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Die sieben Tage, die auf Vater Hanrahans Abreise folgten, waren die friedvollsten, die Jane je erlebt hatte. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang glitten die Stunden unmerklich wie Schatten vorbei. Sie vergaß allen Druck des Lebens. Sie glitt leicht von einem Tag zum anderen. Das Leben schien sich von selbst zu leben, ohne Forderung und ohne Anspannung. Sie brauchte nichts zu tun, als auf den Pfaden am Klippenrand entlang zu schlendern und wenn ihr an menschlichem Umgang gelegen war, mit Stephen einen kleinen Ausflug nach Ardmore hinüber zu unternehmen. Zur bestimmten Stunde am Fuß der Klippen in der See zu baden, wurde eine Angelegenheit, die tausendmal wichtiger und brennender war, als je ein gesellschaftliches Zusammentreffen mit dem Premierminister in vergangenen Zeiten.
»Bei all meiner Bewunderung für die Leistungen unserer Londoner Verkehrspolizisten, muß ich sagen,« erklärte Jane, »daß es mir mehr imponiert, wie die gewaltige See sich erlaubt, den Ablauf unserer Zeit zu regeln. Ich muß sagen, daß ich mich jedesmal ärgere, wenn ein Polizist mit aufgehobenem Arm meinen Wagen aufhält. Dem Atlantischen Ozean gegenüber kann man sich nicht ärgern. Troy hat gesagt, wir können von morgen an erst nach dem Tee baden gehen, oder wir müssen um sechs Uhr früh aufstehen. Hast du Lust, um sechs Uhr früh aufzustehen, Dicky? Vielleicht werde ich wirklich aufstehen. Es ist schwer zu glauben, daß einem von Gott ein noch wohlgeordneterer Lebenslauf beschieden werden könnte, als das Leben, das wir führen. Ich bilde mir ein, wenn ich um sechs Uhr morgens aufstehe, bin ich imstande, mir in den Kopf zu setzen, ich selbst hätte mein Leben so ordentlich geregelt.«
In dieser Zeit des Friedens, dieser Atempause, die so voller Schweigen war, daß Jane sich des Ablaufs der Zeit kaum bewußt wurde, fiel nicht einmal John Maddens Name. Sie empfand es als eine neue Pause in dem Stück, in dem die tragende Rolle ihr zugefallen war.
Am Tag nach Vater Hanrahans Abreise waren Jim Tierneys Verwandte mit einem Handkarren von Clashmore herübergekommen, um die Leiche abzuholen, drei Personen, sein Vater, seine Mutter und seine Braut.
Sie waren alle schweigsam, sehr still. Wortlose Ergebung in das Schicksal umgab sie. Sie klagten nicht. In der Gegenwart dieser Fremden aus England trugen sie eine stolze Zurückhaltung, wie wenn es Trauerkleider wären.
Dieser Tote war ihr Besitz, den zu reklamieren sie gekommen waren. Sie forderten ihn nicht wie einen irdischen Besitz, sondern wie ihren Anteil an dem Reiche, das nicht von dieser Welt ist. In ihrer Einfalt lag eine stumme Würde.
Der flache Boden des Karrens war mit einer dicken Lage Stroh bedeckt. Als Jane sah, wie sie den toten Körper aus dem Haus brachten, glitt sie hinüber nach dem Blumengarten, an dessen Wand Jim Tierney in der vorigen Nacht erschossen worden war. Die ersten Rosen sprengten gerade ihre Knospen. Ein paar Spätlinge unter den Tulpen blühten noch in voller Pracht. Die belebende Wärme des Golfstroms hatte den Garten mit Blüten gefüllt. Sie pflückte, was ihre Arme fassen konnten und eilte vors Haus zurück. Sie hatten ihren Karren schon gewendet und waren auf dem Weg nach Hause. Stephen stand unter der Tür und sah ihnen nach. Seine Augen glitten zu ihr hinüber.
