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Auf dem Vorplatz draußen kam und ging das Geräusch von Schritten und gedämpften Stimmen, als Zimmer um Zimmer untersucht wurde. Manchmal waren sie so dicht an der Tür, daß man jeden Augenblick auf ihr Zurückkommen gefaßt sein mußte. Dann wieder war es, als hätten sie das Haus überhaupt verlassen.
Jane saß noch immer halbaufgerichtet in ihrem Bett. Sie hatte sich nicht gerührt, als die Tür zufiel. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, sich hinzulegen. Sie brauchte, um der Dunkelheit Herr zu werden, die nach dem plötzlichen Auslöschen der Kerzen das Zimmer überschwemmte, die Ohren genau so dringend wie ihre Augen.
Der mondlose Himmel draußen, der vorher in einem tiefdunklen Blau den Rahmen des Fensters gefüllt hatte, erschien jetzt beinah so schwarz wie der Raum. Ein paar vereinzelte Sterne waren in diese Schwärze wie mit einer feinen Nadel hineingestochen. Sie hörte nicht mehr das Hämmern der See an den Klippen unten. Ihre Sinne konzentrierten sich nur auf die Gefahr: alles andere drängte sie zurück. Sie war taub. Sie war blind. Nur ihr Herz sah und hörte. Sie wußte um jede Bewegung der Verfolger draußen. Sie fühlte, wie sie aus Stephens Zimmer, im anderen Flügel des Hauses, zurückkehrten, lange ehe ihre Schritte hörbar wurden. Es schien ihr nicht wunderbar. Hier, in ihrem Bette sitzend, rief sie Kräfte ihres Inneren auf, von deren Vorhandensein sie immer gewußt hatte, ohne daß jemals der drängende Augenblick gekommen war, in dem sie ihrer bedurfte.
Die draußen stiegen jetzt nach dem Turm hinauf. Das ganze Haus lag in Schweigen. Und trotzdem befähigte sie ein sechster Sinn, den Schritten zu folgen. Jetzt kehrten sie zurück. Die Männer standen wieder draußen auf dem Vorplatz. Sie bildeten, dicht vor ihrer Tür, eine kleine Gruppe und sprachen miteinander.
Man erzählt von einer chinesischen Folter, die darin besteht, daß ein Wassertropfen in regelmäßigen Abständen auf das Haupt des Gefangenen niederfällt. Nach einer gewissen Zeit wird er wahnsinnig. So ähnlich wirkte auf sie das halblaute Gemurmel, das bald näher herankam, bald verschwand. Aber sie wußte genau, wie lange sie noch fähig sein würde, es zu ertragen. Sie lächelte in die Dunkelheit hinein, als sie hörte, wie alle zusammen die Treppe hinuntergingen.
Sie hörte die Stimmen unten von der Halle herauf – ein gleichmäßiges, eintöniges Geräusch, ein Baß, eine gedämpfte Begleitung zu der komplizierteren und beherrschenden Melodie ihrer eigenen Gedanken. Von nun an nichts mehr als Begleitung! Sie wußte, man würde nicht mehr zurückkommen. Die fürchterliche Spannung ließ etwas nach. Das Fenster, hinter dem der Himmel für ihre Augen wieder sein tiefes Blau angenommen hatte, warf ein schwaches und unbestimmtes Licht ins Zimmer. Man konnte die Bürsten, die Parfümflaschen und die Puderdose auf dem Toilettentisch erkennen. Darüber zeichnete der Spiegel seine samtschwarze Silhouette gegen das Blau da draußen. Jane konnte jetzt wieder die See hören. Und dann brach plötzlich, lärmend, das Geräusch der See, das Murmeln unten im Haus übertäubend, das Bewußtsein über sie herein, daß sie in diesem Zimmer nicht allein war.
Wenn sie sprach, würde John Madden ihr Antwort geben. Sie preßte die Lippen zusammen und sagte nichts. Aber diese Stille war nicht zwischen ihr und ihm, sie war nur um sie beide herum, ein Ding, das sie zusammen abschloß gegen die übrige Welt. Sie waren isoliert. Niemand in diesem Hause wußte, daß sie hier beide zusammen waren, und das war, als würden sie zusammengetrieben. Es lag eines Zimmers Breite zwischen ihnen und trennte sie dennoch nicht. Sie spürte ihn dichter in ihrer Nähe als damals, als er im Salon am St.-James-Square in ihren Armen gelegen hatte.
