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Elftes Kapitel

Es gibt kein Mittel, um eine Stimmung zurückzuholen, die entglitten ist. Seit dem Augenblick, wo Jane zum erstenmal draußen am Horizont die »Candida« gesichtet hatte, war der Friede dahin, der Ardogina und seine Klippen eingehüllt hatte. Sie hatte vor Draper gerühmt, wie gut es ihr hier gefiele, aber sie wußte, nichts würde mehr so sein wie in den Tagen, als sie mit Stephen hier allein saß und auf John Maddens Rückkehr wartete.

Seit Anthony Draper und Vater Hanrahan im Hause waren, war es, als hätte man auf diese Welt Beschlag gelegt, die sie als ihren Besitz betrachtet hatte. Sie wußte, es war unmöglich, ihnen wieder abzulisten, was sie ihr genommen hatten. All die Nächte, die jetzt kamen, lag sie wach, oft bis der Himmel sich von der ersten schwachen Glut der Morgenröte färbte, und fragte sich, wie es John wohl erging, der jetzt im Land herumfuhr und die Gewehre verteilte. Er hatte behauptet, die Aufgabe sei leicht, und es sei keine Gefahr damit verbunden. Sie bezweifelte das. Es gab kein Mittel, etwas zu erfahren. Es war niemand da, der bereit gewesen wäre, ihr zu berichten. Der alte Troy mußte durch seinen Sohn darüber unterrichtet sein, wer nachts mit den Gewehren unterwegs war, aber sie fühlte sich weder geneigt, ihn zu fragen, noch konnte sie hoffen, irgend etwas zu hören, selbst wenn sie fragte. Es gab nur einen kleinen und geringfügigen Trost. Jeden Tag schwamm sie beim Baden weit hinaus, in der Erwartung, jenseits des Landvorsprungs ein Zeichen zu erblicken, das verriet, daß John in der Höhle war. Schon nach zwei Tagen pflegte er gespannt auf den Augenblick zu warten, wo draußen auf der See ihre bunte Kappe sichtbar wurde, und Tag für Tag erschien sie wie ein bunter Vogel, der sich auf der Dünung wiegt.

Aber er mochte winken, soviel er wollte, sie schwamm nicht wieder an die Felsen heran, um mit ihm zu sprechen. Mußte sie sich doch immer wieder daran erinnern, daß ein Sohn des alten Troy sie belauert hatte. Sie brachte es nicht fertig, diese Erinnerung gänzlich aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Vielleicht hätte sie überhaupt nicht mehr daran gedacht. Aber gerade am anderen Morgen sah sie beim Anziehen Hanrahan und den alten Troy in eifrigem Gespräch im Garten beieinanderstehen. Hinter ihren Vorhängen versteckt, sah sie hinunter und fühlte fröstelnd den Gedanken, daß die beiden gegen sie verbündet waren, wiederkehren.

Aber wenigstens war es eine Art Verbindung mit John, ihn täglich aus der Ferne zu sehen. Ihre bunte Kappe da draußen war der Heliograph, der ihn anrief, ob es etwas Neues gäbe. Er winkte ihr zu: Alles in Ordnung!

Von der anderen Seite der Landspitze aus sah Draper diese Zeichen und bezog sie ebenso wie Stephen auf sich. Gemeinsam mit ihm winkte er zurück. Aber beim dritten Male erregte es seine Aufmerksamkeit, mit welcher Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit dies alles sich vollzog. Sie winkte immer von derselben Stelle aus. Sie winkte immer in derselben Art. Es war ein Zusammentreffen von Umständen, das sein Kombinationsvermögen anregte. Als sie an den Landungsplatz zurückkam, sagte er:

»Wenn man mit zwei Kanalschwimmern zu tun hat, wie ich und Ihr Mann, dann finde ich, ist es nicht nett, wenn Sie auf diese Art Ihren Arm hochwerfen draußen auf dem Atlantischen Ozean.«

»Aber ich ertrinke doch nicht.«

»Nein, aber mir jedenfalls ist es zumute, als wäre mein Herz ein Expreßfahrstuhl, der aus dem Dachgeschoß heruntersaust, wenn ich sehe, wie da draußen Ihr Arm hochfliegt. Sehen Sie keine Möglichkeit, den Überschwang Ihrer Gefühle etwas zu bändigen, wenn Sie sich außerhalb des Bereichs aller Hilfemöglichkeit befinden?«

Sie hätte vielleicht nicht gelacht, wenn sie nicht gefühlt hätte, wie seine Augen sie dabei belauerten. Lachen war das einzige Mittel, um ihn irrezuführen. Auch jetzt wußte sie nicht, ob es ihr gelungen war. Sein Gesicht hatte weder Glauben noch Zweifel ausgedrückt, als sie ihm erklärte, es sei für jeden Mann nur gesund, von Zeit zu Zeit der Möglichkeit ins Auge sehen zu müssen, daß er das letzte höchste Opfer bringen müsse.

