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Am Sonnabend kehrte Stephen zurück. Er fand sie zur Lunchzeit im Bett, bei einer Diät, die überzeugend genug aus ein paar Eiern, einem Teller Obst, einem Glas Wasser und einem Buch zusammengesetzt war.
»Weißt du, ich fühle mich ganz und gar – ich weiß nicht wie –« sagte sie. Ihr Auge war klar.
Er setzte sich auf ihr Bett. Wie immer waren unzählige Blumen im Zimmer. Prunkende Maitulpen und eine Vase, aus der die langen geraden Stengel roter Rosen aufstiegen. Es roch nach Gewächshaus – nur der Erdgeruch fehlte –, es war eine Art Sublimierung der gewöhnlichen Gewächshausatmosphäre.
Er beugte sich vor, küßte sie auf die Wange und sagte:
»Du erwartest Besuch. Wen?«
»Woher wußtest du das?«
Er wußte es selbst nicht. War nicht imstande, es ihr zu erklären.
»Es kommt nur jemand, den ich kenne«, sagte sie.
Er zeigte keine Neugier. Aber sein Schweigen war eine Frage.
»Dieser Amerikaner – Draper – Anthony Draper. Erinnerst du dich? Ich sagte dir kürzlich, daß ich mit ihm zusammentreffen würde. Wir haben miteinander geluncht. Dicky ...?«
»Was?«
»Wenn es jetzt in deiner Macht stünde, Irland irgendwie zu helfen, würdest du es tun?«
»Ist das der Grund, weshalb Draper hierherkommt?«
»Jawohl – aber du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Was möchtest du denn?«
»Nichts, nur meine Frage sollst du beantworten.«
Er lächelte. Die hölzerne Unbeweglichkeit seines Gesichts belebte sich.
»Hast du immer noch nicht heraus,« sagte er, »daß ich kein Mann der Tat bin?«
»Du hast mich geheiratet, Dicky.«
»Ich habe dich gefragt, ob du mich heiraten willst. Du hast zugestimmt.«
»Ja – aber warum hast du gefragt?«
»Willst du das jetzt wissen, nach sechs Jahren?«
»Ja.«
Er sah aus, als hätte er die Frage lieber nicht beantwortet – ein bißchen wie ein Kind, das versucht hat, sich zu verstellen und nur zögernd bereit ist, alles zu erklären. Immer wich er aus, wenn sie versuchte, sein Inneres zu überrumpeln.
»Gib dir einen Ruck, Dicky, und sag' mir Bescheid«, sagte sie mit einer Stimme, der nicht zu widerstehen war.
»Nun – ich meine, in jedem Manne lebt von seiner Geburt an ein Gefühl für Schönheit.« Seine Worte hatten etwas Gezwungenes. »Ob das für die jetzige Generation auch noch gilt, kann ich nicht sagen. Aber mir ist manchmal, als würden wir eines schönen Tages entdecken, daß die sogenannte heutige Generation überhaupt nicht mitzählt. Es geht ihr wie einem Kind, das inmitten einer Ehekrise zur Welt gekommen ist und nun unter der damit verbundenen Umkehrung aller natürlichen Eindrücke und Neigungen zu leiden hat. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß in einem Hause, wo Vater und Mutter sich gegenseitig Schüsseln und Teller an den Kopf werfen, das Kind sich eine gänzlich falsche Auffassung von dem Daseinszwecke solcher Eßutensilien bildet.«
»Dicky!«
»Jawohl.«
»Manchmal kommt es mir vor, als ob deine Witze die Palme verdienten.«
»Warum?«
»Weil du niemals etwas Drolliges sagst, das nicht auch einen großen Teil Wahrheit enthält.«
»War das drollig?«
»Es kam mir so vor. Aber sprich weiter. In jedem Mann lebt von seiner Geburt an ein Gefühl für Schönheit, hattest du gesagt.«
»Nun ja, das ist meine feste Überzeugung. Leben ist eine Frage der inneren Werte. Ich brauche nicht Beispiele aus der Geschichte herbeizuschleppen, um dir das zu beweisen. In jedem Manne lebt von Geburt an ein Gefühl für Schönheit. Es mag ihm nicht gegeben sein, dem Gefühl Worte zu verleihen, aber er hält beharrlich daran fest, allen Enttäuschungen, die ihm die Welt bereitet, zum Trotz. Ich habe um dich angehalten, weil du für mich der Ausdruck einer Vorstellung von Schönheit bist, die zu formulieren ich selbst niemals hoffen könnte.«
»Also nicht, weil du mich geliebt hast?«
»Aber das, was ich gesagt habe, ist doch dasselbe mit anderen Worten. Es ist uns auferlegt, das zu lieben, was wir als das Schönste auf der Welt erkannt haben.«
Und dann fügte er hinzu: »Ist es dein Wunsch, daß ich zum Tee hier auftauche, um diesen Draper kennenzulernen?«
»Jawohl! Komm einen Augenblick herüber.«
Er nickte zustimmend und ging zum Lunch hinunter. Auch jetzt wieder erinnerte er an ein Kind, das nicht gerade traurig darüber ist, daß seine Lektion zu Ende ist.