Nun kamen die Erinnerungen an all das zurück, was geschehen war. Augenblick um Augenblick. Das leise Klopfen am Fenster, als sie im Bett lag und las. Das plötzliche Aussetzen des Denkens, das dieses Klopfen am Fenster ausgelöst hatte. Das Stocken des Atems. Im selben Augenblick schon hatte sie alles erraten und restlos begriffen. Ohne zu zaudern, war sie aus dem Bett gesprungen und ans Fenster gelaufen. Sie hatte gewußt, wer klopfte. Ganz selbstverständlich hatte sie es gewußt. Sie hatte ihn hereingelassen. Als er über die Brüstung des Fensters ins Zimmer kletterte, hörte sie – nein, sie fühlte – die furchtbare Erschöpfung, die sich in seinem Atmen verriet. Und wie sie gewußt hatte, wer an ihr Fenster klopfte, so wußte sie auch sofort, was diese Zeichen zu bedeuten hatten.
»Warten Sie nur so lange, bis ich wieder in meinem Bett bin,« hatte sie gesagt, »dann können Sie eine der Kerzen anzünden.«
Als zwischen seinen Fingern das Streichholz aufleuchtete, sah sie, wie seine Augen unter dem Einfluß der Erschöpfung fiebrig glänzten. Und als der volle Schein der Kerze auf ihn fiel, sah sie einen Mann vor sich, dessen Lebenskräfte zu Ende waren. Er war nicht mehr fähig, zu sprechen, er stand bloß vor ihr, leise schwankend, und starrte sie an, auch jetzt noch dem Zauber ihres Anblicks unterliegend. Er war viel zu matt, um ihr erklären zu können, was geschehen war. Sie mußte es Frage um Frage aus ihm herausziehen. Schließlich huschte ein schwaches Lächeln über seine Lippen:
»Ich habe Ihnen ja gesagt, ich bin ein gehetztes Wild. Es war ein ruhigeres Leben damals am Tisch im Hydepark-Hotel. Nicht wahr?«
Er hatte gewußt, daß sie in diesen Tagen in Ardogina angekommen sein mußten. Woher diese Gewißheit kam, vermochte er nicht zu erklären, aber vor allem beschäftigte ihn jetzt die Sorge um den Mann, der mit ihm zusammen auf der Flucht war.
»Jim Tierney ist einer von unseren besten Leuten.« Er wiederholte es beharrlich und versuchte – wie ein Betrunkener – Jim Tierneys ganze Geschichte zu erzählen, ja, er verbreitete sich weitläufig – versuchte es wenigstens – über das Aussehen und das Leben des Mädchens, das Jim Tierney liebte.
Eine Weile hatte sie ihn gewähren lassen, und dann hatte sie mit der Faust auf ihre Decke geschlagen und gesagt:
»Aber Sie – Sie! Was werden Sie jetzt tun?«
»Ich muß versuchen, durch die Keller in die Höhlen da unten zu kommen. Dann kann ich mit Sean Troys Fischerboot von hier weg. Entweder ich fahre quer über die Bucht nach Cap Helvic oder nach der anderen Seite nach Knock-a-doon hinüber, wie es gerade am besten scheint. Aber ich werde von hier nicht weggehen, ehe ich gesehen habe, ob ich nicht für Jim Tierney noch etwas tun kann.«
»Heute noch?«
»Aber natürlich.«
Und in diesem Augenblick hatten sie unten das Auto vorfahren hören. Eine Art Lächeln zuckte tun seinen Mund, als sei er hier der Gastgeber, der seine ersten Gäste kommen hört.
»Hören Sie? Sie kommen!« hatte er gesagt.
Er war wie betrunken in seiner Müdigkeit.
