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Zwölftes Kapitel

Ihr ganzes Leben lang hatten die Bilder, die sie in ihrem Inneren erblickte, Janes Tun und Lassen bestimmt.

Und so erschien es ihrem eigenen Empfinden keineswegs ungewöhnlich, als sie sich, noch ehe es Mitternacht geschlagen hatte, unterwegs fand, die Auffahrt hinauf, in den dichten Tunnel der Eichen hinein, wo, wie sie wußte, die beiden Wagen zur nächtlichen Fahrt bereitstanden. Von dem Augenblick an, wo sie seinen Brief gelesen hatte, hatte sie sich selbst nur noch dies eine, und nichts als dies eine tun sehen. Es war kein Einfall, der ihr plötzlich zuwehte. Sie sah ein Bild vor sich, so klar und zwingend, daß sie danach handeln mußte.

Der Regen hatte beinah aufgehört, in den zerrissenen Wolken kam und ging der Mond wie der Strahl eines Scheinwerfers. Bald war es eine Welt des Lichts, die sie umgab, bald eine Welt der Finsternis.

Längst, ehe sie das Haus verließ, hatte sie die verblüffte Miene vor sich gesehen, mit der John sie begrüßen würde. Sie war innerlich völlig gewappnet, bei ihm auf erbitterten Widerstand zu stoßen. Sie wußte auch, was sie selbst sagen wollte. All das gehörte zu dem Bild, in dem sie sich handeln gesehen hatte, noch als sie mit dem Brief im Schoß vor ihrem Toilettentisch saß.

Zwei Wagen warteten dort, wo der Zufahrtsweg über den Hügelkamm führte. In dem Mondlicht, das in diesem Augenblick über die Gruppe fegte, erblickte sie ihn. Er saß am Steuer des zweiten Wagens. Auch in diesem Halblicht war die Art, wie er den Kopf hob, nicht zu verkennen. Zwei andere Männer, zu einer dunklen, unbestimmten Masse verschmolzen, saßen auf dem Führersitz des ersten Wagens. Sie warteten alle auf den letzten Mann, der noch mit einer Ladung Flinten unterwegs war. Sie blickten sich um und spähten über die Felder, in der Richtung, wo er auftauchen mußte. Es war seltsam und erregend für Jane, sich in einer Welt zu sehen, wo schon die Art, wie ein Mann den Kopf hielt, wie er saß, wie er stand, von bedeutungsschweren und entscheidenden Dingen sprach.

Von diesen drei bewegungslosen Gestalten ging der Eindruck aus, daß sie gespannt und wachsam waren. Sie sprachen nicht. Sie saßen und spähten hinaus, warteten auf den einen Schatten, der aus der Dunkelheit auftauchen mußte, ein Bündel auf der Schulter. Sie hatte noch nicht Zeit gehabt, an die Gefahr zu denken, die sie selbst lief, als sie jemand sagen hörte: »Sieh mal dahin!«

Sie blieb stehen. Vielleicht hörte sie im nächsten Augenblick den Knall einer Pistole, und alles war für sie zu Ende. Es schien unendlich töricht, aber nichts weiter! Als der Gedanke blitzschnell durch ihren Kopf zuckte, empfand sie mehr die Sinnlosigkeit eines solchen Endes, als die Furcht davor.

Nach einer Pause, die den Bruchteil einer Sekunde betragen mochte und doch schwer und endlos im Nachtwind zu hängen schien, hörte sie eine andere Stimme sagen: »Es ist eine Frau.« Und dann vereinigten sich alle ihre Stimmen in einem verworrenen Gemurmel. Der Mond schoß plötzlich glühend hinter einer Wolkenbank hervor. Der Einfall, nach John zu rufen, kam Jane zu allerletzt und wurde niemals Tat. Sie hörte ihn etwas zu den anderen sagen. Er war Hals über Kopf aus dem Wagen gesprungen und raste den Weg herunter auf sie zu. Da wagte sie wieder, sich zu bewegen. Sie kam ihm mit einem halben Lachen entgegen.

»Was, um aller Heiligen willen ...!« sagte er.

