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Neuntes Kapitel

In Jane antwortete ein Lachen. Die Tage des Wartens waren vorbei. Niemals bis heute hatte sie gewußt, wie lang sie gewesen waren. Es war, als läge der Tag ein halbes Leben weit zurück, als er an ihrem Bett stand, trunken vor schwerer Müdigkeit, und sein erschöpftes Gesicht noch bleicher, noch erschöpfter, im Glanz des Kerzenlichtes.

Er war ein anderer Mensch. In dieser einen Woche hatten Sonne und Bergwind ihn braun gegerbt. Seine Seele hatte endlich einen Körper, in dem sie wohnen konnte. Damals, in jener Nacht, war er nichts mehr gewesen als die leere Hülse eines Menschen. Jetzt war er die Lebenskraft selbst, in seinen Augen waren Hoffnung und Zuversicht so überwältigend, daß ihr erster Gedanke gewesen war: So lange war er gefeit gegen jede Tücke des Schicksals, so lange dies Lachen noch in ihm wohnte.

Stephens Ausruf hatte ihr verraten, daß er um Johns Sicherheit besorgt war. Sie war nicht besorgt. Die Zuversicht, die auf seiner Stirn geschrieben stand, war der kühne Trotz eines Mannes, der das Schicksal herausfordert. Sie hatte eine Gefahr mit ihm geteilt, vielleicht war die Zeit nur kurz, in der er sich frei und ungehetzt fühlen durfte. Aber sie wußte, sie durfte auch diese Zeit mit ihm teilen. Er war über den Rasen zu ihnen heruntergekommen und wechselte einen Händedruck mit Stephen. Sie stand neben den beiden und lächelte, als er zu Stephen sagte:

»Sie haben keinen Grund, erschreckt zu sein, Mr. Carroll, kein Verfolger sitzt mir auf den Fersen, wenigstens nicht in dieser Gegend hier. Sie jagen auf meiner Spur oben in den Galtee-Bergen und glauben, sie seien mir so dicht auf den Fersen wie nie in ihrem Leben. Sie sind eifrig wie eine Meute, die Zunge hängt ihnen aus dem Hals und die Nase kriegen sie nicht vom Boden hoch. Ich meine, ich hätte sie bellen hören, als ich wegging.«

Dies alles war so enthusiastisch, so beschwingt, so voll kühner Herausforderung, daß ihm nicht zu widerstehen war. Niemand konnte wissen, wie lang es dauerte, aber jetzt und hier erklang seine Stimme, die Stimme eines Menschen, der sich frei fühlt. Stephen zögerte unschlüssig und dann unterlag er ihrem Einfluß.

»Aber wie steht's mit uns?« fragte er. »Meine Frau hier – wenn es nun dem Leutnant von den Seesoldaten in Ardmore einfällt, zu einem Besuch bei uns hereinzuschneien? Er hat wenig genug zu tun.«

John zog eine Zeitung aus der Tasche.

»Ich weiß nicht, ob Sie die interessante Zeitschrift lesen, die man das Fahndungsblatt nennt«, sagte er. »Das ist die letzte illustrierte Nummer, die herausgekommen ist. Sehen Sie sich das an, das soll ich sein.«

Stephen nahm die Zeitschrift und sah hinein. »Beschreibungen und Photographien gesuchter Personen: Michael Collins M. P., Richard Mulcahy M. P., Denis Gallon, Pierce Beasley M. P. und John Madden – dunkles Haar, graue Augen, bleiche Gesichtsfarbe.« Über der Beschreibung war ein Mann mit einem dunklen Schnurrbart abgebildet. Wie er hier neben ihnen auf dem Rasen stand, von der Sonne gebräunt, glatt rasiert, wäre es schwer gewesen, festzustellen, daß dies derselbe Mann sein sollte. Jane sah Stephen über die Schulter, sie lachte.

