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Drittes Kapitel

»Ich bin von Killeagh herübergekommen«, erklärte Vater Hanrahan. »Wahrscheinlich wissen Sie gar nicht, wo Killeagh liegt?«

Sie schüttelte den Kopf. Er war der erste Mensch in Irland, der sie als Bekannte begrüßte. Sie versuchte, den Mann, der vor ihr stand, mit dem schweigsamen, wie auf den Mund geschlagenen Priester in Verbindung zu bringen, der sich in ihrem Londoner Salon so unbehaglich gefühlt und so peinlich plump gezeigt hatte. Es waren dieselben Augen, derselbe kalte, verdammende, exkommunizierende Blick, der sich unter buschigen Augenbrauen versteckte. Es war derselbe Zug von Unbarmherzigkeit um sein bläulich rasiertes Kinn. Sie erkannte das Gesicht wieder, das Gesicht eines Asketen, den der selbstgewählte Zwang verhärtet hat. Es war dasselbe Gesicht, aber ein anderer Ausdruck. Hier war er selbstsicher, gelassen und es war ihm gleichgültig, ob er willkommen war oder nicht. Sie wußte sofort, daß er hier nicht aus der Fassung zu bringen war. Kein noch so glänzendes und spitzes Wort, dessen sie fähig war, hätte es vermocht.

»Killeagh«, fuhr er gelassen fort, »ist die letzte Station vor Youghal. Es ist meine Pfarre. Ein Freund hat die Zwölf-Uhr-Messe für mich übernommen, so daß ich den Zug nach Youghal erwischen konnte. Ich bin von der Fähre aus zu Fuß hierhergekommen, weil ich Ihren Mann sehen wollte. Nun ist er, wie ich höre, ausgegangen.«

»Er ist nur nach Ardmore, er kommt zum Lunch zurück. Sie müssen unbedingt auf ihn warten. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Sie kämpfte darum, Herrin der Situation zu werden, aber dauernd drängte sich ihr das Gefühl auf, daß es nicht ihr Haus war, in dem sie sich befand. Es war ihm schon gelungen, sie das fühlen zu lassen. Er hatte, anscheinend mit Absicht, versäumt, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Es war, als versuche er, sie von vornherein auszuschließen. Seine Stimme verriet es, und in seiner Art, sich ihr gegenüber zu geben, fühlte sie denselben Wunsch, sie zu boykottieren, wie bei Frau Troy. All der innere Mut, den sie künstlich heraufbeschworen hatte, verließ sie. Es war ihr nicht gelungen. Die Furcht vor dem Mißtrauen, das sie umgab, war nicht ganz und gar vertrieben.

Sie hatte den Wunsch, ihn nach John Madden zu fragen, und zögerte. Beinah empfand sie Angst, in seiner Gegenwart den Namen zu nennen. Und dennoch war gerade dieser Name das einzige, was ihr als Rechtfertigung dafür dienen konnte, daß sie nach Irland gekommen war. Auf der ganzen Fahrt waren sie immer wieder von englischem Militär und von englischer Polizei angehalten worden, hatten die Pässe vorzeigen müssen, die ihnen die englische Landesverwaltung im Schloß zu Dublin ausgestellt hatte. Hier, im irischen Lager, mußte John Maddens Name als Paß dienen. Sie hatte nichts Schriftliches. Ihre einzige Legitimation war es ja, daß ein Offizier dieses Heeres der Aufständischen Vertrauen in sie gesetzt hatte.

Einige Zeit verging mit einer belanglosen Unterhaltung über London, aus der nur das eine hervorging, allzu deutlich hervorging, daß Vater Hanrahan jeder Erörterung über den irischen Aufstand auswich. Schließlich fand sie ihren gewohnten Mut wieder. Sie hielt ihm ihren ungeschriebenen Paß so dicht unter die Augen, daß er ihn nicht ignorieren konnte.

»Haben Sie in der letzten Zeit irgend etwas von Hauptmann Madden gehört?« fragte sie.

Wenn sich auch nur das leiseste Fältchen in seinem Gesicht geregt hätte, sie hätte es bemerkt. Sie beobachtete ihn allzu genau. Aber seine Augen unter den dicken Brauen wichen ihr nicht aus. Sein Gesicht verriet keine Spur von Überraschung. Ein Lächeln ging zwar über seine Lippen hin, undeutlich, wie hinter Wolken versteckt, aber diese Andeutung eines Lächelns war unentzifferbar, konnte alles bedeuten. Es gab für den Bruchteil einer Sekunde einen Schimmer von seinen Zähnen frei. Die Lippen in seinem bläulich rasierten Gesicht hatten sich geteilt. Und wieder geschlossen.

