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Wie in Deutschland alle Korporationen – vielleicht mit alleiniger Ausnahme der der Nachtwächter – ihren »Tag« haben, so auch die Journalisten. Der Journalistentag war immer eine sehr vergnügliche Einrichtung. In jedem Sommer wurde er nach irgend einer Stadt berufen, deren Zeitungsredaktionen dann die Wirthe machten, indem sie für die aus allen Theilen Deutschlands und Oesterreichs ankommenden Mitglieder des Journalistentages allerlei Unterhaltungen vorbereiteten, wie es Pflicht und Aufgabe guter Wirthe ist. Es waren Diners, Theatervorstellungen und Ausflüge arrangirt, und die damals noch nicht verstaatlichten Eisenbahnen erleichterten durch gentile Fahrpreisermäßigungen den Besuch, zu welchem sich der Journalist, von Herzen froh, der redaktionellen Zwangsarbeit auf einige Tage unter dem Vorgeben enthoben zu sein, etwas für die Interessen des Standes zu thun, gerne entschloß. Man nannte das: die Fahne hochhalten, und dieses Hochhalten 179 bestand darin, daß in einigen Vormittagssitzungen Reden gehalten und Beschlüsse gefaßt wurden, die auszuführen wir keine Macht hatten, was dann regelmäßig an der sich an die Sitzung anschließenden, meist sehr lustigen, von Liedern, Toasten und Wein triefenden Tafel aufrichtig bedauert wurde. Trost spendete gleichzeitig die erfreuliche Thatsache, daß wir uns wenigstens einige Tage Ferien gemacht und uns ganz vortrefflich unterhalten hatten. Etliche Kollegen hatten sich auch für diese wenigen Tage nicht von ihren Damen trennen können, oder diese waren zu liebevoll, um den Gatten oder Bruder den Gefahren einer Vergnügungstour rücksichtslos preiszugeben, und so erfreute sich denn der Journalistentag stets einer bunten Reihe. Zugleich bildeten die Damen, welche den Sitzungen nicht beiwohnten, eine Kraft, welche die Debatten indirekt abkürzte, ohne ihnen eigentlich zu schaden, denn unsere Verhandlungen, so ernsthaft parlamentarisch sie thaten, bestanden aus resultatlos verhallenden Reden zu gar nicht so ernst gemeinten Anträgen und Vorlagen. Die Beschlüsse wurden sorgfältig protokollirt, und damit waren sie auch erledigt, oder ein Beschluß war nicht zu Stande zu bringen, dann wurde, was mit Vorliebe geschah, der Gegenstand der Tagesordnung mit Begeisterung dem nächsten Journalistentage opferfreudig überlassen. Die Gerechtigkeit 180 fordert, den Debatten das ehrende Zeugniß auszustellen, daß sie dem eigentlichen Zweck der Journalistentage, der Unterhaltung, in keiner Weise hinderlich gewesen sind.
Im Juli 1870 fand in Frankfurt a. M der Journalistentag statt. Er erfreute sich dort seitens der Stadt und unserer Kollegen einer liebenswürdigen Aufnahme; sein Präsident war Leopold Sonnemann, bekanntlich ein geschulter Parlamentarier, dessen Blatt, die »Frankfurter Zeitung«, sich damals zu der einflußreichen Stellung eines Weltblatts erhob, und dessen Geschicklichkeit und gesellschaftliches Talent dem Verlauf unserer Debatten und Zerstreuungen äußerst förderlich waren. Wir theilten denn auch unsere Zeit sehr weise ein, indem wir etwa zwei Stunden des Tages den Debatten und die übrigen den Zerstreuungen widmeten. Da fuhr zwischen uns, ein Blitz aus heiterer Julihöhe, die erste Nachricht von dem Beginn der großen Ereignisse, welche Europa umgestalten sollten. Am 6. Juli waren in der Pariser Deputirtenkammer von den Ministern Ollivier und Gramont die verhängnißvollen Reden gegen die spanische Thronkandidatur des Erbprinzen von Hohenzollern gehalten worden.
