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Es vergingen kaum ein paar Tage seit jenem Frühstück mit John Madden und schon fühlte Jane, als schließe sich allmählich die Welt vor ihr, in der sie gelebt hatte. Langsam und unerbittlich schob sich eine Wand zwischen sie und den Kreis ihrer intimen Freunde.
Sie trug ein Geheimnis im Herzen, zärtlich, fest umschlungen, ängstlich besorgt. Es war ein tragisches Geheimnis, tragisch, wie das Wissen um ein Wesen, das vielleicht niemals zum Leben erwachen wird.
Da drüben waren sie am Ende ihrer Kraft. Sie sah sie ewig vor sich, eindringlich, körperlich, die Männer und Frauen, in deren Augen sie einst eine Botschaft gelesen hatte. Sie sah, wie sie in ihren Bergen sich versteckten, in der Heide lagen und der Himmel seinen Regen aus grauen Wolken über sie weinte. Sie hielten Ausschau ringsum, verzweifelt, zum Äußersten gebracht, in höchster Not nach Hilfe ausspähend. Es dauerte nicht lange, da lebte eine Stimme in Jane, die ihr sagte, nach wem sie Ausschau hielten – nach ihr.
Leichthin, gesprächsweise – es kostete sie keine Verstellung – hatte sie Stephen erzählt, daß sie John Madden getroffen und mit ihm gefrühstückt hatte.
»Und Francis,« hatte sie gesagt – sie erzählte es alles rasch nacheinander – ohne Atempause – »Francis war auch da – und machte der lieben Mama aus der Provinz seine pflichtgetreue Aufwartung. Sie sieht gut aus. Natürlich gibt sie viel zuviel für das Wohnen im Hotel aus, damit sie in der Nähe ihres Jungen ist. Was ist das eigentlich für eine Familie, die Cannings? Francis hat uns gesehen, das ist selbstverständlich. Oh, Dicky, du hättest dabei sein müssen, wie er über den Teppich zu uns herübergestiegen kam, wie eine Amsel auf einem Rasenplatz. Sicherlich bildete er sich ein, er verursache uns einen furchtbaren Schreck. Was denkt eigentlich so ein junger Mensch?«
»Denkt er denn?« fragte Stephen.
»Wir wollen es annehmen. Ich habe ihm den Strich gezogen, an dem entlang er denken darf. Natürlich hatte er einen wahren Heißhunger darauf – er war ja kaum erst aufgestanden – zu hören, was ich zu meiner Entschuldigung vorzubringen hätte. Er wollte es mit seiner eigenen Auslegung des Falls vergleichen. Ich schlug ihm vor, mit einer Frühmesse zu beginnen und sich von da weiterzuarbeiten. Seine Neugier kann sich nun damit beschäftigen, soviel es ihm Spaß macht. Ich möchte gerne wissen, was er erzählen wird. Wie sieht es eigentlich innen in solchen Leuten aus? Nimmst du es mir übel, Dicky?«
»Was?«
»Daß ich mit einem fremden jungen Mann frühstücken gegangen bin.«
»Und wenn ich es dir übel nähme,« sagte Stephen verhalten, »was hättest du davon?«
»Wieso?«
»Ich meine, brauchst du es als Hebel, um einer Wiederholung Hindernisse in den Weg zu wälzen, falls der junge Mann zu stürmisch ist?«
Sie sagte: »Wir werden nicht noch einmal im Hydepark-Hotel frühstücken, wenn du das meinst.« Es klang ein wenig gereizt. Es gelang ihr nicht, ihre Stimme davon freizuhalten. Nun fragte sie sich, ob er den Beiklang überhaupt bemerkt hatte.
Er hatte nicht gesagt, was er meinte. Plötzlich schauderte es sie vor dem Leben. Das Gefühl überkam sie, daß nur bei Stephen, nur dort Sicherheit sei – und sie murmelte:
»Dicky, hast du mich lieb?«
Es war noch am selben Morgen. Sie kam vom Hydepark-Hotel. Er saß allein am Frühstückstisch, als sie ins Zimmer trat. Beinah hätte sie bereut. Vor ihr lag ein unbekanntes Meer, von dem sie kaum etwas wußte. Eines aber wußte sie, hier war ein Hafen der Sicherheit. Und noch hatte sie ihn nicht verlassen.
»Hast du mich lieb?« wiederholte sie.
Er nahm ihre Hand und legte sie neben seinen Teller auf den Tisch. Er legte seine eigene Hand darüber und hielt sie fest.
