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Elftes Kapitel

Sie kamen sehr spät. Man wartete auf sie. In dem großen Salon waren schon zwanzig Leute versammelt. Es klang, wie wenn ein Orchester seine Instrumente stimmt. Die Stimmen schlugen über Jane zusammen.

Einzelne bemerkten sofort, daß jemand neu hinzugekommen war, sie machten Platz. Andere standen in Gruppen, festgehalten durch das, was sie sich sagten, nickten sich ernst zu, probierten ihre Instrumente mit Tonleitern, Doppelgriffen und Arpeggien. Alle schienen unter dem Eindruck zu stehen, daß das, was sie zu sagen hatten, unbedingt gesagt werden müsse.

Unzählige Male hatte Jane es erlebt, unzählige Male hatte sich der Kreis für sie geöffnet, damit sie ihren Einzug halten konnte. Sie kannte die Töne auswendig, wie ein Virtuose das verworrene Geräusch der Instrumente kennt, das das Konzert verkündet. Es war ihre Umgebung. Sie wußte auch, daß sie in die unvermeidliche Steifheit solcher Veranstaltungen Leben brachte, daß man sie deshalb überall willkommen hieß. Es gab keinen Mann, der langweilig sein konnte, wenn in ihrer Gegenwart über Politik gesprochen wurde; der wagte, als Mucker zu erscheinen, wenn man über Kunst sprach.

Sie hörte das Gewirr der Stimmen, und ohne es zu wissen, gehorchte sie automatisch dem Impuls der Gewohnheit. Die Konversation, die rings um sie in langen Wellen schwang und vibrierte, übte ihren betäubenden, erregenden Einfluß aus, wie eine exotische Droge. Sie war im Begriff, die Szene zu betreten, ihre Rolle zu spielen, und sie fühlte sich vor sich selbst verpflichtet, sie brillanter zu spielen als alle anderen.

Solange dies währte, schien es, als hätte jeder Gedanke an John Madden sie verlassen. Es war so viel Geräusch um sie. Ein Arm schlang sich um ihren Hals. Die Frau des Hauses. Ein Kuß wurde gegeben und empfangen.

»Jane, so spät, du bist ein Scheusal!«

Und sie schleppte den verspäteten Gast dahin, wo der Knäuel am dichtesten war. Alle vergaben ihr. Es war ein kleiner Triumph. Jane Carroll war in ihr Reich zurückgekehrt. In einer gewissen Distanz von ihr – es war seine Eigenheit, immer diesen Abstand zu wahren, den er sich selbst bestimmte – saß Stephen am Tisch, kaute Brot, verzehrte jedes Gericht, ohne zu wissen, was es eigentlich war, während seine Augen sie träumerisch beobachteten.

Wie Jane selbst von Stephen gesagt hatte: sie kannte ihn zu gut, um ihn zu verstehen. Sie selbst saß zwischen einem Diplomaten, der gerade aus dem Ausland zurückgekommen war, und einem Mitglied des Kabinetts.

Warum kam Stephen überhaupt mit zu solchen Veranstaltungen? Sie hatte den Verdacht, daß es nur geschah, weil er in ihrer Nähe sein wollte. Manchmal schlief er auf dem Rückweg schon im Wagen ein. Sein Kopf fiel nach vorn, sie sah seine Augen sich schließen, dann schien jede Spur von Leben aus seinem Gesicht gewichen. Und doch war er immer bereit, sie zu begleiten, stand, wenn sie herunterkam, getreulich an der Treppe, in dem Abendanzug, der eigentlich schon abgetragen war und den er – selbst ihr zu Gefallen – nicht ablegen wollte.

Erst nach dem Essen kam es ihr plötzlich und peinlich zum Bewußtsein, daß sie John Madden ganz und gar vergessen hatte.

Der Minister hatte sie in einen entlegeneren Winkel des Salons entführt. Er sprach über Irland, gab ihr allerlei Informationen, die so verschwommen waren, daß sie keine waren. Er suchte ihr Interesse zu fesseln, gab aber sowenig wie möglich von solchen Dingen preis, die sie als wertvoll hätte mit nach Hause nehmen können.

»Warum geben Sie sich eigentlich so viel Mühe, mir nichts zu sagen?« fragte sie.