Es war der erste Augenblick, seit sie den Brief gelesen hatte, wo ihre Seele, die außerhalb des Körpers eine eigene Existenz geführt hatte, sich wieder mit diesem Körper zusammenfand. Hier stand sie jetzt, in diesem Augenblick, und wußte erst jetzt, was sie getan hatte.

»Haben Sie nicht geglaubt, daß so etwas geschehen könnte?«

Er konnte sie nur anstarren.

»... nach diesem Brief, den Sie geschrieben haben?!«

»Guter Gott! Ich habe in dem Brief doch nicht das geringste gesagt.«

»Nein, das nicht! Vielleicht wäre ich nicht gekommen, wenn Sie etwas gesagt hätten.«

»Was bedeutet das Ganze – warum sind Sie hier?«

»Ich fahre mit Ihnen heute nacht.«

»Bei Gott, das werden Sie nicht!«

»Ich werde es doch!«

»Sie werden schleunigst ins Haus zurückgehen und sich in Ihr Bett legen! Verstehen Sie mich?«

Es schwebte ihr auf den Lippen, ihn daran zu erinnern, daß er schon einmal etwas Ähnliches zu ihr gesagt hatte, und doch wußte sie, daß von allem in der Welt dies das letzte war, was sie ihm wirklich sagen wollte.

Sie schwieg, um die Anwandlung vorbeizulassen. Dann legte sie die Hand auf seinen Arm. Sie wolle ihn etwas fragen, er müsse ihr Antwort geben.

»Aber ganz ehrlich!« sagte sie. »Und wenn Sie mir geantwortet haben, dann gehe ich vielleicht wieder nach Hause, aber ich verspreche vorläufig nichts.«

»Was wollen Sie fragen?«

»Woran dachten Sie, als Sie den Brief geschrieben haben?«

Sie lächelte. Sie fühlte, wie er innerlich nach einer unverfänglichen Antwort suchte.

»Woran ich dachte? – aber es war nichts. Ich hatte Sie ganze zwei Tage nicht sehen können.«

»Jawohl. Und Sie dachten, Sie würden mich nie wiedersehen! Sie hatten sich mit dem Gedanken abgefunden, daß dies der letzte Brief war, den Sie mir je schreiben würden – und daß, wenn heute nacht etwas passieren sollte, Sie es mit Freuden willkommen heißen würden.«

»Wo wollen Sie das gelesen haben?«

»Zwischen jeder Zeile.«

»Und warum haben Sie es nicht gehen lassen, wie es ging?«

»Wie konnte ich? Haben wir soviel miteinander gehandelt, damit Sie es dann wie ein Nichts behandeln? – es wegwerfen? Wenn Sie selbst nicht wissen, wieviel Sie für Irland bedeuten, ich weiß es.«

»Es gibt einen ganzen Haufen Dinge, von denen Sie nichts wissen«, sagte er verstockt. Nichts kann ihn überreden, dachte sie verzagt. Und da, gerade da, trat ein Umschwung ein. Er griff hastig nach ihrem Arm. Er hielt sie und sah ihr ins Gesicht. Und dann zog er sie den Weg hinauf, auf die Wagen zu.

»Bei Gott, ich will Sie mitnehmen«, sagte er. »Ein Mensch, der von sich weist, was ihm vom Himmel zufällt, ist ein verdammter Narr! Sind Sie warm angezogen? Was haben Sie an?«

Sie zeigte es ihm.

»Ich habe noch einen anderen Mantel im Wagen liegen,« sagte er, »den werden Sie gefälligst umnehmen.«

Sie ging neben ihm dahin, als sei ihr eigener Wille ausgeschaltet. Sie fühlte: ein Impuls, der tiefer und stärker war als ihrer, trug sie wie ein Strom. Er ließ sie einen Augenblick allein, trat auf den ersten Wagen zu, um den beiden dort zu erklären, was vorgefallen sei. Sie stand auf dem Weg wie ein Kind, das warten muß. Sie hörte, wie zwischen den dreien ihr Name fiel – Mrs. Carroll – es war seltsam: man sprach von einer Frau, die auch sie gekannt hatte; es gab eine Mrs. Carroll. Sie hatte sich nicht vom Fleck gerührt, als John zurückkehrte.