Um Viertel vor vier klopfte Britton an Janes Tür. Sie stellte ihre Stimme auf die heitere Fassung ab, mit der ein Kranker sich in sein Schicksal ergibt.
Britton öffnete die Tür und hinter dem Wandschirm unsichtbar bleibend, der das Fußende ihres Bettes umgab, meldete er respektvoll einen Besucher, den sie erwartete.
Sie saß aufrecht im Bett, in einem Wall von Kissen, als Anthony Draper sie zuerst zu Gesicht bekam.
In dem Kleidungsstück oder den Kleidungsstücken, die er an ihr wahrnehmen konnte, ohne sie anzusehen, erschien sie seinen Augen nur in leichte Nebel gekleidet. Er war kein Mann, der Eindrücken rasch unterlag. Er hatte Erlebnisse mit Frauen gehabt. Aber als er sich unerwartet vor ihr sah, merkte er, daß es ihm irgendwie an innerlicher Gefaßtheit fehlte. Sie hatte ihn überrumpelt. Immer wenn er mit ihr zusammengetroffen war, hatte er den Liebreiz empfunden, der von ihr ausging, aber jetzt merkte er mit Unbehagen, daß diese Schönheit auch weh tun konnte. Die Frauen seines Landes hatte er unter ähnlichen Umständen gesehen – alle, bei denen es sein Wunsch gewesen war –, sie hatten immer den Eindruck eines sorgfältigen und raffinierten Zurechtgemachtseins gemacht. Sie schienen irgend etwas zu erwarten, und das hatte es ihm leicht gemacht, sich der Situation anzupassen. Er hatte immer gefühlt und auch gewußt, daß Zofe, Maniküre und Masseur sie gerade verlassen hatten.
Jane Carroll gegenüber kam er sich vor, als habe er eine ungemein schöne Frau im Schlafe überrascht. Ihr schwarzes Haar floß wundervoll über ihre blassen Schultern, aber es war nicht eben erst von der Zofe gebürstet worden. Er hatte das Gefühl, daß man ihm ein Privileg gewährte, das nicht wie bei anderen Frauen der Spiegel vor ihm genossen hatte, während man ihn vor der Tür warten ließ.
»Eher als wir gedacht hätten«, sagte sie lächelnd, als er ihre Hand ergriff.