Sie hatte für diesen völlig passiven Mann das Versteck auf dem Schrank entdeckt, hatte ihn angewiesen, den Stuhl dort hinüberzuschieben, und ihm befohlen, hinaufzuklettern und sich droben zu verbergen. Erst als sie sicher war, daß er jedem Blick verborgen war, hatte sie die Kerze ausgeblasen.
»Sie werden doch Jim Tierney nicht erwischt haben? Oder glauben Sie?« hatte er durch die Dunkelheit zu ihr herüber gefragt.
»Wenn Sie schon an sich selbst nicht denken wollen,« hatte sie geantwortet, »wollen Sie dann nicht wenigstens an mich denken?«
Und sie hatte gehört, wie er vor sich hinmurmelte: »Großer Gott!«, als fiele ihm erst jetzt ein, welcher Gefahr sie sich aussetzte.
Und da, von diesem Moment ab, hatte er geschwiegen wie. ein Toter.
In Wirklichkeit hatte sie sich selbst und ihrer eigenen Gefahr keinen Gedanken geschenkt. Wenn sie sich einer Gefahr aussetzte, wenn sie an diese Gefahr dachte, so hatte sie im Dunkeln vor sich hin gelächelt. Und dann waren sie gekommen und hatten an ihre Tür geklopft. Es galt zu handeln, und unter dem Zwang, zu handeln, hatte sie jede Gefahr vergessen. Als sie hörte, daß Stephen dem Offizier gegenüber zugegeben hatte, daß sie beide John Madden kannten, hätte sie am liebsten vor Ärger mit den Fäusten auf ihre Decke getrommelt. Jetzt, wo der Offizier gegangen war, merkte sie erst, daß dieser unterdrückte Ärger ihr Ansporn und Schwung gegeben hatte, die Eitelkeit des jungen Offiziers zu ihrem Vorteil auszunützen.
Nichts war ihr entgangen, was in den Augen dieses Hauptmanns zu lesen war. Kein Gedanke hatte sich auf seinem Gesicht verraten, den sie nicht wie auf einer Goldwage gewogen und gemessen hätte. Sie hatte wohl gemerkt, wie sein Blick auf ihre Brust gerichtet war, und hatte genau abgewogen, wie weit es ihm verstattet war, diesen Blick als zufällig gelten zu lassen.
»Ist dies hier eine Inspizierung«, hatte sie gesagt und dazu gelacht, aber dabei sorgfältig jede Bewegung vermieden, die ihn des Anblicks, den er genoß, hätte berauben können. Dies war kein Augenblick, in dem Prüderie am Platze war. Sie wußte, sie kämpfte hier um John Maddens Leben.
Und jetzt waren sie alle gegangen. Selbst die Folter, sie in der Ferne sprechen zu hören, hatte aufgehört. Soweit überhaupt von Sicherheit die Rede sein konnte, solange die Soldaten im Hause waren, war man jetzt sicher. Und sie war allein mit John Madden. Sie glaubte, seine Atemzüge hören zu können. Diese letzte halbe Stunde hatte ihm eine recht armselige Gelegenheit gegeben, sich von seiner Erschöpfung etwas zu erholen!
Durfte sie jetzt wagen, zu ihm hinüberzuflüstern? Sie tat es, aber sein Name kam nicht lauter als ein Atemzug über ihre Lippen.
»John!«
In ihren Ohren klang es wie ein Dröhnen. Sie wartete. Keine Antwort kam. Er hatte nichts gehört. Sie konnte sich nicht entschließen, es noch einmal zu versuchen. Unten in der Diele hörte man wieder sprechen. Sie unterschied die Stimme des jungen Offiziers; er sprach jetzt scharf, militärisch, schneidig.
Was geschah dort unten? Jetzt war plötzlich wieder völlige Stille. Sie fragte sich: auf was warte ich hier? Sie empfand, daß auch John Madden drüben wartete und lauschte.
Die Haustür unten fiel krachend ins Schloß. Es war still, sehr still. Nun konnte sie wieder das Meer hören und das leise Geräusch, mit dem die Jalousie im schwachen Wind ans Fenster schlug.
Sie spürte nur das eine: wie sie die Nägel in die Handflächen grub, als in diese Stille rasselnd eine Salve brach, eine jäh ansteigende Tonleiter von Schüssen, die die Stille zerriß. Sie hörte Johns Stimme durch die Dunkelheit. Ein Stöhnen.