»Wann sind Sie eigentlich zu der Einsicht gekommen, daß es Ihrem Schönheitstypus zuträglicher wäre, wenn Sie sich den Schnurrbart abrasieren lassen?«

»Ungefähr um die Zeit, wo ich nach England hinüberfuhr. Ich wußte, daß ihnen die Photographie da in die Hände gefallen war. Das Bild ist vor ein paar Jahren in Cork aufgenommen. Das erste, was ich tat, als ich in London ankam, war, zum Barbier zu gehen und mir den Schnurrbart abnehmen zu lassen. Seitdem habe ich noch nicht wieder Zeit gehabt, mich photographieren zu lassen.«

»Sie scheinen sogar zu beschäftigt zu sein,« sagte Jane, »um mir die Hand zu geben.«

Sie konnte ihn damit nicht aus der Fassung bringen. Er lachte und griff nach ihrer Hand. Als er sie hielt, verflog sein Lachen. Das letztemal hatte er diese Hand mit den Lippen berührt. Die Worte, die er darauf gehaucht hatte, hafteten noch daran. Sie zog ihre Hand rasch weg. Sein Lachen war dahin, ein Schatten war über seine Augen gefallen, er war wieder der Mann, dessen Stirn vom Schicksal gezeichnet schien. Und Stephen stand neben ihnen. Sie mußte dieses Lachen für ihn wiederfinden!

»Wie schrecklich ernst ihr Irländer alles gleich nehmt,« sagte sie herausfordernd, »das sollte doch kein Vorwurf sein, wir sind hier nicht am St.-James-Square. Dort mag Britton derjenige sein, der das Vorbild für unsere Manieren abgibt. Sie erinnern sich doch an Britton, nicht wahr? Hier richten wir uns nach Sean Troy. Das Vorbild ist einigermaßen anders.«

Ah, er lächelte. Soviel war ihr gelungen.

»Ich kann mir denken, daß der alte Kerl schrecklich widerspenstig ist«, sagte er. »Aber Sie haben hoffentlich nicht erwartet, hier draußen einen herrschaftlichen Diener vorzufinden? Oder doch?«

»An und für sich wäre er nicht so schlimm,« sagte Jane, »wenn er nicht von dem Wunsch besessen wäre, uns den Hals abzuschneiden.«

»Wieso? Was ist mit ihm los?«

»Gott, mit Stephen kommt er noch halbwegs aus. Stephen ist mit ihm zum Fischen gefahren, das ist ein Vorteil, der uns schwachen, zur Seekrankheit neigenden Frauen versagt ist, und außerdem kann Stephen reden wie ein Irländer. Er kann eigentlich schon gar nicht mehr anders reden. Ich habe es auch versucht. Es klingt sehr höflich, aber nicht echt. Ich habe mich nicht getraut, es an Sean Troy auszuprobieren. Ich glaube, es gibt nichts, was einem Irländer deutlicher beweist, daß der 'Angelsachse' die irische Art nicht verstehen kann, als wenn der ›Angelsachse‹ versucht, mit irischem Akzent zu reden. Er haßt mich ganz einfach, und mehr läßt sich darüber nicht aussagen. Richtiggehenden Haß kann man nicht durch Höflichkeit entwaffnen – auf jeden Fall nicht hier in Irland.«

Sie sprach so lange, bis es ihr gelungen war, ihn wieder zum Lachen zu bringen. Der Blick vorhin in seinen Augen hatte sie erschreckt. Man konnte ihn nicht mißverstehen. Seit der Nacht, als er in ihr Zimmer geflüchtet war, mußte er selbst die ganze Tiefe seiner Leidenschaft ermessen haben. Sie hatte es aus dem Brief herausgelesen, in dem kein Wort von Liebe stand, sie konnte es jetzt von seinem Gesicht ablesen, selbst wenn er lachte. Und Stephen stand dabei. Sie hatte nicht Angst um sich selbst. Sie hatte Angst um diese beiden. Männer waren solche Kinder. Sie fand es gräßlich von John, daß er sie so ansah. Sie fand es gräßlich von Stephen, daß er einfach da stehenblieb.