»Hauptmann Madden«, sagte er, »ist in der irisch-republikanischen Armee. Wir bekommen von den Burschen, hinter denen die Engländer her sind, wenig oder nichts zu sehen. Was! Wenn er sich in Killeagh oder in Youghal oder irgendwo hier herum sehen ließe – was glauben Sie, wie die Polizei und die englischen Soldaten wie der Blitz hinter ihm her sein würden!«

»Aber wir haben ihn in London gesehen. Das wissen Sie doch? Vor kaum vierzehn Tagen.«

»Ach, jawohl, ich habe davon gehört. Mir wurde erzählt, er war bei Ihrem Mann zum Essen.«

»Wir haben ihn sogar sehr häufig gesehen.«

»Was Sie nicht sagen? Er war ja nur ein paar Tage drüben. Es ist mir erzählt worden, mit einem Paß, den ihm die Engländer im Dubliner Schloß gegeben haben. Aber, du lieber Himmel, was sollte schon dabei herauskommen! Es war vorauszusehen, daß sie ihn drüben nur zum besten halten würden. Da hat er nun die großen Tiere alle zu sehen bekommen, und sie haben ihm etwas vorgeredet und sich ihr Teil dabei gedacht. Du liebe Zeit, was soll dabei für unser armes Land schon herauskommen? Es wird denen drüben bloß eine Ermutigung sein, weiter zu machen, wie sie angefangen haben mit ihren englischen Bajonetten und ihrer fremden Regierung in Dublin.«

Wußte er wirklich nichts? Es war unmöglich, es zu entscheiden. Es war, wie sie ihn kannte, sehr gut möglich, daß er ihr etwas vorschwätzte und sich sein Teil dabei dachte. Sie spürte in jedem Wort, das er sagte, daß er nicht aufrichtig war, wenn sie auch nicht sagen konnte inwiefern. Sie wagte noch einmal den Versuch, ihm näherzukommen.

»Aber – er ist doch schon beinah vierzehn Tage wieder in Irland«, sagte sie mit absichtlich übertriebenem Erstaunen. »Haben Sie ihn denn tatsächlich nicht gesehen und auch nicht das geringste von ihm gehört?«

Sie spürte, wie sein Auge sie kühl und musternd betrachtete. Es war, als bringe dieser Blick ihren Angriff wie von selbst zum Stehen. Es war eine Frage, die eine sofortige Antwort verlangte. Er ignorierte es und ließ eine lange Pause eintreten, ehe er den Mund öffnete. Als er dann wirklich anfing zu sprechen, traute sie ihren Ohren nicht.

»Ihr Mann«, fing er an, »ist einer von meinen alten Schulfreunden. Als ich von Maynooth wegging, haben wir oft zusammengesteckt, das war, ehe seine Leute nach Spanien übersiedelten, wo sie dann, soviel ich weiß, eine Art Goldgrube entdeckt haben ...«

Sie machte eine Bewegung, um ihn zu unterbrechen und ihre Frage zu wiederholen. Er beachtete sie nicht. Ohne Pause, ohne ein Stocken fuhr er fort:

»Ich kann nicht behaupten, daß wir übermäßig viel Gelegenheit gehabt hätten, diese Freundschaft neu zu beleben. Aber das von früher gibt mir doch ein Recht, Ihnen zu sagen, was ich jetzt sagen werde.«

Sie überraschte sich bei einem ihr fremden Gefühl, keine Spur von Selbstsicherheit war in ihrer Stimme, als sie ihn fragte, was es sei.

»Lassen Sie die Hände von Irland!« sagte er, »lassen Sie die Hände davon! Hier bei uns zulande ist kein Platz für Weibervolk. Am wenigsten für solche, wie Sie sind, die man in London in Watte packt.«

Seine Art zu sprechen war so jeder Freundlichkeit bar, daß sie sie zu einer scharfen Antwort herausforderte. Bei aller Umständlichkeit, mit der er sich in seiner Einleitung über seine freundschaftlichen Beziehungen zu Stephen verbreitet hatte, war in dem, was er hier vorgebracht hatte, keine Spur von Wohlwollen zu finden. Es erschien ihr ganz im Gegenteil von einem bösartigen Haß beseelt.