»Heilige Mutter Gottes!« rief er.
»Um's Himmels willen, schweigen Sie doch!« flehte sie.
Er sagte nichts mehr. Es wirkte wie das Schweigen der Ehrfurcht vor dem Tode. Und dann merkte sie, daß er weinte wie ein Kind, weinte, wie Männer weinen, mit ersticktem Stöhnen, weil sie sich schämen.
»Sie können nichts helfen«, flüsterte sie. »Sie müssen jetzt an sich selbst denken«, und sie fügte hinzu: »Lieber.«
Wieder war eines gefallen von den Kindern, deren stürmische Fäuste an den Toren der Welt trommelten. Sie hatte niemals, bis zu diesem Augenblick, von Jim Tierney gehört, aber sie hätte um ihn weinen können wie um ein eignes Kind.
Jetzt hörte man Schritte auf der Treppe. Sie zwang sich zur Fassung, zwang sich mit einer Energie, die sie sich nie zugetraut hätte. Es klopfte an der Tür.
»Wer ist da?« fragte sie.
»Stephen.«
»Was ist passiert?«
»Nichts – ich erzähle es dir morgen früh.«
Sollte sie es dabei belassen?
»Was hatten diese Schüsse zu bedeuten?«
Er öffnete die Tür, nur einen Spalt.
»Ich werde es dir morgen erzählen. Versuche doch, ob du schlafen kannst. Hauptmann Barrow bleibt bis morgen früh hier«, fuhr er fort.
»Warum?«
»Ach, ich kann's auch nicht sagen. Er erklärt, er sei nicht zufrieden.«
»Mit was?«
»Mit allem. Ich kann es dir jetzt nicht erklären.«
Sie war überrascht über den Ton, in dem Stephen mit ihr sprach; er redete wie ein Mitverschworener, wie einer, der seinem Führer Gehorsam bezeugt.
»Und wo wird der Hauptmann schlafen?«
»Gerade das wollte ich dich fragen.«
»Neben deinem Zimmer, drüben im anderen Flügel, ist doch noch ein Raum, nicht wahr?«
»Ja, aber das Bett ist nicht überzogen.«
»Verlangt er etwa, daß ich aufstehe, um ihm das Bett zu machen und ihn auch noch schön in sein Deckchen einzupacken? Wie?«
»Nein – er ist bestrebt, sich zu entschuldigen.«
»Er hat auch allen Anlaß. Frau Troy wird dir sagen, wo Bettzeug zu finden ist. Steck' ihn in das Zimmer neben dir. Hat er Soldaten bei sich?«
»Ja.«
»Was geschieht mit ihnen?«
»Er hat eine Wache rund um das Haus aufgestellt. Er selbst will nur ein paar Stunden schlafen.«
»Wieviel sind es denn?«
»Außer ihm sechs.«
»Alle draußen?«
»Ja.«
»Er denkt also immer noch, John Madden ist hier?«
»Er scheint sich von dem Gedanken um keinen Preis der Welt trennen zu können.«
»Schön. Kann ich jetzt versuchen, zu schlafen?«
Er bejahte. Bejahte mit seltsam zärtlicher Stimme und schloß die Tür so sachte wie eine Mutter, die aus dem Schlafzimmer ihrer Kinder kommt. Sie konnte kaum seine Schritte auf der Treppe hören. Er hatte sich auf den Fußspitzen weggeschlichen.
»Wir werden sie hören, wenn sie wieder nach oben kommen«, flüsterte sie. »Was werden Sie tun?«
»Ich werde noch eine Stunde warten,« sagte John Madden, »dann werde ich handeln.«
Es dauerte zehn Minuten, die ihr wie Stunden vorkamen, ehe sie Stephen mit dem Offizier und Vater Hanrahan auf der Treppe hörte. Sie sah die drei vor sich, nebeneinander, drei Männer, so von Grund auf verschieden, an Art, Wesen und Bestimmung. Wie seltsam das Leben Menschen und Schicksale zusammenwarf!