»Ein Mann, der eine Frau nicht lieben könnte, die so der Liebe wert ist, wie du bist, der wäre reif für den großen Markt da draußen, auf dem man sich verrät, betrügt und von der Beute fett wird.«
Sie hatte tief in seine Augen gesehen und nichts finden können, das sie kannte und zu entziffern wußte. Dann hatte er sich abgewandt, um seinen Kaffee zu trinken.
Bei Sybil Winchester, noch am selben Abend, mußte sie erfahren, daß die Geschichte ihres Frühstücks mit John Madden schon im Umlauf war.
Francis war nicht da. Sie benutzte seine Abwesenheit zu einem ironischen Lob. Was für ein unglaublich fixer junger Mann.
»Er kam zu mir zum Lunch,« sagte Lady Winchester, »aber er war sehr reserviert – ganz und gar zugeknöpft. Weigerte sich zu sagen, wer dein Begleiter war. Ein junger Mann aus Irland. Mehr nicht. Jane, eigentlich könntest du mir alles erzählen. Meinst du, daß er zu uns zum Essen kommen würde?«
»Wie gastfreundlich! Ich glaube, daß es ihm höchst unangenehm sein würde, kommen zu müssen.«
»Warum?«
»Ihr seid viel zu reich, ihr habt viel zuviel Messer und Gabeln bei euren Picknicks.«
»Was? – Ist er nichts weiter als ...?«
»Nichts weiter als ein Ire«, sagte Jane.
»Aber wo hast du ihn aufgegabelt?«
»Dicky.«
»Ach, ja natürlich – eines von Stephens komischen Originalen. Ich glaube, Irland ist jetzt direkt interessant. Man erzählt es sich wenigstens. Aber ich glaube nicht, daß irgend jemand wirklich weiß, was drüben los ist.«
Am nächsten Tag fügte es der Zufall, daß Jane mit Anthony Draper im Savoy-Hotel zusammentraf. Er aß allein an einem der Fenster, die nach der Themse hinausgehen. Sie beobachtete ihn. Sie selbst war Gast an einem anderen Tisch – von diesem Augenblick an ein sehr zerstreuter Gast. Man erwartete, daß sie amüsant sei, aber ihre Gabe ließ sie heute im Stich. Als sie sich entschuldigte und zu Draper hinüberging, sagten die anderen:
»Was ist mit Jane vorgegangen? Wo hat sie plötzlich dieses würdige Benehmen her? Hat sie das selbst zustande gebracht, oder hat es ihr jemand testamentarisch vermacht?«
Stephen Carrolls Gesicht wirkte wie in Holz geschnitzt, Anthony Drapers Kopf war aus Stein gemeißelt. Er war grau wie Stein, kalt wie Stein. In einer gewissen Beleuchtung kam in die steinern grauen Augen ein Anflug von Farbe. Die Statue atmete, begann zu leben, aber es war das Leben des Steins, hart wie Granit.
Ein solcher leiser Anflug von Leben glitt auch über Anthony Drapers Gesicht, als Jane sich seinem Tische näherte. Sie kam heran wie ein kostbarer bunter Schmetterling, der mitten im Flug unschlüssig über einem sonnenwarmen Felsen verharrt.
»Mr. Draper?« sagte sie. Er nahm die Hand, die sie ihm hinhielt. »Wir kennen uns eigentlich. Sie haben natürlich vergessen, wieso. Wir wollen gar nicht erst den Versuch machen, uns zu erinnern, wo wir uns gesehen haben. Es muß dort schrecklich öde gewesen sein, sonst hätte sich gewiß Gelegenheit gefunden, mehr von Ihnen zu hören, als die schlichte Tatsache, daß Sie mit der Mauretania herübergekommen sind. Ich möchte mich hier einen Augenblick hinsetzen. Sie wollen natürlich meinen Namen wissen, den Sie längst vergessen haben. Ich bin ›Frau Stephen Carroll‹, wie man in Amerika sagt.«
»Nicht nötig, von ›Frau Stephen Carroll‹ zu reden,« sagte Draper, »ich habe erst gestern wieder Ihren Namen gehört, und es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß ich ihn einige Male gehört habe, seitdem ich in London bin. Aber man spricht dann von Frau Jane Carroll. Man spricht von ihr wie von irgendeinem Meisterwerk, das einer Ihrer armen reichen Leute hier in seiner Galerie hängen hat.«
»Und das deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit demnächst nach Amerika verkauft werden wird, meinen Sie.«
»Wenn man Geld hat,« sagte Draper, »kann man eine Pflanze mit den Wurzeln kaufen, aber man kann nicht den Boden kaufen, in dem sie wächst. Man kann eine Tonne Erde dazu kaufen, aber was bedeutet das? Ich hatte einen Freund, der hat hier ein altes Landhaus gekauft. Er hat es nach Amerika geschafft, wie man ein Puppenhaus wegträgt. Er hat ein großes Besitztum in Connecticut, da sollte es sich vom grünen Rasen abheben, wie ein hübsches Gemälde. Aber es stand noch nicht zehn Jahre, da ging die Patina herunter, als wäre sie draufgemalt. Mein Freund hatte keine Freude mehr daran; seine Bekannten fragten ihn, ob Lilley in Nangatock es auf Bestellung für ihn angefertigt habe. Ich habe den Verdacht, daß das nie für Geld zu haben ist, wonach man sich wirklich sehnt.«
Er sah sie an, hart, steinern, wie Felsen blicken.