Hitziger als beabsichtigt, holte sie zum Gegenstoß aus:

»Gibt es denn in Irland keine Vereinigung von Frauen, die der irischen Sache ergeben sind? Ist es vielleicht nicht die Gräfin Marckiewicz gewesen, die 1916 beim Osteraufstand in Dublin eure Leute geführt hat?! Mit ihnen in den Kampf gegangen ist! Warum soll ich an der irischen Sache keinen Anteil nehmen dürfen? John Madden hat uns über den Aufstand berichtet, als er in London war, und er ist ein Freund – ein Freund meines Mannes, soweit das denkbar ist.«

»Und wie weit ist das denkbar?«

Sie mußte sich Gewalt antun, um glauben zu können, daß er es tatsächlich gefragt hatte. Trotzdem entging ihr nicht, wie vielsagend die Bemerkung gewesen war. Und doch war es so taktlos, enthielt eine so üble Anspielung, daß sie nicht glauben konnte, ihn verstanden zu haben. Sie fragte ihn, was er meine, und vermochte ihm dabei gerade in die Augen zu sehen.

»Ich meine,« sagte er, »dem Alter nach sind sich die beiden so gar nicht ähnlich, Stephen hat John Madden ein oder zweimal in Cork getroffen, als John Madden noch ein Junge war. Gewiß kann man da nicht sagen, sie wären Freunde. Es ist bloß alte Freundschaft für Ihren Mann, wenn ich sage, Sie wären jetzt besser von hier weggeblieben.«

»Sind Sie deswegen hierhergekommen?«

»Jawohl!«

»Stephen wird nicht darauf hören.«

»Und warum nicht?«

»Wir haben das Haus für den ganzen Sommer gemietet. Wir sind zur Erholung hierhergekommen.«

»Komische Erholung«, sagte er.

»Komisch vielleicht, aber das ist kein Grund, weshalb es ihm nicht Spaß machen sollte. Er ist seit Jahren nicht in Irland gewesen.«

»War er es, der gesagt hat, er wollte hierherkommen?«

»Nein.«

»So, so! Na, kann sein, er wird dann derjenige sein, der sagen wird, er will wieder weggehen.«

»Und Sie haben die Absicht, ihn dazu zu überreden?«

»Die habe ich.«

Den Hut, den sie trotzig ins Zimmer werfen wollte, als sie aus dem Garten zurückkam, und den sie dann unter dem plötzlichen Eindruck seiner Gegenwart in der Hand behielt, hatte sie neben sich auf einen Stuhl gelegt. Sie griff jetzt danach, und als sie ihn in die Hand nahm, war es, wie wenn man einen Strich unter eine Sache setzt, die endgültig abgeschlossen ist. Sie ging zur Tür.

»Ich muß befürchten,« sagte sie liebenswürdig, »daß Stephen Ihnen eine Enttäuschung bereiten wird, indem er in dieser Frage mir die Entscheidung überläßt. Bleiben Sie ruhig sitzen –« er hatte sich nicht gerührt – »Dicky muß jeden Augenblick nach Hause kommen. Es kann nicht mehr lange dauern.«

Sie hatte die Tür so rasch hinter sich geschlossen, daß er ihre letzten Worte fast nicht mehr hörte. Sie hatte sich dazu aufgerafft, ihm Trotz zu bieten. Es war ein Trost. Auf der Treppe stimmte sie ihr irisches Kampflied wieder an, die Weise von Londonderry. Mochte er's hören, wenn er wollte! Während sie sich oben umzog, war sie des festen Glaubens, daß sie auch hundert Hanrahans nicht fürchte.

In ihren Koffern war ein Kleid, das koketter war als alle anderen, die sie mitgebracht hatte, denn diese anderen hatte sie mit besonderer Rücksicht auf Zeit und Umstände ausgewählt.

»Packen Sie das auch mit ein,« hatte sie in London zu Louise gesagt, »man muß sich gegen jedes Risiko sichern. Es könnte der Augenblick kommen, wo ich ein Kleid brauche, das mir ein bißchen Mut macht.«

Um keinen Preis der Welt hätte sie jetzt zugegeben, daß der Augenblick gekommen war, aber jedenfalls ließ sie das Kleid von Louise herauslegen.