»Wieso eher?«
»Sie kommen, um zu sehen, wie mein Kleiderschrank dem Bett das Feld hat räumen müssen. Es tut mir schrecklich leid. Ich hätte Sie gebeten, lieber an einem anderen Tag zu kommen, wenn wir nicht neulich über die Einrichtung meines Schlafzimmers gescherzt hätten. Setzen Sie sich doch! Dieser Stuhl steht für Sie da, für jeden, der sich veranlaßt fühlt, sich meiner zu erbarmen.«
Er gab sich Mühe, seine Stimme möglichst gleichgültig zu färben, aber es gelang ihm trotzdem nicht, seine Besorgnis zu verhehlen, als er fragte:
»Erwarten Sie noch andere Leute zu Besuch?«
»Es gibt immer einen oder den anderen,« sagte sie, »der zum Tee bei mir anklopft.«
»Ich glaube wohl.«
»Aber ich wollte, daß Sie herkommen, damit Sie Stephen kennenlernen,« sagte sie, tapfer Konversation machend, »und natürlich wollte ich Sie auch selbst zu Gesicht bekommen. Ich neige sehr leicht dazu, so eine Art Grippe zu bekommen – ganz plötzlich habe ich Fieber. Dann muß ich mich eben ins Bett legen und mich bemühen, so lebendig auszusehen, wie ich kann.«
»Ich sehe keine Anzeichen dafür, daß Sie sich besonders anstrengen müssen«, sagte Draper. Er sah sich im Zimmer um. Es störte ihn nichts. Ihre Pantöffelchen standen nebeneinander hinter einem Stuhl. Auf einem Betpult lag ein Meßbuch. Auf dem Toilettentisch standen die langstieligen roten Rosen, die John Madden ihr gesandt hatte.
Bevor er mit seiner Musterung fertig war, erklärte sie, er habe hoffentlich doch ihre Instruktionen befolgt.
»Ich bin mir nicht bewußt,« erwiderte er, »jemals widersetzlich gewesen zu sein, wo Sie Gehorsam verlangten, aber was hatten Sie mir eigentlich befohlen. Was hatte ich zu tun?«
»Im Gegenteil! Ich hatte Ihnen befohlen, etwas nicht zu tun. Ich hatte Ihnen befohlen, keine Entschlüsse hinsichtlich unseres Vorschlags zu fassen, ehe Sie mit mir gesprochen hätten.«
»Haben Sie das nur getan, um mich in die unbehagliche Lage zu bringen, Ihnen mein Nein ins Gesicht zu sagen?«
»Nein, ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich vor irgend jemand unbehaglich fühlen könnten, wenn Ihr Entschluß einmal gefaßt ist.«
Er hatte ein leises pfiffiges Lächeln um die Augenwinkel, als er sagte:
»Es wäre mir direkt unangenehm, wenn ich denken müßte, daß Sie immer bemüht sind, an mir die beste Seite herauszufinden.«
Er verwirrte sie damit nicht. Sie erklärte, auch sie sei nur ein begrenzter Mensch, und deshalb könne sie an anderen, wie sie gestehen müsse, nur das sehen, was sie persönlich interessiere.
»Ich möchte Ihnen mit der Annahme schmeicheln, daß es viel mehr interessante Seiten an Ihnen gibt, als die, die mich interessieren. Und ich bin bereit, alles zu glauben, was Sie mir von sich erzählen.«
Es löste in ihm den Impuls aus, ihr mehr von sich zu erzählen, als er je einer Frau anvertraut hatte. Am liebsten hätte er ihr mitgeteilt, er sei bereit, einen beträchtlichen Bruchteil seines Lebens ihrem Dienst zu widmen, wenn sie ihm die Versicherung geben könne, daß er seine Zeit nicht unnütz opferte.
Und in der Tat war etwas in der Luft dieses Zimmers, was Menschen einander näherbringen konnte. Es wirkte irgendwie zersetzend auf die Weltanschauung, mit der er sich gegen die Zufälligkeiten des Lebens gewappnet hatte. Er hatte sich nie der Lockung des Impulses überlassen. Er sah darin eine Schwäche, aber jetzt und hier schien es fast unmöglich, dem Gelüste Widerstand zu leisten. Er hatte sich niemals dem Hang überlassen, egozentrische Selbstbespiegelung zu treiben. Trotzdem war er jetzt nahe daran, ihr zu erzählen, er habe bis jetzt in dem Glauben gelebt, Ideale zu besitzen sei ungefähr so empfehlenswert, wie Feuer zu schlucken, um sich warm zu halten. Er war nahe daran, zu beichten, daß er mit voller Überlegung diese Überzeugung sich wie einen Harnisch angeschnallt und getragen habe – bis er sie kennengelernt habe.