»Aber, welchem Umstand verdanke ich diese unerwartete Neubelebung unserer Bekanntschaft? Sie werden mir verzeihen, aber in der Regel läßt man sich mir lieber zum sechsten Male vorstellen, als einen Bekannten in mir zu begrüßen.«
Sie brauchte ihn gar nicht genauer zu beobachten, um zu sehen, wie gut John Madden ihn kannte. Sie fühlte, daß alle Wärme, die sie in ihren Blick gelegt hatte, nur auf kalten Stein traf, und fragte sich verwundert, wie dieser Mann überhaupt je dazu gekommen war, der Sache Irlands irgendeine Spur von Enthusiasmus zu bezeugen. Dies war ihr Urteil. Zu jeder anderen Zeit und bei jeder anderen Gelegenheit hätte es genügt. Sie hätte es für unter ihrer Würde gehalten, weiter um die Gunst eines Mannes zu werben, der ihr mit diesem kühlen Blick ins Gesicht sah. Sie ging durchs Leben als Herrscherin. Nur die hatte sie brauchen können, die bereit waren, ein Knie zu beugen und den Mantel auf ihren Weg zu breiten, und hier stand ein Mann, der in ihrer Gegenwart das Haupt nicht entblößte. Und dennoch zwang sie sich, um sein Wohlwollen zu werben. Es ging um eine große Idee und einer von ihnen beiden, er oder sie, mußte entblößten Hauptes stehen, wo diese Idee gegenwärtig war. Wenn nicht er, dann sie!
»Ich glaube im geheimen, Sie sind kein Freund von plötzlichen Impulsen,« sagte sie, »und wenn Sie die Behauptung, daß ich impulsiv zu Ihnen herübergekommen bin, nicht gelten lassen wollten, dann ziehen Sie mir, wie ich gestehe, schon von vornherein den Boden unter den Füßen weg.«
Er hatte sich von seinem Stuhl erhoben, als sie an seinen Tisch trat. Sie standen beide. Vom Fenster fiel ein schräger Streifen Sonnenlicht über sie hin. In diesem Goldlicht schien sie kaum noch der Erde anzugehören.
»Dann wäre es vielleicht besser,« schlug er vor, »wenn wir uns setzten.«
Sie lehnte lachend ab und sagte:
»Ich habe drüben schon die Horsd'œuvres gegessen. Sie sehen, daß ich meinen Gastgebern schon zu sehr verpflichtet bin. Ich darf mich hier nicht niederlassen. Aber Sie müssen sich unbedingt setzen.«
Er tat, wie ihm geheißen wurde. Er war nicht aus einem Land, wo Männer sich weigern, einer Frau zu gehorchen, weil gewisse Vorurteile ihnen wichtiger sind als die Frau selbst. Sie verlangte von ihm, sich hinzusetzen, obgleich sie selbst stand – und er setzte sich, ohne um seine Mannesehre besorgt zu sein.
Sie fuhr fort: »Es war nichts als Impuls, was mich herführte. Einer meiner Bekannten erzählte mir, daß Sie an Irlands Schicksal Interesse nehmen.«
Er unterbrach sie ohne weiteres.
»Es gibt in den Vereinigten Staaten zwanzig Millionen Amerikaner, die irischer Herkunft sind. Ich gehöre zu ihnen. Aber es gibt in Amerika neunzig Millionen hundertprozentige Amerikaner und zu denen gehöre ich ebenso. Amerika gibt nicht sein Hemd her, um Leuten zu helfen, die nur an sich selbst denken. Dieser de Valera ist von der Sorte, die nur an sich denkt. Emilio de Valera ist ein glänzender Redner, er kann sozusagen auf beiden Seiten reden und immer gleich gut. Er ist gewiß ein großer Mann, aber das will nicht heißen, daß er ein großer Irländer ist. Sie müssen entschuldigen, daß ich zuerst rede und Sie da stehenlasse, aber es ist ein Schimmer in Ihrem Gesicht, der verrät mir, daß ich versuchen muß, meinen Standpunkt erst ein wenig zu verteidigen, ehe Sie mir sagen, ich hätte die Flinte ins Korn geworfen.«
Sie hatte jedes Wort erfaßt. Ihr Herz pochte heftig. In ihren Augen war ein Licht, das zu verraten schien, daß sie ihm gespannt zuhörte. Was er sagte, schien Eindruck auf sie zu machen.