»Da kommen die letzten Gewehre herauf«, sagte er. »Sie werden mit mir in den zweiten Wagen kommen.«

Er half ihr in seinen Mantel und setzte sie auf den Platz neben dem Steuer. Sie warteten eine Weile, dann tauchte ein Mann auf, der einen schweren Packen in den Armen hielt.

»Was, um's Himmels willen ...«, hob er an, als er Jane erblickte.

Das Gemurmel und Geflüster zwischen den Leuten setzte von neuem ein. John verließ sie und ging wieder zu dem ersten Wagen herüber. Sie hörte seine Stimme, er redete scharf, im Befehlston. Sie sprachen gälisch. Ein Geknatter von Worten, das in ihren Ohren alles bedeuten konnte, aber unverständlich blieb.

Dann kletterten die drei Männer auf den ersten Wagen, der sich die Straße nach Whitingbay hinunter in Bewegung setzte. John nahm seinen Platz neben ihr wieder ein, und sie fuhren hinterher.

»Die anderen wollten nicht, daß ich mitkomme«, sagte Jane, sobald sie unterwegs waren. Er gab keine Antwort.

»Nicht wahr?« wiederholte sie.

»Einer von ihnen.«

»Wer?«

»Der junge Troy.«

»Die anderen fanden nichts dabei.«

»Nicht das geringste.«

»Warum nicht?«

»Sie wissen, wenn Sie nicht wären, gäb's keine Gewehre. Ich habe ihnen das alles auseinandergesetzt.«

»Aber Troy weiß es doch auch, oder etwa nicht?«

Sie hatte in seiner Stimme etwas verdrossen Abwehrendes gespürt. Er wollte sie nicht in sein Inneres sehen lassen.

»Was kann Troy für Gründe haben, sich anders dazu zu stellen?« beharrte sie.

»Ich kann es auch nicht sagen, ich weiß es nicht. Die Troys haben in dieser Sache allesamt einen Sparren. Die zwei anderen Burschen da vorne, die halten Sie für ein Weltwunder. Wissen Sie, was sie mich eben gefragt haben? Ob sie nicht herüberkommen könnten und Sie mal von der Nähe sehen.«

»Sagten sie das?« flüsterte sie.

»Und warum sollten sie nicht?« kam die halblaute Antwort. »Weiß Gott, habe ich es nicht in diesen zwei Tagen selber bitter gemerkt, wie verdammt und ausgestoßen unsereiner ist, wenn er Sie nicht mehr zu Gesicht bekommt.«

Sie wies es von sich, hierin nur die Sprache eines Menschen zu sehen, der verliebt ist. Es war die Rechtfertigung dafür, daß sie gekommen war.

»Also habe ich den Brief doch richtig gelesen?«

»Ich wollte nicht, daß es drin stehen sollte.«

»Ich hätte es übersehen können – und das hätte geheißen, daß ich Sie im Stich ließ, daß ich versagte.«

Er nahm eine Hand vom Steuer und fand ihre Hand in ihrem Schoß.

Sie waren bei Whitingbay rechts abgebogen und schlugen nun den Weg durch Clashamahy nach Cleary's Cross ein. Noch immer hielt er ihre Hand. Der rote Punkt der Schlußlaterne des ersten Wagens hüpfte vor ihnen über die Wasserrinnen im Weg wie ein tanzendes Irrlicht. Mit ausgelöschten Scheinwerfern, nur die Seitenlaternen des Wagens brannten, folgten sie diesem roten Fünkchen durch die Dunkelheit, weiter und immer weiter, und beide, sie und er, hielten den Gedanken sorgfältig von sich fern, daß in drei Stunden schon die erste Morgendämmerung drohte.

In Clashamahy hielten sie vor einem Bauernhaus. Einer der Männer kletterte vom ersten Wagen. Ein paar Gewehre auf der Schulter, sahen sie ihn durch die Mistpfützen des Hofes waten und an die Haustür klopfen. Durch die lärmenden Windstöße kam das Klopfen gedämpft herüber. Im Haus hörte man eine Stimme etwas fragen, ehe der obere Teil der Tür sich öffnete. Die Gewehre verschwanden durch die dunkle Öffnung. Die Tür schloß sich. Nichts mehr. Die Fahrt begann von neuem. Die beiden Wagen fegten in die Finsternis der endlosen Straßen hinein.