Sie horchte hinaus und entnahm aus dem, was sie hörte, daß der Priester sich von den anderen getrennt hatte, ohne ihnen gute Nacht zu sagen. Es schien Absicht darin zu liegen. Er hatte es eben noch erleben müssen, wie einer seiner Landsleute kaltblütig ermordet worden war. Vielleicht hatte er den letzten Trost als Seelsorger spenden müssen. Für ihn mußte es das gewesen sein, was für die Männer von der Gegenpartei der Anblick der drei Soldaten gewesen war, die, hinterrücks erschossen, auf der Straße nach Villierstown lagen. Und war der Unterschied groß? War es ihm gegeben, in dieser Sache zu richten? Mitgefühl für den Priester wurde in ihr wach, eine flüchtige Anwandlung, die rasch dahinstarb, als ihr die Erinnerung an den grausamen asketischen Zug in seinem Gesicht so lebhaft zurückkam, daß sie seinen Kopf im Dunkeln vor sich sah.
Ihr Mann und Barrow waren auf dem Vorplatz noch stehengeblieben. Sie sprachen miteinander. Aus Stephens kurzen Antworten hörte sie heraus, wie sehr er sich Gewalt antun mußte, um höflich zu bleiben.
Hauptmann Barrow sagte: »Gute Nacht.«
Stephen zeigte ihm den Weg zu seinem Zimmer.
»Hier den Gang hinunter, das erste Zimmer links.«
Mochte es sein, was es wollte, was zwischen ihr und Stephen bestand, sie bereute nicht, daß es bestand.
»Bitte, entschuldigen Sie mich nochmals bei Ihrer Frau.«
Der Hauptmann war in sein Zimmer gegangen. Stephen klopfte an ihre Tür.
»Was ist?«
Er öffnete die Tür, gerade weit genug, um den Kopf hereinzustecken.
»Er ist jetzt zu Bett gegangen«, sagte er. »Seine Leute sind ums Haus herum aufgestellt. Er hat mich gebeten, dich nochmals wegen der Störung um Entschuldigung zu bitten.«
»Gehst du jetzt ins Bett?«
»Jawohl.«
»Gute Nacht, Dicky.«
»Gute Nacht, Liebes, schlaf gut.«
»Schlaf gut!«
Die Tür schloß sich wieder. Seine Schritte verhallten. Sie hörte, wie seine Schlafzimmertür sich schloß. Sie richtete sich in ihrem Bett ganz auf.
»Warum nicht jetzt?« flüsterte sie.
»Besser, man wartet noch ein bißchen.«
»Nein, jetzt! Jetzt, wo alle in ihren Zimmern hin und her gehen, ehe sie sich endgültig legen, wirkt jedes Geräusch unauffällig und ist ohne weiteres erklärlich. Wenn Sie warten, bis es im Hause ganz still geworden ist, so laufen Sie Gefahr, daß Barrow noch wach liegt und horcht. Das geringste Geräusch würde seine Aufmerksamkeit erregen.«
»Sie müßten bei uns einen Offiziersposten bekommen – auf Grund Ihrer überlegenen Intelligenz«, sagte er.
Sie starrte durch das dämmrige Zimmer nach ihm hinüber. Sie sah einen Schatten sich bewegen: er war im Begriff, sich aus seinem Versteck zu erheben.
»Brauchen Sie Hilfe?«
»Ich kann den Stuhl nicht sehen. Steht er überhaupt noch, wo er stand, oder ist er weggerückt worden?«
»Er steht noch da.«
»Ich fürchte, ich verfehle ihn, wenn ich herunterklettre. Der Schrank ist so hoch, ich kann nicht einfach herunterspringen.«
»Um Gottes willen! Das dürfen Sie auf keinen Fall!« flüsterte sie. »Warten Sie! Ich will Ihnen helfen!«
Sein Bein baumelte in der Luft. Er angelte damit nach dem Stuhl. Blitzschnell war sie aus dem Bett gesprungen und stand unter ihm. Aber, obwohl sie seinen Fuß faßte, um ihm den Weg nach dem Stuhl zu weisen, konnte er ihn nicht ganz erreichen.