»Zum Lunch, gnädige Frau?«

»Jawohl, Louise.«

»Kommen denn Leute zum Essen? Ich frage, weil ich weiß, daß die Troys nicht auf Tischgäste gefaßt sind.«

Die Gewissenhaftigkeit, mit der Louise ihren Obliegenheiten nachging, brachte es mit sich, daß sie manchmal einen Hang zu unbequemen Fragen entwickelte. In solchen Fällen pflegte sich Jane zu helfen, indem sie Louises Gegenwart einfach vergaß. So nahm sie ihr auch jetzt wortlos das Kleid aus der Hand und zog es über.

Es war eine Art Herausforderung für Vater Hanrahan, aber es wäre unmöglich gewesen, zu sagen, ob er die Herausforderung als solche erkannte und annahm. Stephen war gekommen, und die beiden gingen im Garten auf und ab, bis zum Essen gerufen wurde. Als er mit ihr im Eßzimmer wieder zusammentraf, schien er gar nicht zu merken, daß sich in ihrem Äußeren etwas geändert hatte.

»Ihre Frau war so freundlich, mir Gesellschaft zu leisten«, sagte er, ohne Jane anzusehen.

Stephen schien es gar nicht zu hören, er lebte gerade tief im vierten Jahrhundert nach Christus.

»Wenn man die Kapelle des heiligen Daeclan«, fing er an, »und die Ruinen des Konvents dort unten sieht, dann kommt es einem deutlich zum Bewußtsein, daß papierene Geschichte ein Unding ist. Wer sich hinsetzt, um Geschichte zu schreiben, der muß sich schon in dem Augenblick, wo er die Feder ansetzt, sagen, daß sein Werk niemals dem Fluch der Voreingenommenheit entgehen kann. Heutzutage gibt es keine echten Historiker mehr. Sie sind alle mehr oder minder Propagandisten. Propaganda ist das Instrument der Zivilisation, und mit diesem Instrument wird allmählich der letzte Rest von Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit in den Menschen zerstört. Aber gehen Sie nach Ardmore, da werden Sie sehen, daß man mit Stein und Meißel keine Lügen zusammenbrauen kann.«

»Ich habe mir doch gedacht, daß du in dieser Verfassung zurückkommen wirst, Dicky«, sagte Jane. »Wenn du vor Ruinen stehst, dann befällt dich immer ein höchst bedauerlicher Minderwertigkeitskomplex. Du hast dich in den Garten zurückgezogen und Grillen gefangen. Aber ich glaube nicht, daß Vater Hanrahan dir dabei geholfen hat. Es ist sicher nicht die Beschäftigung, für die Vater Hanrahan eine besondere Vorliebe hat – oder doch, Vater Hanrahan?«

Ihr war eingefallen, daß John Madden seinerzeit über Vater Hanrahans bäuerische Abstammung und über die Umgebung erzählt hatte, in der er aufgewachsen war und lebte. Sie konnte mit Sicherheit annehmen, daß er in seinem Pfarrbezirk niemals etwas von Minderwertigkeitskomplexen gehört hatte, und während des ganzen Frühstücks belustigte sie sich damit, den ganzen Schwarm der in ihrem Londoner intellektuellen Kreis approbierten Aperçus aus dem Bereich der Freudschen Lehre auf ihn loszulassen. Sie konnte ihre Lektion auswendig. Sie flößte ihm die sämtlichen Werke von Huxley ein wie eine Mutter, die mit einem Teelöffel einem widerstrebenden Kind mit sanfter Überredung etwas Unangenehmes eingibt. Sie probierte Shaw an ihm aus, sie schmeichelte ihm mit der unzutreffenden Voraussetzung, daß ihm H. G. Wells' idealistische Theorien bekannt seien. Stephen vergaß beim Zuhören sogar seine neu entdeckten Ruinen, staunte über ihren Witz und wurde hier und da von einem lautlosen Kichern geschüttelt, wenn ihr ein besonders glänzendes Wort geglückt war. Es war alles das Verdienst ihres Kleides. Das Kleid hatte geholfen. Zweifellos hatte sie damit gerechnet. Sie hätte sich dasselbe in einem Lodenrock und Wollstrümpfen nicht leisten können. Eine Frau vermag auf die Dauer sich in einer solchen Stimmung nur zu behaupten, wenn sie Seide an sich spürt.