Königinnen pflegen solches zu tun, dachte er. »Sie kann Blumen schenken,« sagte er zu sich, »als hätte sie sie selbst geschaffen.« Und er blieb, wo er stand, und sah ihr zu, wie sie den Leuten nacheilte und den kleinen Zug unter den Kronen der immergrünen Eichen erreichte. Er konnte gerade noch sehen, wie sie den Toten mit Blumen überschüttete. Der Alte stand dabei und hatte seinen Hut abgezogen. Die Mutter knickste und vergrub dann ihr Gesicht in der Schürze. Das junge Mädchen haschte nach Janes Hand und kniete nieder, um ihre Lippen darauf zu pressen. Er kennte sehen, daß es Jane in Verwirrung setzte; aber in ihrer Verwirrung wirkte sie noch königlicher als zuvor.
Dann war sie zum Haus zurückgekommen, aus dem Schatten der Bäume hinaus ins Sonnenlicht. Er trat zur Seite, um sie durch die Tür zu lassen. Sie huschte an ihm vorbei, ihre Lippen lächelten, aber ihre Augen waren voll Tränen.
Das war das eine Ereignis, das die Ruhe dieser sieben Tage unterbrochen hatte. Ein zweites war das Auftauchen eines kleinen Fischerbootes zwei Tage später, das auf die Klippen unterhalb des Hauses zusteuerte. Es war Jane, die zuerst das Knarren der Ruder in den Dollen wahrnahm.
»Da kommt ein Boot,« rief sie aus, »hörst du es nicht?«
Sie hatte längst einen Pfad in den Klippen entdeckt, der zum Meer hinunterführte. Sie eilte hin, um mit dem Boot unten zusammenzutreffen. Es saß niemand drin als ein Bursche von fünfzehn Jahren.
»Wo kommen Sie her?« fragte Jane.
»Knock-a-doon, Madam.«
Sie sagte nichts mehr.
Aber Stephen, der ihr gefolgt war, schien zu Fragen aufgelegt. Er erkundigte sich, wem das Boot gehöre.
»Sean Troy, Herr.«
»Ich denke, er hat sein Boot hier liegen?«
»Hat er auch, Herr.«
»Nun also, wie kommen Sie zu seinem Boot?«
»Man hat mir gesagt, ich soll's herüberbringen.«
»Von Knock-a-doon?«
»Jawoll, Herr.«
Jetzt hörten sie Schritte auf dem Felsboden einer nah gelegenen Höhle, und Sean Troy selbst tauchte auf.
Stephen hatte anscheinend heute Neigung, den Detektiv zu spielen.
»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte er.
»Ich bin dadrin gewesen«, sagte Sean Troy kurz angebunden. »Habe meine Hummerkörbe ausgebessert. Die hat das schwere Wetter neulich schön zugerichtet.«
Stephen warf einen Blick auf Jane und las völligen Mangel an Interesse in ihrem Gesicht. Er entnahm daraus, daß er sich anscheinend an ihren Geheimnissen vergriff, wenn er noch weitere Fragen stellte. Troy und der junge Bursche waren mit dem Boot ins Innere der Höhle verschwunden. Jane hatte sich bereits auf den Rückweg gemacht. Stephen folgte ihr den Klippenpfad hinauf. Auf halbem Weg setzten sie sich beide auf eine Felsplatte. Draußen auf dem Wasser machte ein Taucher Jagd auf einen Sprottenschwarm. Sie sahen ihm zu. Stephen wartete, bis der Vogel zweimal unter dem Wasserspiegel verschwunden war, dann sagte er plötzlich:
»Wann hat eigentlich Sean Troy sein Boot nach Knock-a-doon gebracht und was in aller Welt kann ihn veranlaßt haben, es tagelang drüben liegenzulassen?«
»Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, unter diesem Himmel hier zu faulenzen, als daß ich mich darum bekümmern könnte, was Sean Troy unten, in den niederen Regionen, tut oder unterläßt.«
Er hatte sie flüchtig angesehen. Sie hatte seinen Blick aufgefangen und gehalten.
»Frau Troy in ihrer Küche ist mir reichlich genug«, hatte sie hinzugefügt. »Ich lege keinen Wert darauf, mich mit den beiden auch nur ein bißchen mehr zu beschäftigen, als es unbedingt notwendig ist.«
»Sie scheinen also bei näherer Bekanntschaft nicht gewonnen zu haben?«
»Nicht ein bißchen.«
Er öffnete den Mund nicht mehr. In ihrem Leben gab es etwas, mit dem er nichts zu tun hatte.