Sie hatte kein Wort geredet, seitdem sie an Whitingbay vorbeigefahren waren. Nach den zwei Regentagen, in denen sie in Ardogina wie im Gefängnis gelebt hatte, erfüllte sie jetzt eine tiefe Befriedigung, die der Worte nicht bedurfte. Sie durfte teilnehmen an dem, was hier geschah. Dies war eine Erfüllung. John Madden hatte ihr erzählt, wie seine Leute über sie dachten. Es erfüllte sie mit Stolz. Die Worte summten mit dem freudigen, kriegerischen Stolz des Londonderry-Liedes durch ihr Hirn. Das dachten sie von ihr, die Leute hier draußen in der Dunkelheit! Das dachten sie alle – außer den Troys! Was hatte John gesagt? Die ganze Familie. Wieso? Gab es mehr Troys außer dem Alten, seiner Frau und dem Sohn? Sie fragte ihn danach. Die ersten Worte, die sie in der ganzen Zeit gesprochen hatte.

»Haben die Troys noch andere Kinder außer diesem Sohn?«

»Ja, sie haben noch einen zweiten Sohn,« sagte er, »älter als dieser.«

»Gehört er nicht zu euch?«

»O gewiß, sie gehören alle mit dazu. Da ist keiner, den Sie auf den Landstraßen gehen sehen oder in den Feldern arbeiten, der nicht fünf Finger von seiner Hand für uns zu opfern bereit wäre.«

»War dieser Sohn auch dabei, wie die Gewehre gelandet wurden?«

»Beim Ausladen hat er geholfen, aber er arbeitet auf einem Gut an der Küste näher nach Whitingbay hin. Er ist verheiratet, hat Kinder. Es ist schwer, Leute, die verheiratet sind, von ihrem Heim fortzubringen.«

»Ist das Gut in der Nähe von Ardogina?«

Ihr war etwas eingefallen; erst ein einzelnes Glied einer Gedankenkette.

»Es grenzt an Ardogina,« sagte Madden, »dort lebt er.«

»Und seine Kinder?«

»Nun, natürlich auch.«

Sie entzog ihm ihre Hand. Sie schwieg und überließ ihn lange dieser Stille. Sie hatten noch zweimal vor Häusern am Wegrand gehalten und waren bereits über Cleary's Cross hinaus, ehe sie wieder sprach.

»Wie sie mich hassen!« sagte sie dann und erzählte ihm von ihrem Spaziergang am ersten Morgen in Ardogina und von dem Stein, der über die Mauer hinweg nach ihr geschleudert worden war.

»Also waren es Kinder dieser Troys. Immer die Troys und Vater Hanrahan.«

»Ich würde es gar nicht beachten«, sagte er mit einem Lachen. »Es ist ein etwas verschrobener Menschenschlag. Denken Sie daran, was sie mit Parnell angestellt haben, als sie die Sache mit Mrs. O'Shea erfuhren. Davon ist nicht loszukommen in Irland. Das haben die Pfaffen auf dem Gewissen, aber sie haben jetzt keine Macht mehr. Troy ist einer vom alten Schlag, aber sie sterben aus. Ich würde mich nicht mehr um sie kümmern, als ich mich um einen kümmern würde, der mir von den Schrecken der Hölle vorerzählt.«

»Aber stellen Sie sich doch vor, daß dieser Haß den Leuten eingeimpft wurde, ehe ich überhaupt hergekommen bin! Es war am allerersten Tag nach unserer Ankunft! Ich bin noch niemals gehaßt worden, gewiß nicht mit dieser Art von Haß, die sich wie ein Fluch auf einen legt. Und dann erlebe ich die Geschichte mit dem Stein und sehe die nackten Kinderfüße in der Hecke verschwinden. Ich gehe nach Hause voller Verachtung gegen die Troys, und wen finde ich drinnen im Zimmer, auf mich wartend? Diesen schwarzen Priester. Warum sehen sie hier in ihren Röcken soviel schwärzer aus als unsere Pfaffen in England?«

Er lachte. Er wollte sie auslachen, weil sie solche Hirngespinste nährte. Manchmal hatte sie so drollige Einfälle! – und dann schlug sein Lachen plötzlich in eine Art erstickten Stöhnens um, wurde ein Schrei, den er nicht laut werden ließ. Sie drehte sich rasch nach ihm um. Es war so ein seltsamer Ton, aus den Tiefen kommend, schmerzlicher als ein Stöhnen körperlicher Qual.