Vater Hanrahan hatte zu dieser Unterhaltung am Frühstückstisch nur sehr selten und hier und da etwas zu sagen. Die wenigen Bemerkungen, die er wagte, wurden mit scharfer Nadel angestochen und fielen schlaff und leer in sich zusammen, ehe sie noch Zeit gehabt hatten, aufzusteigen. Bei jeder Wendung, die er versuchte, wurde er geistig matt gesetzt. Es blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als zu schweigen. Aber seine Niederlage war kein Zusammenbruch. Er schwieg, aber sie hörte dieses vielsagende Schweigen warnend, aufdringlich, durch das Schwirren ihres eigenen Witzes und durch das Lachen Stephens tönen.

Als ihr später mitgeteilt wurde, daß Vater Hanrahan sich von Stephen habe überreden lassen, über Nacht zu bleiben, weil es auf dem Weg über die Fähre sieben Meilen Fußweg bis Killeagh waren und Hanrahan sofort hätte aufbrechen müssen, wenn er noch vor dem Zapfenstreich zu Hause angelangt sein wollte – nach neun Uhr durfte ja niemand auf der Straße sein –, da wußte sie, daß es ihr nicht gelungen war, ihn aus der Fassung zu bringen und zu beunruhigen.

Abends um halb zehn sah sie ein, daß ihr längeres Verweilen im Zimmer keinen Zweck mehr hatte. Niemals würde es Vater Hanrahan aufgeben, Stephen zur Rückkehr nach England zuzureden. Er würde es nur aufschieben. Deshalb nahm sie ein Buch und ging schlafen. Als sie Stephen seinen Gutenachtkuß gab, verharrten ihre Lippen einen Augenblick an seinem Ohr und flüsterten: »Gott steh dir bei, Dicky«, und niemals hatte sie es aufrichtiger gemeint. Diesmal war die Hand, die sie dem Priester reichte, nicht kalt.

»Seien Sie gnädig mit mir«, sagte sie süß.

Stephen hörte es und verstand nicht, was es bedeutete. Nur was die seltsame Weichheit ihrer Stimme sagte, wußte er. Das war das Verteidigungsmittel, von dem sie nur in höchster Not Gebrauch machte, wie die Bienenkönigin von ihrem Stachel. Während der ganze Wortkrieg bei Tisch ihm nicht aufgefallen war, machte ihn dieser Ton betroffen, und er fragte sich, was es wohl zu sagen hätte.

Als die Tür sich hinter ihr schloß, wandte er sich dem Priester zu:

»Was meinte sie – ›Seien Sie gnädig mit mir?‹« fragte er.

Vater Hanrahan überlegte reiflich, ehe er den Mund öffnete.

»Ich hatte mit ihr heute morgen eine Unterredung – ehe Sie von Ardmore zurückgekommen sind –«

»Worüber?«

»Ich werde es Ihnen schon sagen. Wissen Sie, Stephen, Sie sind ein komischer Kauz.«

»Bin ich das?«

»Sind Sie immer gewesen.«

»Immer gewesen?«

»Sie haben niemals eine Ahnung von dem gehabt, was unter Ihrer Nase vorgegangen ist. Ich erinnere mich noch, wie ich hörte, daß Sie geheiratet haben, da sagte ich zum Erzdiakon in Coppoquin – Sie erinnern sich doch noch an Erzdiakon Macgrath?«

»Ich erinnere mich«, sagte Stephen. Sein irischer Akzent wurde immer stärker.

»Also ich sagte zu ihm: ›Glauben Sie, daß er es durch einen Stellvertreter hat besorgen lassen, oder meinen Sie, er ist wirklich hingegangen und hat sie ins Gesicht hinein gefragt, ob sie ihn haben will.‹«

»Ich habe sie gefragt«, sagte Stephen schlicht.

»Dann hat der Erzdiakon sich geirrt – und wissen Sie, als ich Ihre Frau zuerst sah, drüben in London, da dachte ich doch, der Erzdiakon hätte richtig geraten.«

»Halten Sie mich vielleicht für einen Narren?« fragte Stephen scharf.