Und wieder, wie jetzt so oft, überraschte sie die ruhige Zurückhaltung, mit der Stephen zu John Madden sagte:

»Nun gut, wenn Sie glauben, das Risiko auf sich nehmen zu können – wir können es gewiß.«

Sie sah rasch zu ihm hin. Er schien voller Bewunderung in John Maddens Anblick vertieft. Sie verstand es nicht. Hatte er nichts bemerkt? Wußte er so wenig, was Leidenschaft war, daß er ihren Ausdruck in John Maddens Gesicht nicht entziffern konnte? Wenn er gewußt hätte ... Ihre Phantasie zeigte ihr sein Gesicht von dumpfem, jähen Erstaunen, von Schmerz erfüllt.

Er fuhr im selben Tonfall fort:

»Was hat Sie denn hierhergeführt? Oder ist das Dienstgeheimnis?«

»Ich hatte hier unten im Süden zu tun,« sagte John vorsichtig, »und natürlich hatte ich den Wunsch, Sie aufzusuchen.«

»Wie lang bleiben Sie?«

»Nicht länger als ein oder zwei Stunden. Sie haben eine Zofe aus London mitgebracht? Nicht wahr?« Er wandte sich mit der Frage an Jane.

»Jawohl.«

»Sie darf meinen Namen nicht hören, weiter ist nichts nötig.«

»Und wie ist es mit den beiden Troys«, fragte Stephen.

»Oh, da ist alles in Ordnung. Auf alle Fälle wissen sie ja, wer ich bin.«

»Also gehört der Alte doch mit dazu? Ich konnte nicht ein Wort aus ihm herausbringen. Wenn ich irgendwie auf den Aufstand zu sprechen komme, saugt er seinen Mund so fest zusammen wie eine Seenelke, wenn man sie unversehens anfaßt.«

»Alle gehören sie hier mit dazu. Was ich Ihnen in London erzählt habe, war durchaus nicht übertrieben. Sie sind zwanzig Jahre lang nicht hiergewesen. Sie können nicht erwarten, daß Sie plötzlich mittendrin sind, wenn Sie auf einen Sprung herüberkommen. Die beste Waffe, die unserer Organisation zur Verfügung steht, ist das Geheimnis, mit dem sie sich umgibt. Ich selbst kenne kaum die Hälfte von dem, was in Dublin vorgeht. Mir ist mein Wirksamkeitsbereich hier unten zugewiesen, und man hat genug damit zu tun, über alles informiert zu sein, was innerhalb des eigenen Umkreises vorgeht.«

»Sie scheinen heute sehr optimistisch gestimmt.«

»Heute gewiß.«

»Ich denke, Sie werden gehört haben, daß vor acht Tagen hier jemand erschossen worden ist, hier im Garten, an dieser Mauer.«

»Ich habe davon gehört.«

»Und daß nach Ihnen hier gesucht worden ist.«

»Auch das habe ich gehört.«

»Jane wird Ihnen alles erzählen. Sie kann es äußerst lebhaft schildern. Erzähle es ihm, Jane. Ich habe ein paar Briefe zu schreiben. Ich werde nicht lange fortbleiben.«

Er richtete sich auf und stand vor dem anderen. Etwas wie Stolz, wie eine Mahnung lag im Ausdruck seines Gesichts.

»Gewiß, ich habe, wie Sie ganz richtig sagen, zwanzig Jahre lang nicht dazugehört. Nicht jeder, der sich am St.-Patricks-Tag in London ein irisches Kleeblatt ins Knopfloch steckt, ist deshalb ein echter Ire. Aber wenn ich auch nur ein Zuschauer bin – glauben Sie, ich könnte zusehen und dabei vergessen, wo ich geboren bin?«

Wieder ruhte sein Blick voll offener Bewunderung auf John Madden.