Und so saß er neben ihr, auf die See hinausblickend. Ein Lachen huschte über sein Gesicht.
»Heraus mit dem Witz!« sagte Jane.
»Oh, ich freute mich nur an dem Gedanken,« sagte er, »daß ich eine besondere Philosophie mein Eigen nennen kann.«
»Und worin besteht sie?«
»Ich bin mir klar darüber, daß ich von einer Minute nie mehr verlangen kann als die sechzig Sekunden, die darin sind.«
»Was soll das bedeuten?«
»Was es bedeutet, weiß ich selbst nicht. Aber als philosophischer Grundsatz ist es, meinem Gefühl nach, unglaublich wahr, und sich dazu durchzuringen, ist eine Leistung, die dem Durchschnittsmenschen im allgemeinen schwer fällt.«
Und sie, neben ihm auf dem Klippenrand sitzend, wartend auf John Maddens Rückkehr, empfand, daß sie erreicht hatte, was dem Durchschnittsmenschen so schwer fiel.
Im Verlauf der Woche waren Nachrichten über Überfälle oben in den Bergen bei Clogheen ihnen zu Ohren gekommen, und zwar durch den Offizier der kleinen Seesoldatenabteilung, die in Ardmore einquartiert war.
Die zwei oder drei Mal, wo Jane mit Stephen drüben im Dorf gewesen war, hatte sie benutzt, um mit dem jungen Offizier, der in der Küstenwachstation das Kommando hatte, auf freundschaftlichen Fuß zu kommen. Leute in der Nachbarschaft von Ardmore hatten Einladungen zu Tennis und Tee ergehen lassen. Auch Jane und Stephen waren eingeladen worden. Es war ihr nicht schwer gefallen, sie alle um ihren Stuhl zu versammeln. Sie hatten von Stephen Carroll, dem bekannten Historiker, gehört, sie drängten sich in hellen Haufen um Jane, seine Frau.
»Natürlich war dieser neue Überfall wieder von John Madden eingefädelt«, erzählte man ihr. Es war nicht schwer, das herauszufinden. Auch der Verbrecher hat seine festgelegten Methoden. Es war nach altem, wohlbekannten Rezept verfahren worden. Eine scharfe Biegung in der Straße, gleich hinter der Kurve ein Graben quer über die Straße gezogen, der tief genug war, daß die Vorderräder eines Autos unweigerlich darin festfahren mußten und Aussicht bestand, daß sämtliche Federn des Wagens unter dem Anprall brachen. Zwanzig Soldaten vom Staffordshire-Regiment waren auf einem Lastkraftwagen durch den Paß nach Cahir unterwegs gewesen. Ein Personenwagen fuhr als Spitze voraus, geriet in den Graben, war erledigt. Die Vorderräder völlig verbogen. Bis der Lastkraftwagen mit den Mannschaften heran war, fegten schon von den Höhen rechts und links die Salven über das Ganze hin. Dreißig oder vierzig Kerle mußten da oben hinter den Felsblöcken und Gebüschen versteckt liegen. Sie schossen aus nächster Nähe. Ein regelrechtes Gefecht hatte sich entwickelt, und es stellte sich heraus, daß die Leute vom Staffordshire-Regiment zahlenmäßig unterlegen waren. Die ganze Abteilung geschlagen! Die Verwundeten abgeschlachtet, wo sie lagen! Von den Banditen dieser sogenannten irischen Armee war keine Gnade zu erwarten. Halsabschneider, Mörder – ein Schwerverbrecher jeder, der dazu gehörte!
»Und hatte die andere Seite denn gar keine Verluste?« fragte Jane.
»Elf Tote. Man hat sie am nächsten Tag gefunden.«
»Aber John Madden haben sie nicht erwischt?«
»Nein, aber der Tag kann nicht mehr fern sein, wo er gepackt wird. Ein Mensch kann nicht ewig solch ein Glück haben. Man wird ihn erwischen, und man wird Gollins erwischen, und wenn es erst so weit ist, dann ist dem Faß der Boden eingeschlagen. Von Kämpfen wird dann bei ihnen nicht mehr die Rede sein.«
»Sie haben natürlich gehört, was uns am Sonntag passiert ist?« fragte Jane.