»Ich halte ungemein viel von gesunder Furcht«, sagte sie mit gespieltem Nachdruck.

Eine Woche war vergangen, seit die Ladung der »Candida« an Land gebracht worden war. In den letzten zwei Tagen hatte Jane John Madden nicht zu Gesicht bekommen. Ein Wetterumschlag war eingetreten. Sturm aus Südwesten, der das Wasser in mürrischen, bösartigen, grünen Wellen gegen den Fuß der Felsen peitschte. Alles mußte im Zimmer sitzen, während die Fensterscheiben ratterten und unter heulenden Windstößen der Regen ans Haus klatschte.

Für jede Gesellschaft hätten diese Tage eine schwere Prüfung bedeutet. Seit die drei Männer im Hause eingesperrt waren, herrschte eine seelische Atmosphäre, als hätten sie alle eine Gefängnishaft abzusitzen. Selbst Dicky, der wichtige Korrekturen zu lesen hatte und, solange das Wetter gut war, keinen Strich daran getan hatte, vermochte es nicht, sich behaglich in die Arbeit zu vertiefen.

Vater Hanrahan saß überall auf möglichst gradlehnigen Stühlen herum und las religiöse Bücher, die er irgendwo im Hause aufgetrieben hatte. Es erwies sich als unmöglich, ihm aus dem Weg zu gehen. Er schien mit Vorbedacht immer sich in den Räumen aufzuhalten, die Jane gern aufgesucht hätte.

Dank Drapers Unterstützung gelang es ihr, indem sie sich ein wenig Gewalt antat, ihre gute Laune halbwegs zu behalten, aber am zweiten Abend nach dem Essen wurde ihr die ewige Anspannung zuviel.

»Der Mann, der zuerst das Bett erfunden hat,« rief sie aus, »hat ein Anrecht auf Dankbarkeit. Meiner Meinung nach hat er nie die Anerkennung gefunden, die ihm gebührt. Ich gehe hinauf, um ihm aus der ganzen Tiefe meines Herzens ein Gebet darzubringen. Gute Nacht, Dicky, du brauchst nicht mehr zu mir hineinzusehen, ich werde schon schlafen. Wenn Sie die Grenzen Ihrer Kompetenz damit nicht überschreiten, Vater Hanrahan, so könnten Sie um gutes Wetter für morgen beten. Irgend etwas müßte jedenfalls geschehen.«

Sie reichte Draper die Hand. Es war eine Gunst, die sie den anderen verweigert hatte, und sie wußte es. Die Abende vorher hatte er dabei gesessen, als sie ihrem Mann den Gutenachtkuß gab. Heute hatte sie Stephen nicht geküßt. Er sah ihr nach, als sie das Zimmer verließ. Die nächste halbe Stunde über horchte er hinauf nach ihren Schritten, die auf dem Fußboden hörbar waren. Er hörte ihre Stimme. Sie sprach mit ihrer Zofe.

Der Priester las in seinem Buch. Draper sah zu Stephen hinüber. Stephen saß und starrte ins Feuer. Ohne es zu wollen, fing er an, selbst ins Feuer zu starren. Was war der Sinn davon, daß das Leben dieser Frau derart verschleudert wurde? Ja, so dachte er: es war verschleudert. Schönheit wie ihre Schönheit war keine zufällige Eigenschaft, sondern ein Ding an sich – eine Kraft, ein Stoff, von dem Wärme und Leben ausging, wie von den Klötzen, die hier im Kamin brannten. Und dabei verzehrte sich dieser kostbare Stoff Tag um Tag, Stunde um Stunde, auch jetzt, wo sie hier saßen, und niemandem kam die Wärme, die er spenden konnte, zugute. Niemand war ihr nahe genug, die Kraft in sich aufzunehmen, so wie sie hier am Kamin saßen, um die Wärme des Feuers zu genießen.