»Ich bin kein Freund dieser Art Gottesgericht«, fügte er hinzu. »Ich finde keinen Gefallen an dem Gedanken, daß der, der siegt, der Beste ist, nur weil er der Stärkste ist. Rohe Gewalt scheint mir ein ebenso armseliges Argument wie Sentiments. Es ist manchmal für den wirklich Besten besser, wenn er unterliegt. Kann sein, in Ihren Ohren klingt das wie Hochverrat. Ich habe im Kriege einmal etwas Ähnliches gesagt, und niemand fand Gefallen daran. So habe ich meine Weisheit für mich behalten. Ich glaube kaum, daß sie Ihnen mehr zusagt, und Sie werden sich dadurch nicht von dem abschrecken lassen, was Sie für richtig halten.«

Er klopfte John Madden freundschaftlich auf den Arm.

»Ich freue mich, Sie so optimistisch gestimmt zu sehen«, sagte er. Er machte kehrt und ging ohne ein weiteres Wort ins Haus.

Sie blieben beide auf dem Rasen stehen und sahen ihm nach. Jane war am meisten verwundert. Also hatte er die Zeichen nicht gedeutet! Er war ein Kind, ein Kind mit einer Philosophie.

»Wäre es nicht entsetzlich grausam,« sagte sie – ihre Stimme kam von weit, weit her –, »einen Mann wie ihn plötzlich am Kragen zu packen und ihm das Leben zu zeigen, wie es wirklich ist.«

»Er weiß von nichts?«

»Von nichts.«

»Meinen Sie wirklich, daß er auch nicht den kleinsten Verdacht hat, ich sei damals hier im Haus gewesen?«

»Nicht den geringsten.«

»Meinen Sie, daß es ihm nicht recht ist, daß ich heute hierhergekommen bin? Ich meine, weil es für euch hier gefährlich enden könnte?«

»Nein. Haben Sie die tiefe Bewunderung nicht bemerkt, mit der er Sie angesehen hat? Beinahe so, als wünschte er sich, er stünde in Ihren Schuhen und habe seine Sohlen auf den Wegen dünn gewetzt, die Sie gegangen sind.«

»Ich habe es nicht bemerkt.«

»Aber es war so. Wie wenn Sie sein Sohn wären und er wäre stolz auf Sie. Wie überwältigend ist diese Einfalt! Ich weiß niemals, ist er so überlebensgroß oder so schrecklich klein, daß ich nie klar sehen kann, was er wirklich ist?«

Sie ließ sich nieder und wandte sich ihm jäh zu.

»Setzen Sie sich dahin,« sagte sie, »und erzählen Sie mir alles, jede kleinste Kleinigkeit. Ich gehöre nicht zu denen, die von draußen her zuschauen. Ich bin mitten darin. Ich fühle, wie es mich umgibt. Ich habe Ihren Kameraden gesehen – Jim Tierney – den sie hier erschossen haben. Er lag in dem Raum neben dem Wohnzimmer, bis sie ihn am Dienstag abholten. Sie haben ja so recht! Der Tod bedeutet nichts! Im Gegenteil! Es ist ein Weg, der so mühelos aus allen Schwierigkeiten führt. Ich war fast neidisch. Ich habe das Tuch von seinem Gesicht gezogen und ihn betrachtet. Ich hatte nur ein Gefühl: sie haben auf ihn gezielt, sie haben auf ihn geschossen, sie glaubten wunder, was sie ihm antun. Wie wenig haben sie gewußt – wie wenig haben sie gewußt! Am Dienstag kamen seine Angehörigen, um ihn abzuholen. Sie hatten einen komischen kleinen Karren mit, er hatte Deichseln auf beiden Seiten. Sie hatten eine dicke Lage Stroh darauf, ich weiß nicht – ich bin seit meiner Kindheit stets sentimental gewesen. Ich konnte nicht anders, ich mußte ihm Blumen auf das Stroh legen. Dicky hätte es nicht getan. Er ist über solche Anwandlungen erhaben. Das Stroh war mir unerträglich. Wie lächerlich, wie verbildet man wird mit all der Zivilisation. Gibt es ein besseres Lager als Stroh? Das Mädchen war mit, von dem Sie mir erzählt haben. Sie kniete auf dem Weg nieder und küßte mir die Hand. Vielleicht war es das, was ich wollte. Sie sehen, der Tod bedeutet nichts, außer dem einen, daß sein Anblick uns lehrt, uns selbst gegenüber aufrichtig zu sein.«