Er protestierte, behauptete, er zöge sie in weitaus größerem Maße ins Vertrauen, als es bei allen anderen Frauen ihrer Bekanntschaft seine Gewohnheit sei. Es fiel ihm nicht schwer, es zu behaupten, es fiel ihr schwer, es ihm zu glauben. Die Erinnerung an John Madden war zurückgekehrt. Wieder fühlte sie das unsichtbare Schicksalsgespinst um sich im Werden.

Der Minister sprach immer noch. »Sie besitzen eine so hochgradige Intelligenz, meine liebe Jane,« sagte er, »daß Sie das Vertrauen geradezu herausfordern. Wenn Sie mit einem aktiven Politiker verheiratet wären, der innerhalb der Regierung eine Vertrauensstelle bekleidete, dann wäre es sozusagen eine notwendige Vorsichtsmaßregel, aus Ihnen ein Mitglied des Kabinetts zu machen.«

Sie prüfte den Ausspruch und beurteilte ihn nach seinem Wert. Sie war skeptisch und auf der Hut. Es ging ihr um mehr, als um eine reizvolle Rolle an der Spitze der Gesellschaft.

Ganz am anderen Ende des Raumes sah sie Stephen in mühevoller Unterhaltung mit einer älteren Witwe. Sie wußte seine Kopfhaltung zu deuten. Der arme, liebe Kerl – er war verzweifelt schläfrig, ganz anders als sie. Für sie galt es hellwach zu sein! Dieses Bewußtsein schärfte ihren Witz und machte sie hellhörig.

»Sie sollten doch Stephen mit Ihren gefährlichen Eröffnungen ein Geschenk machen«, sagte sie. »Ihm liegt die Sympathie für Irland von Geburt an im Blut.«

»Oh, aber auch Sie haben in gewissem Grad Interesse an Irland.«

Sie fühlte, wie er vorsichtig das Terrain sondierte. Bei jeder weiteren Bemerkung, die er mit einer gewissen Beiläufigkeit fallen ließ, sah sie ihn in der gebückten Haltung eines Menschen, der an den Türen horcht.

»O ja, ich mag vielleicht Interesse daran gewonnen haben und das wäre ganz natürlich«, gab sie zu. »Aber ihr laßt ja uns arme Untertanen gänzlich im Dunkel darüber, was in Irland los ist. Sogar Stephen tut nicht viel, um mir Irland interessant zu machen. Vielleicht ist er irischer Patriot. Ich weiß es wirklich nicht. Genau so gut kann eines schönen Tages eine maskierte Bande ins Haus dringen und ihn niederschießen, weil man ihn für einen Regierungsspitzel hält. Ich weiß nicht, was er ist. Sie kennen doch Stephen, er redet selten.«

»Hat er mit seiner Geschichte des irischen Aufstands angefangen?«

»Ich wußte nicht, daß er eine schreiben wollte.«

»Aber – meine liebe Jane!«

»Ich versichere Ihnen, ich habe es nicht gewußt.«

»Trotzdem er John Madden bei sich zu Tisch hatte – von den anderen nicht zu reden, die seit dem Jahre 1914 aus Irland herübergekommen sind, um ihn zu besuchen?«

Es gelang ihm, sie zu überrumpeln. Sie war nicht auf ihrer Hut. Sie lachte und konnte deshalb nicht sehen, daß gerade jetzt sein Ohr ans Schlüsselloch gedrückt war.

»Er – er hatte John Madden zu Tisch?« rief sie aus. »Aber, mein Lieber, wenn ich auch an diesen Dingen kein Interesse habe, so geht es doch nicht so weit, daß ich pflichtschuldigst die Augen schließe, um nicht zu erfahren, was vorgeht!«

»Aber er hatte doch John Madden bei sich zu Tisch.«

»Sie wollten sagen, daß Sie ihn zu Tisch hatten! Ich will Ihnen nur das eine sagen, ich bin sehr versucht, die Rechnungen für dieses Abendessen dem Schatzamt einzureichen. Wie komme ich eigentlich dazu, für die Regierung kleine Küchenarbeiten zu übernehmen?«

»Wieso Sie dazu kommen? Ich nehme an, weil niemand sonst diese Dinge in so fabelhafter Weise erledigen kann«, antwortete er lachend.