»Ich sage Ihnen ja. Ich meine, Sie sind ein komischer Kauz. Schon in den alten Zeiten habe ich Sie nie verstanden, und jetzt verstehe ich Sie erst recht nicht.«

»Warum nicht?«

»Sie ist eine schöne Frau.«

»Das weiß ich.«

»Und sie ist jung.«

»Auch das ist eine ziemlich naheliegende Bemerkung. Nur ist es gewöhnlich so, daß die Leute es sich heimlich denken, solange ich anwesend bin, und daß sie es erst sagen, wenn ich den Rücken gekehrt habe.«

»Kann sein, daß ich der erste bin, der es Ihnen selbst gesagt hat.«

»Um damit anzudeuten, daß Sie meine Handlungsweise nicht billigen?«

»Nicht im geringsten. Sind Sie denn nicht schon seit Jahren mit ihr verheiratet, und ist sie Ihnen denn nicht ein gutes Weib gewesen?«

»Ich könnte mir kein besseres wünschen«, sagte Stephen, und er war nicht im geringsten darüber erstaunt, daß er hier saß und Jane zum Gegenstand einer Erörterung werden ließ, die so wirkte, als handle es sich darum, Vorteile und Nachteile einer geschäftlichen Transaktion festzustellen.

Es war, was Jane schon an ihm bemerkt hatte. Die Heimat hatte von ihm wieder Besitz genommen. Er hätte sich aus alten Tagen mancher ähnlichen Diskussion erinnern können. Bei den Leuten, unter denen Vater Hanrahan und er ihre Jugendjahre verbracht hatten, war Heirat nichts als ein Kaufvertrag. Und das war die Auffassung, die dem Priester dank der Umgebung, in der er immer gelebt hatte, auch verblieben war. Liebe und Glück waren Gesichtspunkte, die nicht ins Gewicht fielen. Was die Frau dazu zu sagen hatte, existierte nicht. Vorzüge oder Nachteile einer Heirat, die zustande gekommen war, wurden im Schoße der Familie gegeneinander abgewogen, wie man im Wirtshaus Vorzüge und Nachteile eines Viehhandels bespricht.

Vater Hanrahan beugte sich vor. Er wollte etwas sagen.

»Wollen Sie also meinen Rat befolgen?«

»Welchen Rat?«

»Schaffen Sie die Frau hier weg. Das ist kein Platz für sie.«

»Aber was hätte Jane hier zu fürchten?« fragte Stephen. »Das Haus liegt doch weit von der Kampfzone, und außerdem haben wir einen Paß von der Regierung in Dublin.«

»Ich gebe Ihnen eine Puppe aus Lumpen für Ihren Paß,« sagte der Priester, »die ist noch mehr wert. Engländer und Ausländer ziehen bei uns mit Pässen herum, die sie ihnen in Dublin ausgestellt haben – du lieber Himmel – sie könnten genau so gut sich die Pfeife damit anzünden.«

»Wollen Sie andeuten, daß der Aufenthalt hier für Jane gefährlich ist? Hier draußen, an dieser gottverlassenen Küste? Wie wir von Youghal hier heraufgefahren sind, haben wir nach der Brücke beinah kein einziges Haus mehr gesehen. Und im Dorf drüben, in Ardmore, geht nicht das geringste vor. Heute früh war ich ja dort. Die Männer schlenderten nach der Messe am Kai herum und ließen sich von der Sonne bescheinen. Ich habe mit dem einen und dem anderen ein paar Worte gesprochen. Nach der Art, wie sie über den Aufstand redeten, hätte es sich um irgendeinen harmlosen Streik handeln können. Sie wollten einfach nichts davon wissen, hatten es satt bis zum Überdruß.«

»Haben Sie sie gefragt, ob irgendwelche Polizei im Dorf ist?«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Haben Sie einen von den Leuten gefragt, wo sie in der vergangenen Nacht gesteckt haben?«

»Sie meinen, daß alle mit dazu gehören?«

»Ich meine, daß es Ihre Sache nicht ist, ebensowenig wie meine, zu sagen, wer dazu gehört und wer nicht.«

Stephen warf seinem Freund einen raschen Blick zu. Aber der Priester hatte auch diesen flüchtigen Blick aufgefangen, und als Stephen die Frage schließlich aussprach, die ihm auf der Zunge schwebte, war er bereit, ihr zu begegnen.

»Gehören Sie selbst mit dazu?« fragte Stephen.

Vater Hanrahans Augen blieben ruhig und gelassen. Wenn es in ihm ein Geheimnis gab, das verraten werden konnte, so war jedenfalls in keiner Linie seines Gesichts etwas davon zu lesen. Er lächelte. Sein merkwürdiges langsames Lächeln, das undeutlich wie ein schwacher Lichtschein in der Nähe seiner Mundwinkel kam und verschwand.