Erzählen Sie mir alles, hatte sie zu ihm gesagt. Statt dessen erzählte sie ihm. Er erkannte sie darin. Er lächelte. Sie war so erfüllt von dem, was sie erlebte. Er fand es anbetungswürdig.

»Und am Mittwoch«, fuhr sie fort, »kam das Boot von Knock-a-doon zurück. Dicky verriet eine gewisse Neigung, allerlei Fragen zu stellen, aber es gibt nichts in der Welt, was leichter wäre, als ihn davon abzubringen. Ich brauche ihn nur so anzusehen –«

Sie gab ihren Augen den Ausdruck völliger, nichtssagender, lebloser Leere.

»Es ist, als ob man die Tür zum Kinderzimmer hinter sich zumachte. Er bleibt auf der anderen Seite stehen. Man kann hören, wie er wieder zurückgeht und weiterspielt – mit seiner Arbeit. Einen Nachmittag waren wir auch in Ardmore eingeladen. Die Dawsons haben dort ein Haus. Ich traf dort den Offizier, der die Seesoldaten in Ardmore kommandiert. Er war äußerst liebenswürdig. Er erzählte mir von eurem Überfall bei Clogheen da oben. Und neulich kam dann der kleine Junge mit Ihrem Brief.«

Sie hielt inne, fest entschlossen, nichts mehr zu sagen. Vielleicht hatte sie schon zuviel gesagt – oder zuwenig.

»Also ist der Brief richtig in Ihre Hände gelangt?«

»Ja, ich habe ihn bekommen.«

Sie saßen eine Weile schweigend, ehe sie sich entschloß, ihm von Sean Troy zu erzählen.

»Er muß ihn ein paar Stunden behalten haben«, sagte sie. »Haben Sie die Adresse auf dem Umschlag selbst geschrieben?«

»Er war gar nicht in einem Umschlag. Ich hatte ihn in einen flachen Kasten gelegt und zugesiegelt.«

Sie nickte mit dem Kopf, als hätte sie es erwartet.

»Ich habe es mir gedacht«, sagte sie.

»Sie meinen, daß er ihn gelesen hat?«

»Was sonst?«

»Aber warum? Ich hatte allen Grund, anzunehmen, daß auf ihn Verlaß ist, so gut wie bei jedem anderen von unseren Leuten.« In seinen Augen blitzte der Zorn, er schien bereit, aufzuspringen und Sean Troy den Hals umzudrehen.

»Sie scheinen nicht erfaßt zu haben,« sagte sie, »was ich andeuten wollte, als ich Ihnen sagte, daß er mich haßt – haßt, wie St. Patrick die Schlangen haßte. Er und Vater Hanrahan möchten am liebsten einen Knüppel ergreifen, um mich aus Irland zu vertreiben.«

Ihre Stimme verriet, wie sehr dies alles ihren Stolz beleidigte. Tiefes Mitgefühl überwältigte ihn. Er schämte sich für diese beiden. Weiß Gott, er wollte nicht, daß diese Frau um seinetwillen litt, und doch wußte er gleichzeitig allzugut, daß diese Liebe, die er für sie hegte, nur dazu bestimmt sein konnte, sie noch mehr leiden zu machen.

»Hat Vater Hanrahan etwas gesagt?« fragte: er.