So war es für ihn eine gewisse Erleichterung, als an der Tür geklopft wurde und die Zofe den Tee servierte. Kurz darauf trat Stephen ein.
»Es wird dir doch recht sein, wenn ich meine Arbeit einen Augenblick unterbreche,« sagte er, »um bei dir eine Tasse Tee zu trinken.«
Soweit er es überhaupt fertigbrachte, diplomatisch aufzutreten, war dies seine beste Leistung.
Sie nannte ihn zärtlich Dicky – und stellte die beiden einander vor. Stephen schenkte Tee ein. Sie lehnte sich in ihre Kissen zurück und beobachtete die beiden Männer, die so vollendete Gegensätze waren, während Stephen und Draper bemüht waren, sich durch die nebelhafte Atmosphäre gegenseitiger Beobachtung durchzukämpfen, die immer entsteht, wenn zwei Männer sich in Gegenwart einer Frau kennenlernen.
Sie wußte, daß Stephen dabei den größten Teil der Arbeit Draper überließ. Niemals pflegte er sich in dieser Beziehung anzustrengen. Es schien nur ein Zufall zu sein, wenn er hörte, was zu ihm gesagt wurde. Aber Anthony Draper war anzumerken, daß er den Mann, der vor ihm saß, gelassen und gründlich einer Musterung unterzog. Es wirkte, als hätte er ihn mit einer Zange gepackt und wolle ihn nicht gleich wieder freigeben. Die Art wie er ihn ansah, wäre beleidigend gewesen, wenn nicht die gelassene Gleichgültigkeit seiner Stimme, die aus ihm einen so schwer zu entziffernden Menschen machte, dies wieder ausgeglichen hätte.
»Es ist eigentlich recht interessant,« sagte er nach einigen einleitenden Bemerkungen über den irischen Aufstand, »daß Ihre Gattin und ich sozusagen auf dem gemeinsamen Boden eines gewissen sentimentalen Interesses für Irland zusammentreffen, während Sie, der Sie doch in Irland geboren sind, anscheinend Ihre klassische Distanz zu den Vorgängen dort bewahren.«
»Ist es denn nicht auch Ihre Heimat?« fragte Stephen.
»Ich bin Amerikaner.«
»Das heißt, Sie haben den Eid als amerikanischer Bürger geschworen.«
»Das würde an sich nichts bedeuten, aber das Land selbst fesselt und hält. Manchmal dauert es nur eine Generation, ehe es völlig von einem Besitz ergriffen hat. Irland interessiert mich genau so viel oder so wenig wie mein Großvater, den ich niemals zu Gesicht bekommen habe, also einen guten Grad weniger als mein Vater, den ich so gut gekannt habe wie jedes verständige Kind. Am stärksten und dauerndsten interessiere ich mich für mich selbst.«
Als trage man ihm irgendeinen philosophischen Lehrsatz vor, gab Stephen zu, daß Drapers Prinzip vielleicht etwas für sich habe. Weder Jane noch Draper hätten sagen können, ob er es billigte oder nicht.
»Sind Sie schon mit unserem jungen Irländer zusammengekommen, mit John Madden?« fragte er.
Die Frage war an sich harmlos genug. Trotzdem machte Draper eine Pause, ehe er seine Antwort gab. Er hätte Jane ansehen können, um sich die Antwort soufflieren zu lassen. Wenn sie nicht den Wunsch hatte, daß Stephen von der Zusammenkunft vor zwei Tagen erfuhr, dann genügte ein Wink mit den Augen, und Draper war verpflichtet, zu gehorchen. Aber er schien keinen Wert darauf zu legen, daß ihm die Antwort souffliert wurde. Er wünschte, Stephen Carroll zu verstehen. Deshalb wichen seine Augen beharrlich Janes Blick aus. Allem Anscheine nach hatte sie ihrem Manne nicht erzählt, was am Donnerstagabend vorgefallen war. Wie würde er reagieren, wenn er es jetzt unvermutet erfuhr. Und so zögerte er einen Augenblick kunstvoll und sagte dann –
»Ich bin mit ihm vorgestern abend hier zusammengetroffen. Wir hatten eine lange Unterhaltung. Er erzählte mir, was in Irland los ist.«
Stephen nickte mit dem Kopf. Anscheinend empfand er keine Überraschung.