Oben, in Janes Schlafzimmer, war man weniger tiefsinnig. Louise war heute ungemein zum Sprechen aufgelegt. Sie hatte sich mit einem der Seesoldaten in Ardmore zusammengefunden und bedauerte die Ungunst des Wetters mindestens ebensosehr wie jeder andere im Haus. Sie war damit beschäftigt, Janes Haar zu bürsten, und erfreute sie die ganze Zeit über mit ihren privaten Ansichten über die irische Frage.

»Was würden die schon mit einer Republik anfangen, wenn sie sie hätten!« meinte sie.

Es war keine Frage. Sie beanspruchte nicht, daß sie darauf eine Antwort erhielt. Als Jane andeutete, sie könnten damit ja anfangen, was die Franzosen damit angefangen hätten, oder jedes andere Volk, das einem Zylinderhut den Vorzug vor einer Krone einräumte, nahm sie davon keine Notiz. Sie hörte aus dem Ton von Janes Antwort eine Ermutigung, fortzufahren, und damit war sie schon zufrieden.

»Die sind gar nicht fähig, sich selbst zu regieren«, erklärte sie.

»Warum nicht, Louise?«

»Nun, denken gnädige Frau doch nur daran, wie sie mit unseren englischen Soldaten umgesprungen sind. Michael Collins, so ein Wegelagerer! Und dieser John Madden.«

»Was haben Sie mit dem?«

»Nur im Dunkeln schießt er, wenn niemand ihn sehen kann! Wissen Sie übrigens, daß sie ihm auf der Spur waren, neulich nachts, als die Soldaten hiergewesen sind?«

»Wem?«

»Nun eben diesem John Madden.«

»Wer hat Ihnen das erzählt, Louise?«

Trotz einigen jungfräulichen Sträubens war Louise sehr darauf aus, von ihrer Bekanntschaft mit dem jungen Seesoldaten in Ardmore zu reden. Die Erinnerung daran schien sie mit innerer Wärme zu erfüllen. Jane beobachtete im Spiegel die süße Grimasse auf Louises Gesicht. Wie häßlich Frauen doch aussehen können, wenn sie sich für anziehend halten! dachte sie. Aber es gab dabei wichtigere Dinge zu bedenken, und diese letzte Überlegung war nicht geeignet, sie milder zu stimmen.

»Kommt er etwa hierher, um Sie zu besuchen?« fragte sie in einem Ton, der keine Billigung solcher Besuche verhieß.

»O nein, gnädige Frau, wir sind immer unten im Dorf zusammengetroffen, das ist alles.«

»Und dann seid ihr wohl zusammen an den Klippen entlang spazierengegangen?«

»Er hat mich dazu aufgefordert.«

»Hoffentlich nicht nachts?«

»Nun, abends.«

»Sind Sie närrisch geworden, Louise?«

Louise hatte selten Einwendungen dagegen, von Jane für närrisch gehalten zu werden, und so hörte sie mit großer Andacht Janes Warnung vor der Tücke des männlichen Geschlechts im allgemeinen und der Seesoldaten im besonderen an.

»Ich an Ihrer Stelle, Louise, würde mich für zu gut halten für einen gemeinen Soldaten im Seebataillon.«

»Er ist Sergeant, gnädige Frau.«

»Das bedeutet nur, daß er zuversichtlicher auftritt, aber nicht, daß er festere Prinzipien hat.«

Sie war im Begriff, sich weiter über das Thema zu verbreiten, da es für sie eine amüsante Unterhaltung war, Louises jungfräuliche Gefühle zu erschüttern. Es war erst halb zehn, und sie war keineswegs schläfrig. Außerdem hielt sie es für außerordentlich notwendig, diese eben erwachte Zuneigung sogleich zu ersticken. Es war kein beruhigender Gedanke, vermuten zu müssen, daß einer in der Umgebung des Hauses auf Louise wartete, selbst wenn keiner von ihnen John Madden von Ansehen kannte.

»Wie alt sind Sie, Louise?« begann Jane.

Nach gewissenhaften Kalkulationen entdeckte Louise, daß sie neunundzwanzig Jahre war, während sie geglaubt hatte, erst achtundzwanzig zu sein. Sie war im Begriff, auseinanderzusetzen, wieso sie aber ganz bestimmt wisse, daß sie noch nicht dreißig sei, als ein Klopfen an der Tür weitere Rechenexempel erübrigte. Mit einem Ausruf des Ärgers eilte Louise zur Tür, um zu öffnen.