»Ihr dachtet, Irland würde sich eher beugen, als brechen? Habt ihr das nicht gedacht? Oh, ich habe an dem Abend eure Leute am Werk gesehen, wie sie sich im Schweiße ihres Angesichts abmühten. Sie müssen ja das alles schon gehört haben. Ich erzähle Ihnen gewiß keine Neuigkeiten. Aber eines hätte ich gerne noch erlebt: ich wäre gern hinter die verschlossenen Türen geschlüpft, Downingstreet zehn, und hätte mit angehört, wie eure Emissäre ihren Rapport erstatteten. Und unser kleiner Francis, mit auf Hochglanz gebürstetem Haar, dienstbereit im Hintergrund. Ihr seid zum Totlachen! Das äußere Drum und Dran des Sieges besitzt ihr vielleicht, aber Irland hat den Willen, und das ist wesentlicher!«

Er rückte sich behaglicher im Stuhl zurecht.

»Sagten Sie nicht, daß Stephen sich nicht besonders bemühe, in Ihnen ein Interesse an irischen Angelegenheiten wachzurufen?« sagte er.

Sie war immer noch erregt, immer noch nicht auf der Hut.

»Nein, er bemüht sich nicht«, sagte sie. »Er überläßt mich mir selbst. Er sitzt und beobachtet. Sehen Sie doch dort hinüber – der arme, liebe Kerl. Sie erzählt ihm ihre ganzen Familiengeheimnisse, weil sie fest überzeugt ist, daß das wundervollste historische Material darin steckt, und die ganze Zeit sieht er uns zu, wie wir hier miteinander sprechen.«

»Demnach haben Sie John Madden recht häufig gesehen?«

Da auf einmal wußte sie Bescheid – war wieder wach und auf der Hut.

Jetzt war er nicht darauf gefaßt, sie plötzlich sagen zu hören:

»Oh, Sie haben von dem Frühstück im Hydepark-Hotel gehört? Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß ich Ihnen die ganze Sache erklären muß. Das hat doch sicher Francis besorgt.«

»Das?« sagte er leichthin. »Oh, das bedeutet weiter nichts. Jawohl, ich habe davon gehört. Wollen Sie wissen, was ich zu Francis darüber sagte?«

»Was Sie zu Francis sagten? Ich nehme an, er wird es mir selbst erzählen, vorausgesetzt natürlich, daß Francis und ich dabei gut abschneiden.«

»›Jane Carroll,‹ sagte ich, ›ist die einzige Frau in London, die das wagen kann, ohne daß Sie dabei auch nur um so viel klüger werden, Francis.‹«

»Gut! Das würde er mir natürlich nicht erzählen. Dazu ist er zu klug.«

Er setzte seinen Gedankengang fort.

»Nein, an Ihr Frühstück hatte ich gar nicht gedacht. Wenn Sie sich nicht sehr in acht nehmen, werden religiöse Anwandlungen in diesem Stil die große Mode werden.«

»Die Bemerkung ist überholt«, sagte sie. »Der Maître d'Hôtel hat mir schon etwas Ähnliches gesagt.«

»Schön. Ich dachte nur über allerlei nach. Sie sind enthusiastisch geworden, liebe Jane. Englands scheinbarer Sieg, Irlands Willen zum Sieg – von irgendwo muß dieser Bazillus Ihnen angeflogen sein. Der Paß dieses jungen Iren scheint mir einigermaßen in Gefahr. Er sollte lieber sehen, daß er nach Hause kommt. Die Leute könnten reden! Kennen Sie die Namen Parnell und Frau O'Shea? Die Geschichte der beiden? Sie wissen, es ist ein seltsames Volk, die Irländer. Ihre Begeisterung für das Moralische neigt zu vulkanischer Heftigkeit. Wenn man da drüben auf den Gedanken käme, daß dieser junge Mann seine Zeit in London in Ihrer Gesellschaft verbringt, so könnten wir – vom Standpunkt der englischen Regierung betrachtet – den Preis, der jetzt auf seinen Kopf gesetzt ist, auf zweieinhalb Pence ermäßigen. Ein Preis wäre von da an vollständig überflüssig. Die Iren würden das Erforderliche gratis und ganz von selbst tun. Nun muß ich sagen, ich liebe es denn doch, mit sauberen Mitteln zu kämpfen. Ganz gewiß ist der junge Mann Eindrücken leicht zugänglich. Wir aber können natürlich daraus keinen Vorteil ziehen wollen. Und ganz gewiß nicht, wenn unsere liebe Jane im Spiele ist.«

Unsere liebe Jane! Sie traute ihren Ohren nicht. Es war raffiniert angelegt. Sie schloß ihre Augen, als ob das Licht sie blende. Es war ein machiavellistisches Meisterstück. Sie versuchte sich einzureden, sie hätte falsch gehört. Es gelang ihr nicht. Dies war ein Vorschlag! Nun sollte sie benutzt werden. Nur ein Irrtum war dabei unterlaufen, sie wußten nichts von der neuen Welt, die sich Jane erschlossen hatte. Sie hatten nicht damit gerechnet, daß sie sich der Sache Irlands geweiht hatte. Sie hatten nicht gehört, was Jane gehört hatte – das tragische Hämmern Irlands an den Toren der Welt.