Natürlich hatten sie alle davon gehört, brannten aber darauf, die Geschichte in ihrer Fassung zu hören.
»Sie müssen aber nicht etwa glauben,« sagte Jane, »daß der Hauptmann nicht ungemein militärisch und umsichtig aufgetreten sei. Es gab nicht einen Unterrock, den er nicht aufgehoben hätte – nicht wahr, Dicky?«
Stephen lächelte.
»Und er erschoß den Mann ganz ordnungsgemäß in meinem Garten an den Pfirsichspalieren. Er gefiel mir wirklich – nein tatsächlich, ich versichere Ihnen, er gefiel mir. Er war so schneidig und energisch wie ein richtiger Soldat. Freilich war es anders, als er in meinem Zimmer war. Der arme kleine Kerl. Ich konnte es ihm am Gesicht ablesen, wie unbehaglich er sich fühlte.«
Das war am Freitag abend gewesen. Am Sonnabend morgen sah Jane, die im Blumengarten saß, einen kleinen barfüßigen Jungen die Auffahrt herunter auf das Haus zusteuern. Er pfiff vor sich hin. Sie hörte ihn. In der Mauer des Gartens war ein bogenförmiger Ausschnitt. Er glitt daran vorbei und war verschwunden. Sie hatte ein Buch vor sich und vergaß das Ganze rasch.
Der Morgen ging dahin, und sie hatte mit keinem Gedanken mehr daran gedacht. Sie saß nach dem Lunch mit Stephen auf dem Rasen draußen, um Kaffee zu trinken, als Sean Troy vom Haus her auftauchte.
Er nahm sich Zeit und schien mit voller Überlegung so zu manövrieren, daß er in Stephens Gesichtskreis geriet. Irgendeine versteckte Zelle ihres Gehirns fühlte sich dadurch beunruhigt. Troy trug einen Brief in der Hand.
Es war ein Brief von John Madden, und Troy hatte sich die Zeit so ausgesucht, daß Stephen dabei war, wenn sie ihn erhielt. Der kleine barfüßige Junge hatte den Brief gebracht. Troy hatte den Brief mehrere Stunden zurückgehalten.
Sie zwang sich, nur mit ihrem Kaffee beschäftigt zu sein, bis der Alte unmittelbar vor ihr stand, erst dann sah sie auf.
»Was ist los?« fragte sie. »Ach, ist das für mich?«
»Ihr Name steht drauf«, antwortete er.
Sie nahm ihm den Brief aus der Hand.
Mrs. Jane Carroll – aber es war nicht John Maddens Handschrift.
»Wann ist der Brief gekommen?« fragte sie.
»Vor 'ner Weile.«
»Wie lange ist's her?«
»Es kann sein, sind Stücker zehn Minuten gewesen, es kann sein, es war mehr.«
»Wer hat ihn denn gebracht?«
»So ein kleiner Lausbub.«
»Ein kleiner Junge? Ja? Etwa zwölf Jahre alt?«
»Ich hab' ihn nicht gefragt, wie alt er ist.«
»Barfuß?«
»Vielleicht war er barfuß, vielleicht hat er Strümpfe angehabt. Ich hab' ihn nicht mit allen zwei Augen zugleich angeguckt.«
Aber jetzt glotzte er sie mit allen beiden Augen an, Augen, die nicht wankten und nicht zuckten, als sie seinen Blick erwiderte.
»Schön. Vielen Dank«, sagte sie und wartete auf sein Verschwinden. Er marschierte über den Rasen nach dem Haus zurück. Im Augenblick, wo er in der Tür verschwand, sah er rasch über die Achsel nach ihr zurück. Sie hatte ihn beobachtet. Dann war er verschwunden.