»Das ist ein junger Mann,« sagte er, »der den Mut hat, auch für seine Ideale in die Schranken zu treten. Wenn nicht eine Kugel seiner Laufbahn vorzeitig ein Ende setzt, wird er es weit bringen. Bei all diesen jungen Leuten dort drüben ist das einzige, was fraglich ist, wie lange sie am Leben bleiben. Ich wünschte mir manchmal, ich wäre jünger. Man hat so viel zu geben, solange man jung ist. In einer Situation, wie sie heute in Irland ist, gibt es nur zwei Dinge, die wirklich Wert haben. Kampffähige Männer und Waffen. Vor allem aber Waffen. Und – ehe Sie kamen, sagte ich es schon zu meiner Frau – ich bin kein Mann der Tat. Willst du noch Tee, Jane? Und Sie, Mr. Draper?«
Beide sagten nein.
»Dann will ich, wenn Sie gestatten, wieder zu meiner Arbeit zurückkehren.«
Die Tür schloß sich, und sie waren allein. Sie schwiegen. Sie wußte, daß er darauf brannte, sie zu fragen, was sie veranlaßt habe, Stephen zu heiraten. Sie wußte es so gut, daß ihre Augen ihn dazu einluden – und sie lächelte. Sie lächelte wie jemand, der sagen will: »Es gibt Dinge auf der Welt, die nicht dazu da sind, verstanden, zu werden.«
Was sie wirklich sagte, war:
»Sie wollen rauchen. Drücken Sie auf die Klingel und ich werde sagen, daß man Ihnen Zigaretten bringt.«
»Nicht im Traum würde es mir einfallen, in diesem Zimmer hier zu rauchen. Und das veranlaßt mich, zu glauben, daß ich mich selbst in ein bedenkliches Licht gesetzt habe, als ich erklärte, dasjenige, woran ich am meisten Interesse nehme, sei mein eigenes Selbst.«
Sie schob sich ein Kissen hinter den Kopf. Er hatte sich bemüht, ihr ein Kompliment zu machen, sie erfaßte instinktiv, was sich darunter verbarg, denn was er gesagt hatte, stand nur in loser Beziehung zu seinen Gedanken. Die Frage, die sie fesselte, war: Wessen Interessen beschäftigten ihn jetzt mehr als seine eigenen. Sein Zusammentreffen mit Stephen hatte seine ganze Einstellung zu dem verändert, was er vor zwei Tagen als die Rolle »des Dritten« bezeichnet hatte.
Ein Gefühl gespannter Erwartung erfüllte sie so lebhaft, daß sie sich zurücklehnte und die Augen schloß. Nur so konnte sie ihre Bewegung verbergen. Ihr Herz hämmerte. Er stand ersichtlich an der Schwelle einer Entscheidung. Sie wagte nicht zu sprechen, aus Angst, ihn abzulenken. Sie konnte das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims hören. Unwillkürlich veränderte sie ihre Lage, und das Geräusch der Federmatratze klang in ihren Ohren wie Donner. Dann hörte sie wie aus weiter Ferne, daß er sagte:
»Ich bin bereit, mit der ›Candida‹ die Gewehre herüberzubringen, Mrs. Carroll. Aber geben Sie sich keinen Täuschungen hin – es geschieht nur unter einer Bedingung.«
Sie getraute sich, die Augen aufzuschlagen und ihn anzusehen.
»Was ist das für eine Bedingung?« fragte sie.
