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Am nächsten Morgen – es war ein Sonntag – hatte der Regen aufgehört. Ein wolkenloser Himmel wölbte sich über einem Meer, das in der Glätte und dem milchigen Schimmer eines Opals sich bis zum Horizont ausbreitete. Jane konnte von ihrem Schlafzimmerfenster aus nicht ein einziges Schiff auf der weiten Fläche entdecken. Die wüsten Felder waren mit blühendem Ginster bedeckt, dessen gelbe Töne wie Fanfarenklänge wirkten. Die Feuchtigkeit, mit der sie getränkt gewesen waren, war verdampft. Als Jane aus ihrem Fenster blickte – es war erst neun Uhr – zitterte schon die Luft über dem von der Sonne erhitzten Gras.
Louise brachte den Tee und zeigte ein ausgesprochenes Mitteilungsbedürfnis. Sie hatte ihre vorgefaßten stockenglischen Ansichten über das Ehepaar Troy und brannte darauf, sie loszuwerden.
»Ein Schmutz ist da unten!« sagte sie. »Man sollte es kaum glauben! Es ist nur gut, gnädige Frau, daß diese Leute nicht auch ihre Schlafstube in diesem Teil des Hauses haben.«
Jane trank ihren Tee und blinzelte in das Sonnenlicht. Sie begriff, daß, wie die Felder draußen, auch Louise nach ihrer unbequemen nassen Fahrt in dem offenen Wagen das Bedürfnis hatte, ihre Gefühle verdampfen zu lassen. Für Janes Ohr war es ein weit entfernteres Geräusch als der Gesang der Lerchen über den Ginsterbüschen draußen.
Aber als Louise sich schließlich die Bemerkung erlaubte:
»Grob sind sie auch, gnädige Frau. Man hätte glauben sollen, die Leute könnten froh sein, daß endlich wieder jemand hier wohnt, und daß sie ein Gehalt bekommen wie brauchbare Dienstboten – und dabei habe ich mit meinen eigenen Ohren gehört, wie der alte Troy sagte ...«
Da verschloß Jane dem Sang der Lerchen draußen ihr Ohr.
»Ich wünsche auf keinen Fall, Louise,« sagte sie, »daß Sie mir Dinge zutragen, die Sie etwa hier zufällig hören.« Und obwohl sie es mit großer Festigkeit gesagt hatte, bedauerte sie es einen Augenblick darauf. Es konnte ja sein, daß eines oder das andere von dem, was Louise auf diese Art zu Ohren kam, sich als sehr nützlich erweisen würde. »Wir wissen nicht, wie lange wir hier werden bleiben müssen«, fuhr sie weniger nachdrücklich fort. »Und solange wir hier sind, müssen wir uns mit den Dingen abfinden, wie sie nun einmal sind.«
Trotz allem entsprach es ihrer Stimmung, daß sie sich gegen Louises Enthüllungen zur Wehr gesetzt hatte. Als sie um zehn Uhr endgültig aufgestanden war und aus dem Fenster blickte, war sie froh. Sie weigerte sich einfach, den Geist des Argwohns, dessen Anzeichen sie bemerkt hatte, als Tatsache anzuerkennen. Warum sollten diese Leute ihr Argwohn entgegenbringen? Man mußte ihnen doch mitgeteilt haben, daß Stephen selbst Irländer war. Das zeigte sich ja auch darin, daß sie Stephen gegenüber umgänglicher waren. Sie, Jane, war die »Angelsächsin«, die man haßte. Vielleicht war das der Grund. Trotzdem hätte man eigentlich annehmen müssen, daß John Madden auch in dieser Beziehung vorgesorgt hatte. Wenn er schon den beiden nicht mitteilen wollte, daß Jane in alles eingeweiht sei, so hatte er ihnen doch bestimmt zu verstehen gegeben, daß Jane der Sache Irlands freundlich gesinnt war. Sie fuhr sich mit der Bürste über das Haar, nahm einen Schlafrock um und ging in Stephens Zimmer hinüber.