»Lassen Sie die Finger von Irland!« Sie versuchte, Vater Hanrahans Redeweise nachzumachen, und es gelang ihr besser, als sie es sich hätte träumen lassen. »Lassen Sie die Finger von Irland!« wiederholte sie. »Ich will Sie bloß warnen!«

»Sie warnen? Vor was?«

»Das habe ich ihn auch gefragt. Anscheinend davor, mich mit Dingen abzugeben, die mich nichts angingen. Ich machte ihn höflich darauf aufmerksam, daß er selbst seine Nase in Dinge stecke, die ihn nichts angingen, und ließ ihn sitzen. Was können mir die beiden tun?«

»Nichts! Im übrigen werde ich mit dem alten Troy ein Wörtchen reden.«

»Nein, tun Sie das ja nicht!«

»Warum nicht?«

»Es ist kein Schaden damit geschehen, daß er den Brief gelesen hat, es stand nichts darin, was er verstehen konnte. Lassen Sie die ganze Sache ruhen. Wenn Sie erst mit ihm darüber reden, wird er sich einbilden, daß es wichtig ist. Und es ist nicht wichtig!«

»Nicht wichtig?«

»Nein.«

»Aber haben Sie nicht verstanden, was der Brief enthielt?«

Sie stand ruhig auf, ohne eine Spur von Erregung zu verraten. So dachte sie wenigstens.

»Die Angelegenheit mit dem Brief ist erledigt«, sagte sie. »Es ist nicht gut, wenn wir ihm die Überzeugung beibringen, daß die Sache wichtig ist. Kommen Sie ein paar Schritte mit. Wir wollen da nach der Mauer hinüber gehen. Ich will wissen, wo Drapers Yacht zuerst in Sicht kommen wird. Die letzten zwei Tage habe ich die Blicke über das Meer schweifen lassen, wie der alte Seebär, der in jeder Piratengeschichte vorkommt. Wenn mich niemand sieht, lege ich die Hand über die Augen und spähe da hinaus, bis die Anstrengung mich schielen macht. Schiffe haben ein so geheimnistuerisches Wesen, finden Sie das nicht auch? Sie stehlen sich alle dahinten am Horizont entlang. Eben sehe ich sie noch – ich lese ein paar Zeilen, und wenn ich wieder hinsehe, sind sie schon verschwunden.«

Er ging mit ihr bis an die niedrige Mauer hinunter. Sie deutete hinaus, an Knock-a-doon vorbei nach dem offenen Meer hin.

»Dicky sagt, Amerika liegt dort drüben, aber ich glaube nicht, daß er es richtig weiß. Ist das die Richtung?«

Er sah nach ihrer Hand. Er fragte sich selbst, warum er diese weiße Hand nicht fing, die wie eine Möwe durch die Luft flatterte, und sie wieder an seine Lippen preßte, wie ehemals.

Da er schwieg, drehte sie sich zu ihm um, sah seinen Blick und ließ ihre Hand sinken, als wolle sie sie verbergen.

»Sehe ich nun nach Amerika hinüber oder nicht?«

»Es stimmt schon, da drüben liegt Amerika,« sagte er langsam, »aber von dorther kommt er nicht.«

»Woher denn?«

»Er nimmt seinen Kurs ein bißchen südlicher.«

»Von daher vielleicht?« Sie drehte den Kopf nach Süden hin. »Dort, wo man jetzt das kleine Schiff am Horizont sieht. Es muß meilenweit von hier entfernt sein.«

»Das ist genau die Richtung«, sagte er.

»Aber woher wissen Sie es so genau?«

»Weil das da Drapers Yacht ist. Es ist die ›Candida‹.«

Sie war unfähig, ihre Gefühle zu deuten. Es überfiel sie zu rasch. Es brachte sie außer Fassung. Sie war froh und erschreckt im selben Augenblick.