Er nahm ein Butterbrot von dem Teller, der vor ihm stand, und biß ein Stück davon ab. Es ist eine Eigenart der Gedanken, in den ungeeignetsten Augenblicken plötzlich Seitenpfade einzuschlagen, und so schoß es ihr in diesem Augenblick durch den Kopf, daß er immer, wenn er erregt war, das Bedürfnis fühlte, irgend etwas Festes zwischen den Zähnen zu spüren – wenn Anthony Draper überhaupt fähig sein sollte, in irgendeiner Lage zuzugeben, daß er erregt sei.
Er kaute an seinem Butterbrot, als er sagte:
»Mr. Madden hat uns da etwas von einem Haus Ardogina erzählt.«
»Was ist damit?«
»Man verlangt von mir, daß ich dort zwischen Abend und Morgendämmerung meine Ladung an Land schaffe. In Ihrem Salon klang das, als wäre das so einfach, wie das elektrische Licht auszuschalten. Man braucht bloß anzuordnen und es geschieht. Mir kommt es so vor, als dürfte die Sache in der Praxis etwas anders aussehen, besonders wenn ein ordentlicher Sturm aus Südwesten vom Atlantik herüberbläst.«
»Aber Sie werden doch auf alle Fälle eine ruhige Nacht abwarten. Er hat ja auch mit gar nichts anderem gerechnet.«
»Und wie gedenken Sie es zu motivieren, wenn eine Vergnügungsyacht sich in den irischen Küstengewässern herumdrückt, um eine stille Nacht abzuwarten?«
»Ich verstehe jetzt. Sie wollen sagen, es gäbe den Dingen ein zu verdächtiges Gesicht.«
»Jawohl. In meinen Augen hieße es sozusagen, sich ausdrücklich Scherereien auf den Hals zu laden, und wenn ich diese Sache übernehme, möchte ich durchaus nichts Derartiges erleben.«
»Natürlich nicht, aber ich bin fest überzeugt, daß man im Hauptquartier auch daran schon gedacht hat. Es wird niemand im Traume einfallen, von Ihnen zu verlangen, daß Sie sozusagen mit Überlegung den Kopf in die Schlinge stecken.«
»Verehrte Frau,« sagte Draper, »ein Ire, der in der Patsche sitzt, wird sich nichts daraus machen, Gott den Allmächtigen persönlich und das gesamte Heiligenkollegium zu zitieren, damit sie seinen Karren aus dem Dreck ziehen. Den Herrschaften ist es furchtbar gleichgültig, wer um ihretwillen selbst in die Tinte gerät.«
»Das ist doch nur menschlich«, lachte sie. »Ich kann nicht behaupten, daß es eine ausschließlich irische Eigenschaft ist.«
»Zugegeben, daß es allgemein menschlich ist, aber von meinem Standpunkt aus gesehen, ist es jedenfalls unbestreitbar. Ich fühle gar keinen Beruf in mir, den Heiligen unlauteren Wettbewerb zu machen. Wenn ich bereit bin, die Waffen und die Munition an der Küste von Waterford zu landen, so lege ich doch keinen Wert darauf, unversehens zu einem Heiligenschein zu kommen.«
»Schön,« sagte sie, »aber ich glaube, Sie würden über diese Schwierigkeiten nicht reden, wenn Sie nicht bereits ein Mittel an der Hand hätten, um darüber hinwegzukommen.«
»Vielen Dank.«
»Was schlagen Sie also vor?«
Er blieb einen Augenblick schweigend sitzen und sah sie an. Die Butterbrote auf dem Teller waren alle aufgegessen. Wenn vielleicht in seinem Innern noch irgendwelche Erregung vorhanden war, so war es ihm jedenfalls gelungen, jedes äußere Anzeichen davon zu bemeistern.