»Ich muß versuchen, Sie zu halten, solange es geht«, flüsterte sie. »Wenn ich sage ›jetzt‹, lassen Sie sich so sacht herunter, wie Sie nur können. Ich werde dafür sorgen, daß Sie richtig auf dem Stuhl landen.«
»Diese Schränke werden nicht richtig gebaut,« sagte er mit tiefem Ernst, »sie sind bei weitem zu hoch.«
Sie versuchte, soviel wie möglich von seinem Gewicht abzufangen, als er sich vorsichtig vom Schrank gleiten ließ. Ein Schritt vom Stuhl herunter, und er stand neben ihr. Er sagte nichts. Er war still, unheimlich still.
Sie fürchtete für ihn und für sich. Wenn er sie jetzt in die Arme nahm? So ging ihnen beiden etwas verloren, was jetzt ihr gemeinsamer kostbarer Besitz war. Sie stand und zitterte.
»Gehen Sie wieder in Ihr Bett«, flüsterte er.
Sie wandte sich sofort um und schlüpfte unter die Decke. Sie war froh, daß sie gehen durfte.
»Gehen Sie jetzt,« flüsterte sie, »warten Sie nicht!« Sie streckte über die Decke weg ihm die Hand hin.
Er kniete nieder und führte ihre Hand an seine Lippen.
»In einer Woche werde ich wieder hier sein. Um die Zeit muß Draper hier ankommen.«
»Aber es ist doch so leicht möglich, daß man auch in acht Tagen noch in dieser Gegend nach Ihnen sucht.«
»Ich werde dafür sorgen, daß sie dann schon längst oben in den Galtee-Bergen auf mich Jagd machen. Es genügt ein kleiner Überfall dort oben in den Bergen. Sie werden nichts Eiligeres zu tun haben, als sich dort in der Gegend nach allen Seiten zu zerstreuen, um nach mir zu suchen. Ich werde dann dafür sorgen, daß ein paar von meinen Leuten sie in Atem halten, so daß ich ungestört hierher durchschlüpfen kann.«
»Und Sie werden sich nicht unnütz in Gefahr begeben?«
»Das ist leicht gesagt und schwer getan«, sagte er. »Ich habe einen verläßlichen Mann, den ich herschicken werde, falls mir etwas zustoßen sollte. Das verspreche ich Ihnen. Wenn ich weg bin, können Sie ans Fenster gehen: vielleicht hören Sie ein leises Geräusch wie von einem Ruder, das in den Dollen knarrt, das bin ich. O Liebste – Liebste – Liebste!«
Und so verließ er sie. Die Worte brannten noch auf ihrer Hand, über die er sie gehaucht hatte, sie hallten noch in ihrer Brust, diese Worte, die sie gierig getrunken hatte. Und er war gegangen. Sein Schatten glitt durch das Dämmerlicht des Zimmers, hob sich schwarz und verschwommen einen Augenblick von der Helligkeit des Fensters ab und verschwand dann in dem Dunkel an der Tür.
Sie strengte ihre Augen an, um zu sehen, wie er nach der Klinke griff. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Draußen war es völlig dunkel. Eben noch hatte sie geglaubt, ihn zu sehen, und gleich darauf war er verschwunden. Sie hatte ihn nicht hinausgehen sehen. Die Tür schloß sich. Ihr Herz setzte aus. Es war ihr, als müsse es auf das warten, was ihm erlaubte, weiterzuschlagen. Niemals zuvor hatte sie ein Gefühl so grausamer Spannung durchgemacht. Es war mehr, als ein Mensch ertragen konnte, sagte sie sich, und doch ertrug sie es.
Wie viele Minuten wartete sie? Sie wußte es nicht.
Sie schlüpfte aus dem Bett, fand einen Schlafrock, den sie überwerfen konnte. Das Fenster war offen. Himmel und Meer verschmolzen am Horizont. Kein Geräusch als die Wellen, die sich fern, weit weg, an den Riffen brachen. Die Sterne glänzten still, so still. Sie schienen auf etwas zu warten – wie sie.
Und da hörte sie es. Wie er gesagt hatte: das leise Knarren eines Ruders in den Dollen. Nur das und das Zischen der See. Und dann nur noch die See.