John Maddens Paß sollte nicht verlängert werden, falls sie – Jane Carroll – nicht ausdrücklich das Gegenteil wünschte. Wenn sie so unklug war, den Wunsch auszusprechen, dann war ja gar nicht abzusehen, welchen Nutzen man aus ihr noch ziehen konnte, welche wunderbare Informationsquelle man sich in ihr erschloß. Mochte ruhig zu guter Letzt ihr Herz bei dem Spiel Feuer fangen, was kümmerte das die Leute, deren Instrument sie war. Unbezähmbare Lachlust befiel sie. Ihr war, als müsse man ihr Lachen durch das ganze Zimmer hören.

Sie lachte nicht. Sie rückte ihm ein wenig näher.

»Es ist nichts als dummer Klatsch, wenn die Leute behaupten, daß er den ganzen Tag mit mir zusammensteckt«, sagte sie. »Er gehört nicht zu meinem Hofstaat.«

Er sprach plötzlich über Kricket. Er hatte sich einstmals in der Kricketmannschaft von Harrow ausgezeichnet.

»Wollten Sie sagen, daß die Regierung, falls John Madden um eine Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung einkommt, aus purer Prüderie ihm die Verlängerung verweigern würde?« fragte Jane.

»Wollen Sie sagen, daß es Ihnen unerwünscht wäre?«

»Sie wollen mir doch nicht einreden,« lachte sie, »daß ich nur mit dem Finger zu winken brauche, damit die Regierung tut, was ich wünsche? Der Mann ist interessant, soviel will ich zugeben, da Sie nun einmal darauf bestehen, daß ich beichten soll.«

Er lächelte ihr zu. Sie sah, wie er sich sozusagen aus seiner gebückten Stellung am Schlüsselloch wieder aufrichtete.

»Es wäre mir interessant, zu hören,« sagte er, »was er Ihnen eigentlich neulich erzählt hat. Ich vermute, er hat mit großem Feuer betont, seine Partei sei entschlossen, durchzuhalten.«

»Ganz richtig.«

»Hat er eine Andeutung über Unternehmungen fallen lassen, die hier bei uns geplant sind?«

»Meinen Sie in England?«

»Jawohl! Ich sage Ihnen das im Vertrauen – die Polizei hat uns verschiedentlich Warnungen zukommen lassen.«

»Nun, wenn er irgend etwas gesagt hätte – wenn er gedroht hätte – Sie waren ja an dem Abend mit dabei. Sie hätten es ja gehört.«

»Oh, ich habe alles gehört, was er bei Tisch vorbrachte. Was ich sagen wollte war, ob er Ihnen persönlich irgend etwas dieser Art anvertraut hat.«

»Soll wohl heißen, bei dem berühmten Frühstück?«

Er lachte laut.

»Sie scheinen zu meinen, daß ich dieses Frühstück als einen verabscheuenswerten Verstoß gegen den Moralkodex betrachte? Meine liebe – liebe Jane,« er beugte sich vor und nahm ihre Hand, »Sie könnten jeden geschlagenen Tag mit Luzifer persönlich morgens und abends zu Tisch sitzen, ich würde dennoch, wenn ich Ihr Beichtvater wäre, keinerlei Beängstigung empfinden über das, was Sie mir zu beichten hätten, wenn die Woche herum ist. Klatsch ist eine Beschäftigung der Leute, die nichts zu tun haben, ich habe vielzuviel Arbeit auf dem Hals.«

»Sie scheinen also zu glauben, daß er sich mir anvertraut?« fragte sie.

»Vielleicht tut er es noch nicht – aber er wird es tun.«

Er lächelte sie an. Es war das Lächeln eines echten Gentlemans, der in dieser besten aller Welten immer von seinem Nächsten das Beste denkt.


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