»Wenn ich mein Herumlungern in den irischen Küstengewässern schlechterdings nicht damit begründen kann, daß ich eine windstille Nacht abwarten möchte, brauche ich eben einen besseren Vorwand.«
»Natürlich.«
»Nun also: ich bin mit meiner Yacht herübergekommen, um Freunde zu besuchen.«
»Sie!«
»Aber ...«
»Lassen Sie mich aussprechen«, unterbrach er. »Haus Ardogina ist völlig bewohnbar. Das Haus ist möbliert. Es ist ein Hausbesorger da. Ihr Gatte ist ein Historiker, und ein Mann, der das Vertrauen der englischen Regierung genießt – ich muß das wenigstens annehmen, wenn man bei ihm geheime politische Konferenzen abhält. Er nimmt Interesse an den irischen Vorgängen. Das ist ja ganz natürlich. Die Regierung glaubt – vielleicht weiß sie es sogar bestimmt –, daß er mehr auf dem gemäßigten Flügel steht. Er ist entschieden dafür, daß die Iren sich mit dem Maß von Autonomie begnügen, das England ihnen freiwillig einräumen will. Wenn die Regierung der Ansicht wäre, daß er, wie die irischen Republikaner, für vollständige Unabhängigkeit Irlands eintritt, würde sie ihm von einer ganz anderen Seite beizukommen suchen. Also – er mietet Haus Ardogina für den ganzen Sommer.«
»Wann ist Ihnen das eingefallen?«
»Es trieb sich mir gestern die ganze Nacht im Kopf herum, während ich in der Bar mit einem rothaarigen Mädchen tanzte. Es paßte sozusagen zur Musik. Sie spielten etwas mächtig Ausgelassenes und mein Einfall kam mir drollig genug vor. Wie ich heute Sie und Ihren Mann nebeneinander sah, habe ich mir dann die Sache ernsthaft in den Kopf gesetzt. Ich brauche nicht bloß einen Vorwand, um die Gewehre und die Waffen zu landen.«
»Oh!«
»Nein! Ich will noch ganz etwas anderes. Um es deutlich zu sagen: Ich will mit ansehen, wie die Geschichte ausgeht.«
»Der Aufstand, wenn Sie so wollen.«
Er machte eine Pause, um ihr Gelegenheit zu geben, sich zustimmend oder ablehnend zu äußern. Sie tat weder das eine noch das andere, sie glitt darüber hinweg.
»Raten Sie mir, meinen Mann in die Gründe einzuweihen, aus denen wir nach Haus Ardogina gehen?«
Er hatte die Hände im Schoß liegen. Er breitete sie aus und legte sie wieder zusammen.
»In dieser Beziehung müssen Sie ganz nach Ihrem eigenen Ermessen handeln. Sie wissen besser als ich, wie er zu der ganzen Geschichte steht.«
Sie bestritt es weder, noch bestätigte sie es.
»Sie kommen also als unser Gast nach Haus Ardogina?«
»Ich werde die Candida in der Bucht von Ardmore vor Anker gehen lassen, von der Madden erzählt hat. Ich werde auf Haus Ardogina wohnen, solange Sie mich dort dulden wollen.«
Lange Zeit blieb sie wortlos in ihre Kissen zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen. Es war alles durchführbar. Dessen war sie sicher. Dicky würde ihr den Wunsch nicht abschlagen. Es gab tausend Gründe, mit denen sie ihn überzeugen konnte. Sie flogen ihr von allen Seiten zu. Etwas, was Draper gesagt hatte, summte beharrlich in ihren Ohren: »Ich will mit ansehen, wie die Geschichte ausgeht.« Und dann die zweideutige Antwort, die er auf ihre Frage gegeben hatte. »Den Aufstand, wenn Sie so wollen.«
Es war, als hätte sie bis jetzt selbst nicht gewußt, was die Zusammenkünfte mit John Madden für sie bedeuteten. Manchmal hatte sie, in seinen Armen, das unbestimmte Gefühl gehabt, sie sei für ihn nicht mehr als – eine Frau – eine Zuflucht vor dem fremden und feindlichen London, das ihn umgab. In einer Art dumpfen und verwirrten Begreifens seiner besonderen Lage hatte sie eigentlich angenommen, daß er in dem Moment für sie verschollen sein würde, in dem er nach Irland zurückkehrte, daß dieses Zwischenspiel voll nie gekannter Erregung, das sich plötzlich in ihr Leben eingeschoben hatte, endgültig abgeschlossen sein würde. Man war an sie mit der Forderung herangetreten, etwas für Irlands Sache zu geben, und die leidenschaftliche Begeisterung, die ihn erfüllte, hatte den Entschluß in ihr geweckt, das zu geben, um was man sie bat. Und dann war die Forderung an sie herangetreten, John Madden selbst etwas zu geben, und in dem Bewußtsein, daß das Schicksal, das sie zusammengeführt hatte, es so bestimmte, hatte sie auch das gewährt.