In ihrem Spiegel konnte Jane den schmalen Streifen Dunkelheit sehen, der entstand, als Louise die Tür ein wenig öffnete. Auf diesem Hintergrund schwebte einen Augenblick das Gesicht von Frau Troy. Ihr übriger Körper verlor sich im dunklen Flur draußen. Es verschwand ebenso rasch, wie es gekommen war.

In diesem kurzen Augenblick war etwas aus Frau Troys Hand in Louises Hand gewandert. Jane hörte die Alte sagen:

»Sie müssen ihr das jetzt geben.«

Dann schloß sich die Tür. Immer noch den Blick auf den Spiegel gerichtet, konnte Jane, als Louise auf sich warten ließ, feststellen, daß sie den Gegenstand, den man ihr gegeben hatte, zu betrachten versuchte.

»Was ist das?« fragte Jane und war selbst über ihren scharfen Ton überrascht. Jane konnte jetzt sehen, daß Louise einen Brief in den Händen hielt. Sie streckte die Hand danach aus.

»Mein Haar ist jetzt genug gebürstet«, sagte sie. »Machen Sie mein Bad fertig.«

Sie legte den Brief vor sich auf den Toilettentisch. Louise drückte sich noch so lange im Zimmer herum, bis ein weiteres Verbleiben einfach nicht mehr möglich war. Aber als sie widerstrebend die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Jane den Brief noch immer unberührt. Sie hatte ihn vor sich auf ihre Bürsten gelegt und starrte ihn an. Er war versiegelt. So vorsichtig war er doch gewesen. Sie empfand Dankbarkeit darüber und wünschte doch einen Augenblick später bereits, daß alles, was er zu sagen hätte, auf einem offenen Blatt Papier geschrieben werden könnte, so daß es jeder lesen konnte, der wollte.

Niemals hatte sie sich so lebhaft von Vorahnungen bewegt gefühlt wie eben jetzt. Es kostete sie eine Willensanstrengung, nur den Umschlag zu öffnen, und als dann die mit Bleistift geschriebenen Zeilen offen in ihrem Schoß lagen, zögerte sie immer noch, sie zu lesen. Sie warf einen flüchtigen Blick darüber und pickte hier und da ein einzelnes Wort heraus. Diese Worte bedeuteten nichts, vielleicht bedeutete das Ganze nichts. Vielleicht war der Brief nur geschrieben, um – da sie sich sonst nicht sahen – ihr mitzuteilen, daß alles gut ging. Und trotzdem sah sie bei jedem einzelnen, von ihr willkürlich aus dem Zusammenhang gerissenen Wort sein Gesicht vor sich, wie er zuletzt vor ihr auf dem Felsen gestanden und zu ihr heruntergesehen hatte. Sie sah ihn vor sich als einen Menschen, dessen Halt nachgab, der abzustürzen drohte, der versucht hatte, den Griff zu wechseln, mit dem er sich hielt, und den besseren Halt nicht mehr ergreifen kann, den er hat loslassen müssen.

Sie wußte kaum, wann sie begonnen hatte, den Brief zu lesen. Er lag immer noch auf ihrem Schoß, sie hatte das Blatt ausgebreitet, und wie von selbst begannen die Worte sich zu Sätzen zusammenzufügen.

»Wir kommen allmählich mit unserer Sache hier in Ordnung. Aber wir haben nur zwei Wagen zur Verfügung. Es sieht aus, als würde es immerhin noch drei Wochen in Anspruch nehmen, bis alles erledigt ist. Die letzten Nächte haben wir nur an der Verteilung im nächsten Umkreis arbeiten müssen, und es hat sich alles ohne Störung abgewickelt. Heute nacht müssen wir weiter hinaus, nach Lismore zu. Ich kann es nicht alles richtig auseinandersetzen, aber es werden dort dringend Gewehre gebraucht. Ich mußte schreiben, ehe wir abfuhren. Jetzt habe ich Sie zwei Tage nicht gesehen. Das heißt, ich habe zwei Tage lang Ihre Badekappe nicht gesehen. Ich beginne herauszufinden, daß die lächerlichste Kleinigkeit von beinah unerträglicher Bedeutung wird, wenn sie zu Ihnen gehört.