Er war beim Anziehen. Sie setzte sich auf sein Bett. Er war dabei, vor dem Spiegel auf dem Toilettentisch seine Krawatte zu knüpfen. Sie dachte an die Wachsfiguren im Schaufenster eines Herrenartikelgeschäfts. Alle Männer sahen so aus.
»Dicky,« sagte sie, »was ist eigentlich mit den beiden Troys los?« Trotz all ihrer guten Vorsätze ging ihr die Sache nicht aus dem Kopf.
»Nun, was ist denn mit ihnen los?«
»Mir kommt es so vor, als wollten sie uns zu verstehen geben, daß wir hier nicht willkommen sind. Sie wollen uns hier nicht haben.«
»Unsinn!« erwiderte er. »Wir sind ihnen eben noch fremd. Weiter nichts.«
»Aber ich dachte, gerade die Iren zeichneten sich durch ihre Gastfreundlichkeit aus.«
Er zog den Krawattenknoten zurecht und drehte sich nach ihr um. Ihr Haar floß in zwei langen Zöpfen über ihre Brust. Ihre Wangen waren noch vom Schlaf gerötet. Er vergaß, was er über das irische Volk sagen wollte. Sie sah aus wie ein junges Mädchen. Es war ihm einen Augenblick lang zumute, als sähe er sie zum erstenmal. Er war wieder in Irland.
Als er vor dem Spiegel stand, hatte er zufällig durchs Fenster geblickt und unten einen Mann zur Feldarbeit gehen sehen mit einem der breitrandigen Filzhüte auf dem Kopf, die er von früher her noch so gut kannte. Wie am Tag vorher in Cork hatte er sich blitzartig in die Tage seiner Jugend zurückversetzt gefühlt. Es war eine Art hellseherischer Stimmung. So erblickte er auch Jane zum erstenmal in der Gestalt, wie sie jetzt jedem jungen Mann – wie sie John Madden erscheinen mußte.
Einen Augenblick vorher hatte er das Verlangen empfunden, zum Bett hinüberzugehen, ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen und es mit der Andacht eines Liebhabers zu betrachten; bei dem Gedanken an den jungen Irländer drehte er sich nach dem Stuhl um, über den er seinen Rock gehängt hatte.
»Was sagtest du? Die Irländer sind nicht gastlich?«
Sie hatte alles beobachtet. Sie hatte gesehen, wie der Impuls auftauchte und wieder verschwand. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß er ebenso aussehen würde an dem Tag, an dem sie ihm ihre Beichte ablegte. Und dennoch fühlte sich ihr Gewissen unbelastet. Sie hatte seine Wunde gesehen und ging, um sie zu heilen. Die Hand auf seiner Schulter, sagte sie:
»Zu mir sind sie jedenfalls nicht gastfreundlich. Sie wollen mich nicht, Dicky.«
Er drehte sich herum und lachte sie aus.
»Was weißt du von den Irländern?« fragte er. »Ein Politiker kann sich einbilden, vierundzwanzig Stunden genügen, um die Seele des Irländers zu verstehen, aber für einen Menschen, der mit Vernunft und Empfinden begabt ist, sind vierundzwanzig Stunden bei weitem nicht genug.«
Sie starrte ihn an und lachte verblüfft: er sprach mit einem deutlich wahrnehmbaren irischen Akzent.
Es war mehr als seine Jugend. Das Land selbst hatte wieder von ihm Besitz ergriffen.
Natürlich: er war aus Irland, aber es reizte zum Lachen, ihn nach so langen Jahren plötzlich wie einen typischen Irländer reden zu hören.
»Weißt du,« sagte sie, »daß du eben genau so gesprochen hast wie der Mann, der uns gestern hergefahren hat?«
Er schüttelte den Kopf. Sie machte sich über ihn lustig. Nun ja, sie war in guter Laune. Es war ein so schöner Tag.