Es hatte Eindruck auf sie gemacht, aber nicht den, den er sich vorstellte. Sie sah jetzt erst, wie steil der Weg war, den sie zu gehen hatte. Sie betrachtete Drapers in Stein gemeißeltes Gesicht und gebot ihren Augen, ihren ganzen Liebreiz zu verschwenden, dabei lag ein schweres Bleigewicht in ihrer Brust. Da sah sie, wie unter ihrem Blick das steinerne Antlitz sich belebte. Ein Anflug von Farbe kam in die grauen Augen, ein Hauch lebendiger Wärme verbreitete sich langsam über sein Gesicht. Er saß und lächelte, ein tiefes Lächeln, mit dem seine Augen ihren Blick erwiderten.
»Sagen Sie, was Sie zu sagen haben«, sagte er. »Ich will mich nicht damit begnügen, in Ihren Augen danach zu suchen, obwohl ich stolz darauf bin, daß ich in diese Augen sehen darf.«
Sie wußte, es war nicht der richtige Augenblick. Ein kleiner Schritt war getan. Es vorläufig dabei zu lassen, sicherte das wenige, was gewonnen war. Ein verfrühter Schritt zuviel, und alles war gefährdet.
»Es ist so interessant, mit Ihnen zu sprechen,« sagte sie, »daß, wenn ich jetzt und hier davon beginnen wollte, ich mein Lunch an Ihrem Tisch verzehren müßte.«
»Und warum denn nicht?« sagte er.
Sie ergriff die Gelegenheit.
»Ich werde es tun! Morgen!« sagte sie.
»Hier?«
»Hier!«
»Um wieviel Uhr?«
»Ich bin kein Mann«, lachte sie. »Nur Männer sind so sparsam mit ihrer Zeit, ich vergeude sie.«
»Das glaube ich noch nicht so ganz«, sagte er. »Vielleicht versuchen Sie morgen um ein Uhr fünfzehn, ob Sie mich davon überzeugen können.«
Sie ließ ihm ein Lächeln zurück, das ihm an seinem leeren Tisch Gesellschaft leistete, bis er ihn verließ.
Nach dem Lunch saß Jane mit ihrer Tischgesellschaft auf der Terrasse beim Kaffee. Die Konversation um sie herum erschien ihr plötzlich unsagbar hohl. Hatte sie wirklich je an dergleichen teilgenommen?
Es war nichts, was sie noch länger anging. Sie spürte es. Mit einem Scherzwort, das geistreich genug war, um alles auszustechen, was die anderen den Nachmittag über gesagt hatten, entschuldigte sie sich und verschwand. Der Portier am Hoteleingang hatte einen Wagen herangerufen, ehe sie ihn hindern konnte. Zu seiner ungeheuren Verblüffung und auch zu ihrer eigenen, schüttelte sie verneinend den Kopf. Sie ging zu Fuß.
Zu Hause, im tiefen Goldlicht ihres Zimmers, lag ein großer Strauß blutroter Rosen. Sie blieb stehen, hob sie auf, um daran zu riechen und suchte nach einer Karte, einem Brief. Sie läutete. Louise erschien wie ein Schatten an der Tür.
»Wann sind diese Rosen gekommen?«
»Kurz vor Mittag, gnädige Frau.«
»Wer brachte sie?«
»Ein Bote.«
»Hat er keinen Namen genannt?«
»Nein, gnädige Frau.«
»Stellen Sie eine mit Wasser gefüllte Vase in mein Schlafzimmer, Louise. Ich werde die Rosen selbst ordnen.«
Louise verschwand. Jane setzte sich an ihren Schreibtisch, nahm einen Bogen heraus und schrieb:
»Ihre Rosen leisten mir Gesellschaft, bis ich Sie selbst sehen und Ihnen erzählen kann, was ich Neues für Sie habe.«
Sie adressierte den Brief an John Madden. Er hatte ihr den Namen seines Hotels genannt. Sie wollte eben eine Marke auf den Umschlag kleben, da besann sie sich. Die Post war zu langsam. Es war unerträglich, zu denken, wie lange der Brief im Briefkasten ruhen würde, wie lange es dauerte, bis er tatsächlich auf dem Weg zu ihm war. Sie ging ans Telephon und ließ sich einen Botenjungen kommen. Dann ging sie in ihr Zimmer zurück, nahm alle Rosen in ihre Arme und trug sie hinauf.