»Was ist los?« fragte sie. »Was gibt's?«

»Sie!«

»Ich?«

In einem Augenblick schien sich alles verändert zu haben. Plötzlich gab er dem, daß sie hier mit ihm war, eine andere Bedeutung.

»Hier sitze ich und fahre diesen Wagen,« sagte er – es schien, als ob er plötzlich von etwas ganz anderem redete –, »und wenn ich meine Augen nicht fest auf dieses rote Licht gerichtet halte, das da vor uns herhüpft, so würde es wohl nicht lange dauern, bis wir im Graben landen. Und trotzdem sitze ich hier so wenig mit meinem Verstand hinter dem Steuer wie einer, der träumt.«

Jane sagte nichts. Sie hoffte, daß nichts weiter kommen würde. Aber seine Stimme fuhr im selben Ton fort, von einem Klang des Leidens durchbebt, der so ans Herz griff, daß ihr angst wurde, ihn zu hören.

»Ich frage mich manchmal, ist das hier wirklich das, wofür ich bestimmt bin,« sprach er weiter, »denn, weiß Gott, es sollte einem Mann gegeben sein, sein Leben teilen zu dürfen zwischen der Frau, die er liebt, und den Dingen, die zu vollenden er sich zum Lebensziel gemacht hat! Ich habe dasselbe schon gedacht, als ich Sie in London sah. Ich dachte, hier ist die schönste Frau, die du je in deinem Leben erblickt hast – und doch, dachte ich, was ist das gegen die Dinge, die um Irlands willen getan werden müssen! Ich sagte es an dem Morgen im Hydepark-Hotel. Ja! ich habe Rosen geschickt, es war, wie wenn ein anderer hingeht und am Altar der Jungfrau eine Kerze anzündet. So habe ich Sie gesehen! Etwas, zu dem ich nicht die Hände, kaum die Gedanken erheben durfte! Selbst die Nacht, als ich Sie in den Armen hielt, ehe Draper ins Zimmer kam – es war etwas vom Sakrament darin! Wenn es einem Mann erlaubt ist, der Jungfrau eine Kerze anzuzünden, so kann es ihm bei Gott auch nicht verwehrt sein, seine Arme um ihr geschnitztes Bild zu legen, das auf dem Altar steht, hoch über ihm. Kann es ihm verwehrt sein?«

Er sah sie an, und sie beugte den Kopf in stummer Zustimmung.

»Ich habe Sie nicht geküßt – oder habe ich?« fuhr er fort.

»Nein.«

»Und sagen Sie es doch selbst, wußten Sie nicht, wie ich empfand, daß ich so empfand? Wußten Sie das nicht?«

»Wenn es anders gewesen wäre, wenn ich das nicht gewußt hätte, ich glaube, es wäre nicht geschehen«, sagte sie. »Wir hatten uns kaum drei- oder viermal gesehen. Es wäre häßlich gewesen, wenn es anders gewesen wäre.«

»Häßlich?« Er wiederholte das Wort, als wäre es seltsam, den Gedanken zu fassen. »Um Irland ging es, selbst nach dieser Nacht noch. Ich dachte, alle Aussicht auf diese Gewehre sei dahin. Für immer und ewig, dachte ich, sei sie dahin. Sind Sie je in eine Kirche getreten außer der Zeit des Gottesdienstes und haben vor irgendeinem Altar eine Frau auf den Knien gefunden, die geschüttelt wurde von verhaltenem Schmerz um etwas, das sie verloren hatte – ein Kind vielleicht oder ihren Mann? Haben Sie das je erlebt?«

»Ich weiß, was Sie meinen«, flüsterte sie.