Sie sagte lachenden Mundes:
»Louise und ich, wir sind die einzigen Heiden hier im Haus«, und ging in ihr Zimmer zurück; ihr Schlafrock, ein Gewand aus mattem Brokat, schleppte hinter ihr her und ihre langen Zöpfe lagen tiefschwarz auf ihren Schultern: der sanfte Winkel, in dem sie sich am Hinterkopf teilten, war das letzte, was er von ihr sah.
Sie frühstückten zusammen in dem großen Eßzimmer. Es war ein riesiges, ödes Gemach. Sie saß hinter ihrem Frühstücksei, als Stephen vom Garten hereintrat, und sie winkte ihm scherzhaft, wie aus weiter Ferne zu.
Der Raum war prunkvoll ausgestattet, aber längst war alles verblichen und zerschlissen.
»In Ardmore gibt es einen runden Turm und ein paar interessante Ruinen«, sagte Stephen. »Nach dem Frühstück gehe ich hinüber, um mir das einmal anzusehen. Hast du Lust mitzukommen?«
Sie schüttelte den Kopf. In ihr war ein Vorgefühl lebendig: jeden Augenblick konnte John Madden erscheinen. Er wußte das Datum ihrer Ankunft. Sie hatte eigentlich erwartet, ein paar Zeilen von ihm vorzufinden.
Sie wehrte sich hartnäckig dagegen, dieses Gefühl der Erwartung zu analysieren. Es war etwas, das sie gleichzeitig anzog und ihr Furcht einjagte. Sie hatte das Bedürfnis, damit allein zu sein. Sie wußte, daß es ihr heute unmöglich war, sich auf Stephen einzustellen, wenn er in alten Ruinen herumstöberte und verschollene Jahrhunderte wieder heraufbeschwor.
»Ich muß hier im Haus verschiedenes erledigen«, erklärte sie. »Geh du nur allein. Ich werde den Lunch für ein Uhr bestellen.«
Eine Stunde lang machte sie sich in ihrem Schlafzimmer zu schaffen. Es war zuviel Unruhe in ihr, um sich in den Garten zu setzen und die Hände in den Schoß zu legen, aber auch zuviel Unruhe, um sich irgend etwas ernstlich vorzunehmen. Sie ließ Frau Troy holen und traf ihre Anordnungen. In Ardmore war ein Schlächter, aber der schlachtete nur einmal in der Woche. Einmal in der Woche kam ein Händler mit seinem Karren von Youghal. Aber im allgemeinen mußte man sich anscheinend mit dem begnügen, was man gerade bekam. Bei jedem Stillstand des Gesprächs hoffte sie, daß nun endlich der Name – John Madden – fallen werde.
Aber die Alte begnügte sich, die Fragen zu beantworten, die man an sie richtete. Zu irgendeiner selbständigen Äußerung ließ sie sich nicht herbei. Jane hatte erneut das Gefühl, daß man sie hier boykottierte. Schließlich, als es immer unwahrscheinlicher wurde, daß der Name fallen könne, und Frau Troy ihren umfangreichen Körper langsam der Tür zuschob, hielt Jane sie mit der Frage zurück.
»Wann war Mr. Madden zuletzt hier?«
Das Wesen an der Tür blieb stehen, ohne das Gesicht umzuwenden.
»Meinen Sie vielleicht Hauptmann Madden«
»Jawohl, Hauptmann Madden. Ich wußte nicht, daß man ihn Hauptmann nennt.«
»Daß man ihn Hauptmann nennt?!«
»Nun – daß er Hauptmannsrang hat.«
»Oh – in unserer Armee gibt's die Titel Leutnant und Hauptmann und Major und was Sie sonst noch wollen.«
»Wenn Sie sich herumdrehen wollten,« sagte Jane gereizt, »könnte ich vielleicht besser verstehen, was Sie sagen.«
Frau Troy blickte schräg über die Schulter ins Zimmer zurück.