Schließlich zwang sie sich, den Eindruck abzuschütteln. Sie zwang ihre Stimme, nicht mehr als ein konventionelles leichtes Erstaunen zu verraten, als sie sagte:

»Woher wissen Sie das?«

»Wir haben schon seit einiger Zeit Funkverbindung miteinander. Sie liegt schon ungefähr seit zwei Stunden dort draußen.«

»Und Sie wußten es schon vorher?«

»Jawohl.«

»Wie Sie vorhin aus dem Hause traten?«

»Aber natürlich!«

»Und warum erzählten Sie es nicht?«

»Ihr Mann war da.«

»Nun – und später? Wir sprechen jetzt beinah zwanzig Minuten miteinander.«

»Sie sprachen!« Er lächelte – aber sie beachtete es nicht.

»Weiß Gott, wenn Sie das wußten, hätten Sie mich doch unterbrechen können.«

»Ich konnte es nicht, ich wollte es nicht. Das alles hatte Zeit. Das Schiff war immer noch da. Es muß ja dort warten, bis die Sonne untergegangen ist.«

Jetzt wußte sie klarer, was sie empfunden hatte. Es war mehr Furcht als Freude. »Ich war ihm wichtiger als das Schiff«, sagte sie sich. Was lag alles darin! Sie hatte es vorhin gefühlt. Sie fühlte es wieder. Es war, als spüre sie die Flut, die an ihr hochstieg. Sie konnte nichts gegen das Steigen tun. Ein anderer hatte diese Dinge geordnet, wie er Ebbe und Flut geordnet hatte für den Ozean, der ihr zu Füßen lag.

Es war ein Vorgefühl. In London hätte sie darüber gelacht. Hier brachte sie es nicht fertig.

»Wann steuert die ›Candida‹ hier herein?« fragte sie.

»Heute nacht, sobald es dunkel ist.«

»Dann wird die Ladung an Land gebracht?«

»Ja. Bis es Tag wird, muß alles vorbei sein.«

»Wo bekommen Sie die Leute her?«

»Zehn Mann kommen von Ardmore herüber, und ein paar andere von Whiting-Bay.«

»Und die Seesoldaten unten in Ardmore?«

Er lachte. »In der Küstenwachstation dort unten sitzt es sich ganz gemütlich«, sagte er. »Sie werden, wie immer, eine Patrouille durchs Dorf schicken, aber glauben Sie ja nicht, daß einer von ihnen auf den einsamen Pfaden hier in den Klippen seinen Hals riskieren wird.«

»Aber es könnte ihnen doch einmal einfallen«, sagte sie warnend.

»Nun, dann möge Gott ihnen gnädig sein. Wir sind auch dafür gerüstet. Es sind nicht nur die Leute hier, die ausladen helfen. Es sind auch andere da. Sie lauern überall hier herum und halten sich bereit. Es sind zehntausend Flinten hier. Wir haben alles auf die Minute abgepaßt. Morgen früh wird die Candida nach Ardmore hineindampfen, so unschuldig wie ein weißgekleidetes Mädchen, das zur Kommunion geht.«

Sie musterte ihn gelassen. So, wie er jetzt aussah, hatte er ausgesehen, als er an ihrem Tische saß und sich mit verzweifeltem Trotz seinen Feinden stellte. Genau derselbe Ausdruck. Es war für sie eine Erlösung, dies Gesicht von damals. Jetzt hieß sie es willkommen.

»Vor ein paar Minuten«, sagte sie, »hatten Sie wohl den Wunsch, Stephen in alles einzuweihen?«

Er nickte.

»Warum haben Sie es nicht getan?«

»Wie soll man wissen, in welchem Lager er steht? Haben Sie es je gewußt? Ich nicht! Keiner von uns! Es muß ohne ihn gehen. Wenn es ginge, würde ich auch auf Draper verzichten. Glauben Sie nicht, daß ich richtig gehandelt habe?«

Sie schien die Frage nicht gehört zu haben, sie wandte den Kopf ab.

»Was für ein kleiner Fleck, dieses Schiffchen mitten in der unendlichen See!«


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