»Sie bringen mich von dem ab, was hier zur Debatte steht«, sagte er mit einer Andeutung von Gereiztheit, die unentschieden ließ, ob sie echt oder gespielt war. »Ich bin keiner von den jungen Laffen, die sich mit einem Gewehr hinter eine Hecke legen und probieren, ob sie einen englischen Tommy abschießen können – immer vorausgesetzt, daß ich überhaupt eine Flinte auftreiben könnte, wenn ich es wollte. Ich habe meine Pfarrkinder in Killeagh zu betreuen, und in diesen Zeiten ist das übergenug Arbeit für einen einzelnen. Das kann ich Ihnen versichern. Sie wollen immer nicht auf das hören, was ich Ihnen dauernd sagen will.«

»Aber doch, ich höre schon.«

»Ich sage Ihnen, Sie wollen nicht hinhören. Schaffen Sie die Frau hier weg. Ich kann Ihnen nur sagen, schaffen Sie die Frau hier weg. Da drüben in London haben sie Verständnis für Frauen mit den feinen Kleidern und dem hübschen Gesicht, wie sie es hat. Wir hier, wir verstehen uns nicht darauf.«

Wir – wir verstehen uns nicht darauf! Hanrahan sagte: wir, wo ich hingehört hätte. Er war's, der Jane hier nicht haben wollte. Er war's, der sie nicht verstand.

So weit war Stephen rasch genug gelangt. Er bemühte sich, herauszufinden, welchen Gründen diese nur dünn verschleierte Feindschaft gegen Jane entsprang, da hörte er plötzlich über sich ein leichtes Geräusch, wie wenn etwas gegen den Boden des darüberliegenden Zimmers gestoßen hätte.

Es war Janes Zimmer. Sie mußte schon geraume Zeit im Bett liegen.

Sie hatten mindestens eine Stunde hier gesessen und gesprochen. Er warf Vater Hanrahan einen fragenden Blick zu. Der Priester saß mit zusammengezogenen Augenbrauen da und musterte ihn. Wie auf Verabredung saßen beide, ohne sich zu rühren, und warteten. Alles war still.

»Was kann das gewesen sein?« fragte Stephen.

»Hören Sie!« sagte Vater Hanrahan kurz.

Sie blieben regungslos sitzen. Man hörte ein schwaches Murmeln – Stimmen – gedämpfte Stimmen. Es dauerte ein paar Sekunden. Ohne Pause, ohne Unterbrechung. Es war viel zu unbestimmt, als daß man irgend etwas hätte verstehen können, trotzdem machte es den Eindruck fiebriger Hast.

Stephen stand auf.

»Wahrscheinlich spricht Jane mit der Zofe«, sagte er, aber er glaubte es selbst nicht. Er blieb stehen, um wieder zu lauschen. Jetzt konnte man deutlich das Geräusch eines Möbelstücks hören, das über den Boden gerückt wurde. Es war ein Stuhl. Sie hörten, wie die Beine über den Boden kratzten. Andere Geräusche folgten. Es war nicht zu unterscheiden, was es eigentlich war.

»Gehen Sie hinauf«, sagte der Priester. »Was sollte sie dazu bringen, mitten in der Nacht die Möbel herumzurücken.«

Unwillkürlich mußte Stephen in diesem Augenblick wieder daran denken, wie Vater Hanrahan vor kurzem gesagt hatte: wir verstehen sie hier nicht. Es war ihm im Augenblick unmöglich, festzustellen, welche Gedankenverbindung daran schuld war. Und doch wirkten Vater Hanrahans letzte Worte wie eine Fortsetzung ihres Gesprächs von vorhin. Er war im Begriff, sich der Tür zuzuwenden und zu Jane hinaufzugehen. Plötzlich blieb er stehen, als habe ihn eine unsichtbare Hand am Rock gepackt.

Vater Hanrahans Augen, die ihm bis zu diesem Moment gefolgt waren, hatten sich abgewandt. Durch das leere Haus hörten sie das Geräusch eines Automobils, das die Kurve zur Auffahrt nahm. Man hörte beim plötzlichen Anziehen der Bremsen den Kies unter den Rädern knirschen. Eine Sekunde lang herrschte tiefste Stille. Dann begann es draußen an die Haustür zu hämmern. Es vibrierte durch das ganze Haus.


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