Jane riß den Umschlag auf und las:
»Ich schicke diesen Brief durch Leute, auf die ich mich verlassen kann. Wahrscheinlich wird ihn ein zerlumpter kleiner Bote aus Ardmore in Ihr Haus bringen. Fragen Sie nicht, wie der Brief gekommen ist, nehmen Sie es so selbstverständlich, wie Sie können, wie es für mich selbstverständlich ist, daß ich jeden Tag an Sie schreiben müßte, wenn ich alles zu Papier bringen wollte, was mir in den Kopf kommt, wenn ich an Sie denke.«
Jane sah von ihrem Brief auf. Sie hätte sich niemals die ruhige Stimme zugetraut, mit der sie jetzt sagte: »Der Brief ist von John Madden.«
Es schien so aufrichtig gegen Stephen und doch war es das unaufrichtigste, was sie tun konnte. Sie wußte es. Bis zu diesem Augenblick hatte sie immer geschwiegen. Wenn John Madden verteidigt werden mußte, so hatte sie ihn mit Schweigen verteidigt. Nun fühlte sie die Notwendigkeit gekommen, zu sprechen, und die Art, wie sie von der Wahrheit Gebrauch machte, war täuschender als die gröbste Lüge. Sean Troy hatte es darauf angelegt, Stephen beizubringen, von wem der Brief kam, und ehe er noch Gelegenheit gehabt hatte, sich selbst die Frage vorzulegen oder sie darum zu fragen, hatte sie es ihm gesagt. Das war alles.
»Wie ist der Brief hierhergekommen?« fragte Stephen.
»Irgend jemand in Ardmore hat ihn mit einem Boten herübergeschickt.«
»Ich glaube, sie stecken alle unter einer Decke.«
»All diese Fischer, die friedlich am Kai sitzen und ihre Netze ausbessern und mit den Seesoldaten Witze reißen. Ich glaube, es ist nicht ein einziger unter ihnen, der nicht bis über die Ohren mit drinsteckt.«
Sie stimmte ihm zu. Es würde sie nicht überraschen, wenn es so wäre.
»Worüber schreibt er dir?«
»Ich denke, er will mir nur mitteilen, was vorgeht. Ich habe den Brief noch nicht gelesen.«
Ihre halbe Aufrichtigkeit hatte ihn irregeführt. Er stand von seinem Stuhl auf und trat neben sie. Sie unterdrückte mühsam den Impuls, den Brief rasch zusammenzufalten, der offen auf ihrem Schoß lag, um zu verhindern, daß er darin las, wenn er sich über sie beugte.
»Nicht wahr, du nimmst dich in acht, daß du wegen dieser Burschen nicht in Ungelegenheiten gerätst?« murmelte er mit den Lippen gegen ihre Stirn. Er küßte sie und ging.
Sie saß noch lange und sah auf die See hinaus. Sie konnte sich nicht dazu bringen, einen Blick in den Brief zu werfen, solange Stephens Worte noch in ihr nachschwangen. So voll tiefen Vertrauens waren sie gewesen – es brauchte Zeit, bis andere Gedanken sich dazwischengeschoben hatten. Es mochte volle fünf Minuten gedauert haben, ehe sie den Brief wieder aufnahm, der in ihrem Schoß lag.
»Ich frage mich manchmal selbst, warum ich in dieser Nacht geflohen bin. Was hätte es schon gemacht, wenn sie mich erwischt hätten. Oftmals habe ich in der Zwischenzeit gedacht, daß Jim Tierney von uns beiden das bessere Los gezogen hat. Aber solche Gedanken kommen immer nur, wenn ich so übermüdet bin wie in der Nacht, in der ich in Ihr Fenster geklettert bin. Ich muß sagen, es kommt recht oft, daß ich so über alle Maßen müde bin. Aber wenn ich mal eine Nacht lang schlafen durfte – auch diesen Luxus leiste ich mir manchmal –, dann bin ich wieder frisch genug, mich daran zu erinnern, daß ich Sie wiedersehen werde und sogar bald.
Sie war so weiß und war so zart,
Zu Glanz und Gram war sie geboren.