»Ich wollte sagen –«
»Jawohl – ich hörte, was Sie sagten. Aber Sie haben nur meine Frage nicht beantwortet. Wann war Hauptmann Madden zum letztenmal hier?«
»Vor ein paar Tagen.«
»Vor wieviel Tagen?«
»Ich habe es nicht genau im Kopf.«
»Sagte er, wann er wiederkommt?«
»Nee.«
»Und hat er auch nichts Schriftliches für Mr. Carroll hinterlassen?«
»Nee – für Sie selbst auch nicht.«
Es lag so viel kalte Berechnung in dieser Antwort, so viel Bösartigkeit, daß Jane nicht weiter fragte. Mit ein paar Worten, die zeigen sollten, daß man ihre Anspielung nicht verstanden hatte, wurde Frau Troy entlassen.
Was bedeutete das? Sie wußte jetzt, daß ihr erster Eindruck nicht Einbildung gewesen war. Niemals bisher in ihrem Leben war sie diesem Geist des Mißtrauens begegnet. Warum gerade jetzt? Hatte John Madden den Leuten nicht das geringste mitgeteilt? Oh – was für Kinder waren es doch! Mißhandelte Kinder, Kinder, die von klein auf gelernt hatten, jede fremde Hand, die sich nach ihnen ausstreckte, mit Mißtrauen zu betrachten.
Ihre Lippen zitterten. Louise klopfte an die Tür. Da ihr nicht geantwortet wurde, kam sie herein. Jane griff hastig nach Mantel und Hut und lief zur Tür. Der Anblick Louises war ihr zuwider.
Sie rannte hinunter. Die großen Fenstertüren, die aus dem widerlich riechenden Eßzimmer in den Garten führten, standen alle weit offen. Sie trat hinaus. Jenseits des Rasenplatzes war eine Tür in der Gartenmauer. Sie trat in die Felder hinaus. Etwas tiefer lagen die Strandklippen. An ihrem Rand entlang lief ein Pfad durch das Heidekraut. Sie schlug ihn ein, wußte nicht, und es war ihr auch gleichgültig, wohin er führte.
Nur allein sein wollte sie. Eine zynische Stimmung, in der sie sich selbst, den anderen Menschen, der Welt gegenüber, grausam war, hatte sich ihrer bemächtigt. Vielleicht war es doch an der Zeit, die Beweggründe genauer unter die Lupe zu nehmen, die sie hierhergeführt hatten, sie zu packen und ins grelle Licht zu zerren.
Sie war beinah eine halbe Meile weit den Pfad entlang gegangen. Manchmal sprach sie laut zu sich selbst. Wer konnte sie denn hören? Höchstens die Möwen. Ein dicker Felsblock lag im dichten Gras. Thymian und Steinbrech wucherten darauf. Da setzte sie sich hin. Sie sah um sich. Hinter ihr, etwas höher, lief der Wall aus losen Steinen, der das letzte bebaute Feld gegen den Klippenrand abgrenzte. Rechts und links sah sie die roten Sandsteinwände der Küste in steilem Absturz zu der grünen See hinuntertauchen. Sie war allein. Und warum – warum war sie überhaupt hier?
Ihre Gedanken kehrten zur Vergangenheit zurück, bemüht, die einzelnen Fäden ihres Erlebens zu schlichten und zu glätten. Es war, als ziehe sie Faden um Faden aus dem bunten Gewebe eines Gobelins. Sie wollte keinen Selbstbetrug. Wenn dies ein Bild war, so wollte sie wissen, wie es zustande gekommen war.
Wie und wann hatte es begonnen? Es hatte angefangen, lange bevor sie überhaupt von John Madden gewußt hatte. Es hatte begonnen mit den Leuten, die zu Stephen nach dem St.-James-Square gekommen waren. Sie hatte die Abneigung gespürt, die sie der Frau entgegenbrachten, mit der Stephen sich verbunden hatte. Und warum? Nicht bloß, weil sie der verhaßten »angelsächsischen« Rasse angehörte. Ihr Äußeres hatte diese haßerfüllte Abneigung in ihnen wachgerufen. Es steckte etwas Puritanisches in dieser Abneigung, als sei diese Schönheit ein Brandmal auf Janes Brust, statt zu sein, was andere darin sahen, ein Licht, das von ihr ausging.