Sie empfand darin so wenig Beschämendes, daß sie jeden Augenblick bereit gewesen wäre, Stephen alles zu erzählen. In den letzten Tagen hatte sie oft daran gedacht, ihn einzuweihen, sobald John Madden nach Irland zurückgekehrt war. John hatte sie geküßt. Sie hatte ihn geküßt. Niemand hatte, außer Dicky, seit ihrer Heirat von ihr einen Kuß erhalten.
Sie war von dem Gefühl erfüllt gewesen, in einer neuen Welt zu wandeln. Dies galt auch heute noch. Aber sie hatte immer erwartet, daß der Tag kommen würde, an dem sie in ihre alte Welt zurückkehren mußte. Wann und wie das geschehen sollte, wußte sie nicht. Sie hatte versucht, den Tag solange als möglich hinauszuschieben. Sie hatte John Madden dazu gebracht, trotzdem er schon daran verzweifelte, sein Ziel zu erreichen, noch ein paar Tage länger in London zu bleiben.
Aber jetzt war das Ende nicht abzusehen. Die Grenzen ihrer neuen Welt erweiterten sich plötzlich. Sie fühlte sich weiter und weiter von ihrem alten Leben hinweggeführt. Und wie vordem die Forderung an sie herangetreten war, für Irland und für ihn etwas zu tun, so fühlte sie jetzt die Forderung in sich wach werden, etwas für sich selbst zu tun.
Es gab etwas, dessen Ausgang man, wie Anthony Draper sagte, mit ansehen mußte. Sie wußte nicht, was er mit seinem rätselhaften Wort meinte, sie wußte noch nicht einmal, was sie selbst damit meinte.
Sie fühlte sich wie ein Schwimmer, der ins Meer gesprungen ist und spürt, wie eine übermächtige Flut sich seiner bemächtigt, als sie sich zu Draper wandte und sagte:
»Stephen wird zu dieser Sache seine Zustimmung geben, wenn ich ihn darum bitte.«
»Na ja, gewiß,« sagte er, »aber werden Sie ihn darum bitten?«
»Ja.«
Er stand von seinem Stuhle auf.
»Dann kann ich nur sagen, je eher wir an die Sache herangehen, desto besser ist es. Sie müssen sich sofort mit Ihrem Mann verständigen und Sie müssen unmittelbar danach sich mit John Madden in Verbindung setzen.«
»Das könnten Sie doch heute abend erledigen«, sagte sie.
»Wieso denn?«
»Er ist noch in London.«
Er streckte ihr die Hand hin, langsam glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
»Ich habe nie«, sagte er, »besonderes Interesse an Frauen genommen, Mrs. Carroll. Frauen zeichnen sich meistens dadurch besonders aus, daß sie mit großem Lärm beginnen, aber niemals an ein Ziel gelangen. Aber wenn Sie es mir nicht als Unverschämtheit anrechnen wollen, so muß ich sagen, daß ich an Ihnen besonderes Interesse nehme. Ich kenne die Telephonnummer des Hotels, wo Mr. Madden wohnt. Ich werde ihn anrufen, sobald ich Sie verlassen habe.«
Er ging zur Tür. Sie hörte, wie sie sich, hinter dem Wandschirm, hinter ihrem Rücken öffnete und schloß.
Sie fuhr im Bett hoch. Sie hatte plötzlich ein unbezähmbares Verlangen, ihn zurückzurufen. Doch der Ton kam niemals über ihre Lippen. Sie hatte das Gefühl, daß weder auf der Erde noch im Himmel eine Kraft existierte, die verhindern konnte, daß Jane Carroll nach Haus Ardogina ging.