Seien Sie nicht böse, daß ich geschrieben habe. Es ist ganz sicher. Ich habe den alten Troy gründlich ins Gebet genommen. Ich weiß, daß ich damit gegen Ihren Rat verstoßen habe, aber ich wollte sicher sein, daß, wenn ich Ihnen schreibe, die Briefe auch ihr Ziel erreichen. Außerdem kann es ihm doch, weiß Gott, gleichgültig sein, wenn ich Ihnen auch noch soviel Briefe schreibe. Ich mußte ganz einfach schreiben! Das wenige, was ich von Ihnen bei Troys unten höre, ist so belanglos wie Knochen, die man einem Hunde hinwirft. Es ist kein Fäserchen Fleisch mehr dran – aber immerhin läßt sich daran knabbern.

Wir fahren heute um Mitternacht mit den Gewehren ab. Es steht Mondschein im Kalender, und die Wolken fangen an, sich zu zerteilen. Ich glaube, daß der Mond durchbrechen wird. Vielleicht ist morgen, wenn die Flut kommt, schönes Wetter. Wenn Sie um zwölf noch wach liegen sollten, schenken Sie uns einen Gedanken. Um die Zeit haben wir alles aufgeladen und treten unsere Reise an. Aber bringen Sie sich nicht um den Schlaf. Ich frage mich manchmal, ob Sie eine Vorstellung davon haben, wie unerträglich lang bei Nacht die Straßen sind, oder macht's, daß die Zeit so unerträglich lang ist, bis ich Sie endlich wieder da draußen sehen kann?«

War das der Brief, vor dem sie solche Angst empfunden hatte? Es stand nichts darin, was sie nicht bereits hätte erraten können. Und doch schien jede bekannte und unbekannte Furcht, die in ihr gewesen war, auf einmal begründet und berechtigt, seit sie ihn gelesen hatte. Nicht das, was er hingeschrieben hatte, machte den Inhalt des Briefes aus. Was er ungesagt gelassen hatte, machte sie zur Beute wildester Beunruhigung.

Mochte drin stehen, was wollte, sie konnte sich über den Eindruck nicht täuschen: als er diesen Brief schrieb, hatte er mit der Wahrscheinlichkeit gerechnet, daß es der letzte sein könnte, den er je schrieb. Nur deshalb hatte er geschrieben. Es bestand, wie ja der Inhalt zeigte, außer dieser einen, keine Notwendigkeit, zu schreiben. Bei jeder Zeile sah sie ihn wieder vor sich stehen als den Mann, in dessen Augen das Bewußtsein, gegen das Schicksal gefeit zu sein, plötzlich erloschen ist.

»Heute nacht müssen wir weiter hinaus, nach Lismore zu ... ich mußte schreiben, ehe wir abfuhren ...«

Sie stand auf, blieb vor ihrem Toilettentisch stehen und faltete den Brief wieder und wieder in ihren Fingern. Louise erschien, um ihr mitzuteilen, daß das Bad bereit war. Jane ging hinaus.

Louise wartete. Wenn es in der Hoffnung geschah, die unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen, mußte sie bald entdecken, wie müßig diese Hoffnung war. Eine Viertelstunde später kam Jane in ihr Zimmer zurück. Sie ging wie eine Schlafwandlerin, wie jemand, den man nicht durch einen Anruf wecken darf.

»Hängen Sie alles das in den Schrank,« sagte sie, »und gehen Sie zu Bett.«

Sie sprach wie aus der Ferne. Es führte kein Weg zu ihr. Es war, als habe sie das Zimmer verlassen und sei nicht mehr zurückgekehrt. Louise war nicht fähig, diese Eindrücke zu analysieren. Es war aber doch bemerkenswert, daß Louise, die von Natur mitteilsam war, keinen Versuch machte, sie nochmals anzureden.

Sie hängte Janes Kleider in den Schrank, löschte die Kerzen auf dem Toilettentisch aus. Einmal noch, im Hinausgehen, warf sie einen Blick auf Janes Gesicht. Sie tat es nicht noch einmal.

Jane saß aufrecht im Bett, ohne den Rücken durch ein Kissen zu stützen. Das Licht der Kerze auf dem Nachttisch fiel schräg von oben über ihr Gesicht. Sie hatte einen Nagelpolierer in der Hand und ließ ihn über ihre Nägel hin und her gleiten. Man hätte sie für eine Irre halten können, die mit einem Kinderspielzeug spielt.

Louise schlich sich aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.


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