»Nun, so war es mit mir in dieser Nacht, so habe ich Sie in den Armen gehalten. Oh – Sie werden denken, es gäbe kein Ding auf dieser Welt, kein armseliges dummes Ding, um dessen Verlust ein Mann sich so gebärden könnte – würden Sie es glauben? Ich war am Hinabgleiten, ich hielt mich gerade noch; wenn Sie nicht gewesen wären und Ihr Liebreiz und die Süße des Mitleids, das Sie hatten – es war mir, als könnte ich Irland wiedersehen –, ich hätte mich fallen lassen, weiß Gott, ich hätte mich hinabstürzen lassen. An Ihnen habe ich mich gehalten, gerade noch gehalten. Wußten Sie das? Wußten Sie, daß es damals so mit mir stand?«

Sie sah zu ihm auf, liebevoll, zu seinem düsteren Gesicht in der Dunkelheit der Nacht, zu seinen Augen, die unablässig auf dem roten tanzenden Lichtfunken vor ihnen hafteten.

»Ich habe alles gewußt«, sagte sie. »Haben Sie es nicht gespürt, daß ich stolz darauf war, soviel zu wissen? Und es war ein Besitz, der kostbarer war als alles, was je in meine Hände gegeben worden ist. Und nun? Verstehen Sie jetzt, warum ich heute gekommen bin?«

»Warum?«

»Weil ich es wieder gefühlt habe. Dieselbe Verzweiflung wie damals war heute in diesem Brief. Sie waren kurz vor dem Absturz. Sie brauchen Hoffnung, wenn die Dinge Ihnen glücken sollen. Es war, als schicke man nach mir, als rufe man mich. Hätte ich dem Ruf Widerstand leisten können? – Nein. So wenig, wie ich hätte Widerstand leisten können, wenn man gekommen wäre und mich verhaftet hätte. Ich las ihn – und ich kam. Ich habe noch nicht einmal einen Augenblick lang überlegen können, wie ich es bewerkstelligen sollte, so wenig, daß erst, als ich angerufen wurde, mir die Möglichkeit dämmerte, daß mich Ihre Leute auf den ersten Verdacht hin hätten über den Haufen schießen können. Erst als einer mich anrief, fiel mir es ein, und selbst da war es mir gleichgültig. Ich hatte ein Gefühl, als könne mich keine Kugel töten. Ich hatte den Brief. Es war wie ein Paß. Ich hatte ihn zu mir gesteckt – hier, hier im Kleid.«

»Und trotzdem haben Sie nie auch nur ein einziges Wort davon verstanden. Richtig verstanden«, sagte er schroff. »Nicht das kleinste Wort. Du lieber Himmel, der Brief war kein Paß, nicht im geringsten. Es war auch kein Ruf. Niemals hätte ich gewagt, darum zu bitten, daß Sie kommen. Ganz einfach nicht gewagt hätte ich's.«

Er schleuderte die letzten Worte in die Dunkelheit hinaus. Es war, als müsse er vor dem Richterstuhl seines eigenen Gewissens eine bohrende Frage beantworten.

»Und doch – nun sind Sie gekommen«, fuhr er fort. »Es ist geschehen, und es ist kein Loskommen mehr davon. Hier sitzen Sie neben mir, und es muß wohl so sein, daß das Schicksal es irgendwie gewollt hat. Alles ist ja vom Schicksal gewollt! Hier sitzen wir, Sie und ich, und fahren mit den Gewehren durch die Nacht, und nichts auf der Welt ist mir so wichtig wie das eine: wie sehr ich Sie liebe! Hören Sie das? In meinen Armen haben Sie gelegen, und da ist kein Wort von Liebe, kein einziger Laut ist gefallen zwischen uns bis heute. Aber jetzt lebt in meinem Hirn kein anderes Wort als dies eine. Es ist nicht so, als ob Irland mir geringfügiger geworden wäre, es ist nur, daß Sie mir soviel kostbarer geworden sind als Irland.«

Sie unterbrach ihn beschwörend, abwehrend, suchte, was er sagte, in ihrer eigenen Stimme zu ertränken.

»Das glauben Sie doch nicht«, rief sie aus. »Es ist die Stimmung, die Sie heute befallen hat, die Stimmung, die ich auch in diesem Brief gefunden habe.«

Eine Meile, mehr als eine Meile, fuhr er schweigend. Wieder machten sie an einer Hütte am Wege halt. Ein Gewehr und Munition wurden durch ein Fenster hineingereicht. Jane sah ein Gesicht erscheinen und verschwinden.

