar nichts, wenn einer der Ihren in dieser Art und Weise ermordet wird?«
Sie richtete ihre Frage an Vater Hanrahan. Ihre Augen verlangten eine Antwort von ihm. Er gab sie, nach wie vor nicht aus der Fassung zu bringen, unerschütterlich, selbst ohne jede Spur von Gereiztheit. Es war nicht die Antwort eines Mannes, der sich überführt sieht. Sie wußte jetzt, daß sie an ihn nicht herankonnte.
»Wenn ein Land als Staatswesen noch gar nicht existiert, dann hat es auch kein Gesetz, als die Gesetze der Natur.«
»Nennen Sie das Naturgesetz,« beharrte sie, »einen Mann abzuschlachten, der für sein Volk und für die Sache dieses Volkes kämpft?« Es kam wie ein schnellgeführter Stoß, als habe sie Rache zu nehmen. Auch Stephen und Draper hörten es. Sie hielten sich abseits. Sie waren ausgeschaltet.
»Wer kann sich hinstellen und kann sagen,« sprach der Priester, »was man unter Naturrecht verstehen soll? Die Natur hat ihre eigenen Gesetze. Wenn Sie einen toten Vogel finden, der auf Ihrem Wege liegt, wie wollen Sie sagen, welches Gesetz der Natur es war, dem er zum Opfer gefallen ist? Es kann immer sein, daß einer seinem Volke und der Sache seines Volkes dient und dabei doch seine Pflicht vergißt vor seinem Herrn und Gott. Und sind nicht die Wege des Herrn die Wege der Natur, und ist hier einer unter uns, der sich vermessen könnte zu sagen, ob Gottes Wege gerecht sind oder ungerecht? O'Callaghan und Chancy, die beide Bürgermeister waren in Limerick, waren Sinn-Feiner und sind umgebracht worden, und bis heute ist man nicht dahintergekommen, wer es getan hat, Und niemals wird man dahinterkommen. Und so wird es auch mit John Madden sein. Man kann der Natur nicht in den Arm fallen. Da gibt's keine Kriminal-Untersuchung, die die Spuren verfolgen kann. Er ist weg aus Irland, und das ist das Ganze.«
Sie wußte, daß sie nun ihre Antwort hatte. Er hatte sie seine Augen prüfen lassen, und sie hatte nichts darin finden können. Sie hatte in diese unbewegten grauen Pupillen geblickt und hatte überhaupt kein Gefühl darin gefunden, keine Gewissensbisse und kein Schuldbewußtsein.
Sie stand vom Tisch auf.
»Du hast nichts gegessen«, sagte Stephen.
»Ich wüßte nicht, daß ich heruntergekommen wäre, um zu essen«, antwortete sie.
Er öffnete ihr die Tür und sie ging durch die Diele, geradeswegs auf die Tür zu, wo Johns Leiche aufgebahrt war. Stephen stand und sah ihr nach. Sie zögerte nicht. Sie öffnete die Tür und ging hinein.
Die Vorhänge waren heruntergelassen, das Licht gedämpft. Als sie die Tür hinter sich schloß und ihren Augen zum erstenmal Erlaubnis gab, ihr zu zeigen, daß er hier tot vor ihr lag, fühlte sie sich mehr mit ihm allein, als damals in der Nacht auf der Straße hinter Clearys Cross. Um das Gefühl noch ungestörter zu besitzen, drehte sie den Schlüssel im Schloß.
Er lag auf dem Tische, ein Tuch war über ihn gebreitet, wie bei Jim Tierney. Sie hob das Tuch und sah ihn an. Das einzige, vor dem sie sich gefürchtet hatte, fand sie auf seinem Antlitz nicht. Es trug keinen Zug der Enttäuschung, keine Anklage lag um diese geschlossenen Augen. Er hatte geglaubt, daß sie ihr Versprechen halten werde. Er war getötet worden in diesem Glauben. Wenn er in der Stunde seines Todes nichts gewußt hatte, vielleicht wußte er es jetzt, daß sie versagt hatte. Aber fiel es noch ins Gewicht? Der Gedanke hatte nichts Erschreckendes für sie, daß er sie jetzt von dort, wo er war, erblicken konnte. Im Leben ihm noch einmal zu begegnen, war, was ihr Angst eingeflößt hatte. Und jetzt, wo sie sein Gesicht erblickte, konnte sie sich sagen, daß es zu friedvoll war: er konnte nicht gelitten haben.
Vielleicht hatten sie ihn getötet, ehe ihm zum Bewußtsein gekommen war, daß sie nicht kam. Vor diesem stillen Gesicht in seiner ruhigen Heiterkeit vermochte sie daran zu glauben. Wer konnte es sagen? Er hatte Irland hinter sich gelassen, und das war alles. Niemals würde einer sagen können, wann er gestorben war. Und doch wäre es ein Trost gewesen, zweifelsfrei zu wissen, wann es geschehen war. Gewißheit zu haben, daß er nicht das Gefühl der Enttäuschung in den Tod hatte mitnehmen müssen. Daß er gegangen war, ohne zu wissen, daß sie versagt hatte.