Jetzt kam sie zu dem Augenblick, wo sie John Maddens Namen zuerst gehört hatte. Warum hatte dieser Name ihre Aufmerksamkeit erregt? Hier, wenn irgendwo – jetzt, wenn irgendwann, galt es, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein, um Gottes willen nur aufrichtig! Er hatte an ihren Ehrgeiz gerührt, den Ehrgeiz einer schönen Frau, die sich bewundert sehen will, und doch wie schwach und verschwommen war dies gewesen! Es war ihr damals selbst nicht zum Bewußtsein gekommen. Diese Rosen – sie hatte sie nicht für ihn gekauft, das war klar, wie sollte sie auch – für einen Mann, den sie niemals bisher gesehen hatte! Nicht für ihn hatte sie dieses besondere Kleid aus dem Schrank geholt, wo es vergessen schlief! Nicht für ihn sich in eine Stimmung gehüllt. Es geschah für alle diese Leute, für Irland!
Und danach –? Bei dem ersten Zusammentreffen an ihrem Tisch – was hatte sie da bewegt? Immer noch nur die Sache Irlands oder er?
Sie ging langsam die Geschichte dieses ganzen Abends durch, wog jedes Wort, das am Tisch gefallen war. Sah alles wieder! Die phlegmatische Selbstsicherheit der anderen, Francis, wie er mit einem großen Wortschwall sich ins Gefecht stürzte, den alten Minister, der an seinen Sätzen feilte und polierte, damit sie glatt von seinen Lippen flossen, die Ironie dieses Aufmarsches einer geschlossenen Übermacht gegen den einen, mit seinem bleichen Gesicht, über dessen Haupt – wie ein blutiges Ehrenzeichen – der Preis von tausend Pfund schwebte.
Auch da noch, selbst da noch, hatte nichts sie bewegt als die Sache Irlands?
Nein, sie täuschte sich nicht. Es war nichts Phantastisches und Romantisches an dieser Episode. Es war alltäglich genug. Ihre Erinnerung betörte sie nicht mit Trugbildern. Sie hatte gefühlt, daß dieser Mann, der da unter den anderen verloren saß, um Hilfe ausblickte, und sie hatte ihm die Hilfe, die er brauchte, zugelobt, mit einem Glas von dem Portwein, den Stephen bei Harrod zu beziehen pflegte. Jede andere Frau an ihrer Stelle hätte dasselbe getan, gleichgültig, ob sie sich auch als Frau zu diesem Mann hingezogen fühlte oder nicht.
So wahr ein Gott im Himmel war, konnte sie schwören, hier, im Angesicht der See, die in breiten Bändern blau und grün und perlmutterfarben zu ihr heraufschimmerte, daß damals, als sie ihm das Glas entgegenhob, von solcher Anziehung zwischen ihm und ihr nicht die Rede war. Aber jetzt? jetzt, nachdem ihre Küsse sich begegnet waren, was war jetzt die Antwort auf ihre Frage? Was war daran schuld, daß sie jetzt wieder nach seinen Küssen Sehnsucht empfand? Was ließ sie jetzt den Wunsch empfinden, in seinen Armen Schutz gegen das Mißtrauen und den Argwohn ringsumher zu finden? War in jedem Gefühl der Liebe körperliche Anziehung am Werk? Und liebte sie ihn jetzt?
Sie schloß die Augen. Aufrichtig sich selbst zu prüfen, war ihre Absicht gewesen, aber statt Aufschluß, fand sie nur Fragen.