Sie glaubte schon, daß er nun nichts mehr weiter sagen werde, sie berührte leise seinen Arm und sah ihn an. Nicht beschämt, es lag ihr daran, dies eine noch zu wissen.

Er sah geradeaus und wendete den Blick nicht, als er ihre Hand auf seinem Arm spürte, aber er wußte wohl, daß sie ihn berührt hatte, und als er wieder sprach, sprach er wie ein Mann, der die Abgründe und die Höhen seines eigenen Ichs nach dem durchforscht hat, was Wahrheit ist, und bestätigt gefunden hat, daß die aufrichtige, die ganze Wahrheit das ist, von dem er schon längst geglaubt hatte, daß es die Wahrheit sein müsse.

»Wir wollen versuchen, zu verstehen,« begann er ruhig und gefaßt, »wir wollen den wahren Kern herausschälen. Ich bin bereit, vor Gott zu beschwören, daß ich auch jetzt noch Irlands Sache nicht weniger ergeben bin als damals. Ich wäre in diesem Augenblick bereit, für Irland mein Leben zu opfern, aber mit dem letzten Atemzug, der mir vergönnt ist, würde ich nur einen Gedanken haben: an Sie würde ich denken. Hören Sie, es würde mich nicht reuen, jetzt, hier, auf der Stelle, für Irland zu sterben! Denn könnte es nach diesem Wunderbaren noch ein Wunder geben, das die Zukunft für mich bereit hält? Es gibt nichts, nichts darüber hinaus. Über das eine hinaus: an Sie zu denken, zu denken, daß Sie leben, irgendwo leben, lachen, wie Sie lachen können, sprechen, wie Sie sprechen können mit dem süßen Zug um die Lippen, den Sie haben, wenn Sie etwas sagen und wissen, daß Ihr Witz drin funkelt. Zu wissen, daß Sie leben, ist Freude genug für mich, verstehen Sie das? Verstehen Sie das? Und dann, irgendwann, wenn es mich erwischt, es täte nicht weh, solange ich an Sie denken kann.«

»Sagen Sie nichts mehr,« flüsterte sie, »um aller Heiligen willen, sagen Sie nichts mehr!«

»Und warum soll ich nicht? Warum nicht? Wem tut es weh, was ich sage? Mir tut es nicht weh – kein Wort davon, und wie soll es Ihnen nur im kleinsten weh tun, zu wissen, daß ein Mann einmal froh war, weil es ihm gegeben war, einmal nur zu sagen – daß er Sie liebte! Und wenn Sie jetzt zurückgehen nach England, so werde ich wissen, was auch geschehen mag, Sie werden diese Fahrt nicht vergessen – auf den Straßen in der Nacht. Es gibt keine Frau, die es vergessen könnte, und ich verlange nicht das geringste mehr außer diesem. Ich will nicht, daß man mich vergißt! Das wäre es vielleicht, was ich nicht ertragen könnte!«

Sie blickte auf. Das seelische Vibrieren, das in seiner Stimme schwang, hatte aufgehört. Und plötzlich hatte er abgebrochen. Sie versuchte, sein Gesicht zu erkennen. Es war, als verwandle sich dieses Gesicht unter ihren Augen. Als schreibe eine Hand plötzlich harte Linien hinein. Sein Blick suchte angestrengt vor ihnen in der Dunkelheit irgend etwas zu erkennen. Sie blickte auch in diese Richtung. Sie merkte, er sah nicht nach dem vorderen Wagen hin. Was er suchte, lag höher und weiter vorn, weit weg über den schwarzen Feldern rechts hinaus. Und jetzt sah sie es. Einen schwachen, wandernden Lichtschein, der dort in der Ferne Baum um Baum der Straße erfaßte und wieder hinter sich in Dunkelheit zurückließ und zum nächsten glitt.

John drückte auf die Hupe.

»Was ist es?« fragte sie.

Er deutete in der Richtung, nach der er blickte. Deutete mit starr ausgestreckter Hand. Plötzlich erlosch das rote Licht vor ihnen. Er bückte sich und schaltete ihre eigenen Lichter aus. Jane hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewußt, wie schwarz und dunkel die Nacht gewesen war, in der sie fuhren.


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