Plötzlich erinnerte sie sich: Der kalte Windstoß, der sie überfallen hatte! In diesem Augenblick mußte es geschehen sein. Er hatte gewußt! Es war lange nach Mitternacht gewesen. Um diese Zeit mußte es ihm schon zum Bewußtsein gekommen sein, daß sie versagt hatte. Aber warum war dann sein Gesicht so ruhig? Würde sie niemals Gewißheit erhalten? Würde sie von nun an ihr ganzes Leben von diesem Zweifel gepeinigt werden? Würde sie niemals wissen dürfen, was er in diesem letzten Augenblick von ihr gedacht hatte?
Sie schlug das Tuch weiter zurück, bis seine auf der Brust gefalteten Hände sichtbar wurden. Sie faßte eine Hand und ließ sie los. Die Finger wollten in ihrer Hand nicht bleiben.
Es war seine Geschichte gewesen und sein Schicksal – nicht ihres. Von dem ersten Augenblick, wo er als dunkle Silhouette in ihrer Tür gestanden hatte am St.-James-Square und sie in diesem ersten Händedruck einander begegnet waren, war er es, den die Götter sich auserkoren hatten.
Es gab Menschenleben, denen es beschieden war, so vom Tod vollendet, abgerundet und erfüllt zu werden. Sie hatte die Gewißheit, als sie hier vor ihm stand, und ihn betrachtete – und sie empfand es mit einer Art von Neid –, daß seinem Leben in dieser Art die volle Vollendung beschieden gewesen war. Die Gesetze der Natur, die so unerforschlich waren, waren nicht jeder Gnade bar. Daß eine Liebe, wie die zwischen ihr und ihm, ihre letzte Vollendung fand, war nicht unbedingt das Wunderbarste, das einem Leben wie diesem beschieden sein konnte. Sie las das deutlich aus der süßen Ruhe seines Schlummers. Der Tod hatte ihm Vollendung gebracht. Ihr blieb das Leben, um ihr zu beweisen, wieviel ihrer Schönheit noch zur Vollendung fehlte.
Hier, an seiner Bahre, wußte sie es jetzt. Denn hätte sie ihr Versprechen eingehalten, sie wäre dieser Vollendung, die der Tod gewährte, teilhaftig geworden. Dieselbe Hand, die ihn niedergestreckt hatte, hätte nicht gezögert, sie zu töten. Daran war kein Zweifel. Ihre Körper hätten nebeneinander gelegen und diese Stille gemeinsam besessen, die wie eine große Belohnung war. Gottes Ratschluß, der Ratschluß eines unversöhnlichen Gottes, hätte sich an ihnen beiden vollzogen.
Sie holte sich einen Stuhl und setzte sich neben ihn. Ihr Hirn weigerte sich, zu denken. Sie konnte die Ruhe sehen, die über sein Gesicht gebreitet lag, sie konnte die Kälte dieser Hände spüren, die nichts mehr wärmte, sie konnte dieses Schweigen zwischen Tod und Letten hören, in das nichts mehr von draußen drang. Aber sie konnte nicht denken.
Es war, als sei sie mit ihm gestorben. Zwei lange Stunden saß sie, dieser inneren Gemeinschaft hingegeben, und es schien ihr fast in dieser Zeit, als sei sie ihm dahin nachgekommen, wo er war: daß sie ihm erklärte, warum sie nicht gekommen sei, wie sie versprochen hatte, und daß er sie verstanden hatte.
Es war Stephen, der diese Ruhe störte. Sie hörte, wie jemand die Klinke der verschlossenen Tür niederdrückte. Es schien eine Erinnerung daran, daß da draußen eine andere Welt war, in der Menschen lebten. Er klopfte, und mit automatischen Bewegungen erhob sie sich.
Als sie geöffnet hatte, trat er herein und drückte die Tür hinter sich ins Schloß.
»Sie sind da«, sagte er.
Sie starrte ihn an.
»Wer?«
»Sie wollen ihn nach Youghal hinüberbringen.«
Als müsse sie ihn schützen, zog sie das Tuch wieder über Johns Gesicht.
»Wozu?« fragte sie. Es war das erste und einzige Mal, daß das, was sie bewegte, in ihrer Stimme durchbrach.
»Zur Identifizierung«, sagte Stephen. »Ich glaube wenigstens. Ich nehme an, daß seine Familie ihn in Youghal abholen wird.«
Zum erstenmal kam es ihr zum Bewußtsein, daß noch andere auf ihn ein Anrecht hatten, außer ihr.
»Seine Mutter lebt noch. In Rochestown.«
Sie nickte. In der Diele draußen näherten sich Schritte, Die Tür öffnete sich wieder. Sie trat zur Seite.
Zwei Seesoldaten traten ein. Sie überraschte sich dabei, daß sie auf den Ärmeln ihrer Uniformen nach den Sergeantenstreifen suchte; einer mußte Louises Sergeant sein.
Es schien schon nichts mehr zu bedeuten, als sie den toten Körper vom Tisch hoben und hinaustrugen.
Ein Zipfel des weißen Tuches flatterte im Luftzug, als sie durch die Tür in die Diele hinausgingen.
Es war ihr erster klarer Gedanke.
Dieser Zipfel, der dort flatterte. Sie wußte, daß es das Letzte war, was sie je von John Madden sehen würde.
Ende.