Kennen Sie das? Ich weiß nicht, wo es steht, aber es ist das, was ich in Ihnen sehe. Ich habe die ganze Woche über oben in den Bergen gesteckt – es kann sein, Sie werden noch davon hören, warum – und manchmal nachts, wenn ich mir auf der Heide mein Lager gesucht habe, dann sah ich Sie so weiß und zart gegen die dunklen Berge. Das ist keine Welt der Wirklichkeit. Mir ist oft so, Irland ist nichts Wirkliches, Sie sind nichts Wirkliches. Es ist nur ein Gedanke, der Formen annimmt und von einer geheimen Kraft bewegt einhergeht, so wie ich Ihr Traumbild über die Hügel wandeln sehe, und bei alledem setzen wir den aussichtslosen Kampf fort, bloß weil der Gedanke soviel stärker ist als wir selbst.
Wie hätte ich sonst Sie in London treffen können, wenn nicht diese geheime Kraft am Werke gewesen wäre. Dinge, die so viel bedeuten, können von sterblichen Männern, und Frauen weder geplant noch bewerkstelligt werden.
Vielleicht werden Sie jetzt denken, ich verliere den inneren Halt. Es ist nicht so. Aber wenn man wie ich so oft unter freiem Himmel schlafen muß, unter einem Himmel, der mit Sternen übersät ist, wenn die ganze Weite des Himmels mein Fenster ist und das Bett eine Insel, die im Meer schwimmt, dann würden Sie verstehen, daß einen manchmal ein Zweifel befällt, ob das, was rings um einen existiert, Wirklichkeit ist oder nicht.
Mag es sein, was es will, man strebt vorwärts, weil diese geheime Macht einen treibt. Irland wird zu guter Letzt ja doch seine Freiheit gewinnen, selbst wenn wir unterliegen, und der Zeitpunkt, wo wir unterliegen müssen, ist nicht mehr allzuweit entfernt. Ich habe gehört, daß sie am 28. wieder eine Unmasse Truppen von England herübergesandt haben und Craig ist nach London gefahren, um sich mit seinen Freunden zu beraten, aber verschaffen Sie sich die englischen Zeitungen und lesen Sie nach, was wir drüben tun. Und wenn Draper nächste Woche wirklich eintrifft, dann sind wir wieder fähig, das Spiel eine Weile fortzusetzen.
Ich habe Ihnen noch nicht für das gedankt, was Sie neulich nachts für mich getan haben. Was bedeutet ein Dank? Für mich ist Irland in Ihnen und Sie sind Irland, und ich kämpfe für beide mit dem Blut, das in meinen Adern fließt, und mit dem Willen, der irgendwo unter meinem Schädel verborgen sitzt.
Nächste Woche können Sie jeden Tag darauf gefaßt sein, daß ich bei Ihnen auftauche. Ich kann nicht genau sagen, wann. Diese Engländer sind jetzt so sicher, daß sie mich hier oben irgendwo erwischen können, daß, wenn ich nach Ardogina hinunterkomme, ich dort unten so furchtlos umherwandeln kann, wie die drei Männer, die unverletzt durch die Flammen des Feuerofens geschritten sind und deren Namen ich längst vergessen habe. Wenn Sie die Photographie von mir gesehen hätten, die im Fahndungsblatt abgedruckt ist, dann würden Sie erst wissen, wie sicher ich sein kann.«
Sie legte den Brief in den Schoß. Es stand nichts von Liebe darin und doch wußte sie, daß es der einzige von wirklicher Leidenschaft erfüllte Brief war, den sie je empfangen hatte. Er hatte ihr Furcht eingejagt.
Sie fand keinen Schlaf in dieser Nacht und nicht in der nächsten. John Madden füllte ihr Zimmer mit seiner Gegenwart. Es war nicht mehr nur Irland. Soviel hatte sein Brief zum Ausdruck gebracht. Sie wußte nicht mehr, wie es enden sollte.
Montag nachmittag – die Ängste, die sie erfüllt hatten, waren unter dem Einfluß des ruhigen Alltagslebens langsam von ihr abgeglitten – saß sie nach dem Lunch mit Stephen auf dem Rasen draußen und hörte plötzlich, wie die Glastür hinter ihnen geöffnet wurde. Stephen war der erste, der sich umsah.
»Großer Gott!« sagte er.
Noch ehe sie sich auf seinen jähen Ausruf hin umgesehen hatte, wußte sie Bescheid.
Da stand John Madden. Er lachte. Und sie wußte, daß er gefeit war gegen jede Tücke des Schicksals, solange dies Lachen in ihm wohnte.