Die Dunkelheit, die sie umgab, als sie so die Augen schloß, war eine Erleichterung. Da weckte sie ein harter Schlag gegen die Schulter aus ihrer Versunkenheit. Etwas hatte sie getroffen – so, daß es schmerzte – und war heruntergeglitten. Sie hörte es klirrend auf den Felsen fallen, auf dem sie saß. Sie sah hinunter. Es war ein Stein. Wo kam er her? Wer hatte ihn geworfen? Hinter ihr war der Wall, der den Acker abschloß. Sie sprang auf und rannte den grasbedeckten Abhang hinauf. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie eine Stelle erreichte, von der aus sie Umschau halten konnte. Als sie über die Mauer blicken konnte, sah sie einen Wirbel von Röcken und bloßen Füßen durch eine Hecke ins benachbarte Feld verschwinden. Es war totenstill. Man hörte keine Stimmen. Wer es auch sein mochte, sie hielten sich anscheinend in der Deckung, die die Hecke bot. Sie mußten wie irrsinnig gerannt sein, wie gehetzte Kaninchen. Die Hecke lief einen Hügelkamm hinauf und verschwand in einer scharfen Biegung nach der anderen Seite. Dahinter hatten sie sich außer Sichtweite geflüchtet. Sie sah nichts weiter mehr.
Es war leicht, zu sagen, daß es irgendein törichter Einfall war, wie ihn Kinder beim Spielen haben. Es war das einzige, was man darüber sagen durfte. Sie prägte es sich ein. Es war sinnlos, diesen Kindern nachzulaufen.
Sie kehrte auf dem Weg längs der Klippen nach Hause zurück. Sie sagte sich: Nun, es ist ungefähr die Art Spiel, auf die man bei Kindern gefaßt sein muß, die bei Leuten, wie diesen Troys, aufwachsen. Wenn man es sich nicht leisten kann, einem Kind einen Ball zu kaufen, was bleibt dann übrig als ihm einen Stein zu reichen. Sie wußte selbst, daß sie sich diese Worte vorsprach, um ein anderes Mißtrauen niederzuhalten, das in ihr immer lebhafter wach wurde. Der Gedanke, daß man sie belauert hatte, wollte nicht weichen. Sie trieb ihn fort, er kehrte beharrlich wieder. Das, was alles so fremd und unheimlich machte – war dieses Schweigen. Kinder kicherten, selbst wenn der Streich, den sie im Schilde führten, sie mit atemloser Spannung erfüllte. Sie versuchte sich einzubilden, ein Kichern gehört, aber nicht beachtet zu haben. Aber sie wußte recht gut, daß sie sich selbst zu täuschen versuchte.
Bis sie das Haus erreicht hatte, gelang es ihr, auch diese unerfreulichen Gedanken zu verdrängen. Sie sah in der Episode die erste Probe auf ihren Mut. Männer, wie John Madden, die von einem Versteck zum anderen gehetzt wurden, mußten ganz anderen Dingen trotzen. Was konnte sie John Madden nützen, wenn sie noch nicht einmal den verdächtigen Eindrücken, die sie hier verfolgten, die Stirn zu bieten vermochte.
Sie weigerte sich einfach, ihnen das Feld zu räumen. Als sie über den Rasenplatz auf die Fenstertüren des Salons zuschritt, warf sie den Kopf in den Nacken. Ein Geist der Herausforderung erfüllte sie, und sie sang ein irisches Kampflied.
Sie schritt durch die Tür ins Zimmer und riß ihren Hut herunter. Mit gespieltem Zorn – sie spielte für sich selbst – holte sie aus, um ihn auf den nächsten Stuhl zu schleudern. Sie behielt ihn in der Hand.
Es war jemand im Zimmer, ein Mann. Er war aufgestanden, als er sie erblickte. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Sie war aus dem blendenden Sonnenschein draußen hereingekommen. Sie konnte in dem Halblicht, das im Zimmer herrschte, nichts unterscheiden. Er machte ein paar Schritte ihr entgegen und streckte die Hand aus. Sie hörte ihn sprechen.
»Ich glaube nicht, daß Sie sich noch an mich erinnern«, sagte er mit grobem irischen Akzent. »Sie werden Vater Hanrahan schon längst vergessen haben.«
Sie spürte selbst, wie kalt plötzlich die Hand war, die sie ihm überließ.