So harmlos diese Nachricht im ersten Moment aussehen mochte, die Journalisten sahen in ihr doch mehr und damit die Aufforderung, schleunigst ihre 181 Redaktionen aufzusuchen. Sie hatten das richtige Gefühl für die Bedeutung dessen, was da begann, so wenig sie wie die ganze Welt ahnen konnten, daß sich aus dem unbedeutenden politischen Vorgang Welterschütterndes, eine neue Geschichte des deutschen Reichs entwickeln würde. Der Journalist sieht es jeder ihm zukommenden Nachricht, ohne lange an ihr herumzustudiren, sofort an, ob sie wichtig oder unwichtig ist, er weiß auf den ersten Blick, ob sie ihm was zu arbeiten bringt oder nicht. Schon die erste Nachricht aus Paris – wir waren gerade im besten Rheinweintrinken – veranlaßte ihn, ohne Aufenthalt seine Siebensachen in den Koffer zu werfen und abzureisen. Er war sofort, um das damalige Leboeufsche Wort anzuwenden, archiprêt, und man kann sagen, daß seit jenen Tagen eine sich stetig vermehrende Zeitungsarbeit begann, ja, daß damals in Deutschland das eigentliche Leben in die Journalistik kam, das seitdem fortwährend gewachsen ist.
Friedrich Stoltze hatte mich auf den Bahnhof begleitet. Man kennt ihn als Redakteur der »Frankfurter Latern« und als einen Poeten, dessen Dialektdichtungen in ganz Deutschland geschätzt werden. Echt wie sein Talent war auch seine demokratische Gesinnung, welcher er bis an sein Lebensende treu blieb. Die Annexion Frankfurts hat er nie verwunden, und sie machte ihn zu einem unerbittlichen 182 Gegner Preußens, und er blieb dies auch, als Preußen an die Spitze Deutschlands getreten war. Er war durch und durch Lokalpatriot, ein Typus, wie ihn nur Deutschland kennt. Erst kam Frankfurt, dann die Welt. In die bekannt gewordene Strophe in seinem Gedicht »Frankfurt«:
Es is kää Stadt uff der weite Welt,
Die so merr wie mei Frankfort gefällt,
Un es will merr net in mein Kopp enei:
Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!
war seine ganze Liebe ergossen. Gewiß träumte er manchmal einen Globus von Frankfurt, und oft genug hat er mir gesagt, daß es ganz ernst wäre, was er in heiterm Tone von seinem Frankfurt gesungen. Das war kein eigensinniger Partikularismus, sondern der Patriotismus des guten Herzens, und ich habe den wackeren Kollegen auch wegen dieser schönen Begeisterung lieb gehabt.
Berlin war ernst und still. Kein Wort wurde laut, welches sich wie Chauvinismus anhörte oder kriegslustig klang. Viele glaubten noch nicht an den Krieg, keiner fürchtete ihn, Niemand wünschte ihn herbei, Jeder hoffte noch auf ein Vorüberziehen der drohenden Wolken. Gerade in dem Moment, als der Krieg so nahe war, zeigte es sich, daß Deutschland den Frieden liebte und, so furchtbar gerüstet es auch dastand, und wie furchtlos es auch dem 183 stärksten Angreifer entgegensah, ein Feind des Krieges war. Als dann aber der König am 15. Juli aus Ems nach Berlin zurückkehrte und sich die Nachricht, er habe auf dem Bahnhof zu Brandenburg die Mobilmachungsordre unterzeichnet, wie ein Lauffeuer durch die Hauptstadt verbreitet hatte, und als nun alle Hoffnungen und Befürchtungen von der dröhnenden Thatsache verdrängt wurde, da fügte sich Alles schnell in das Unvermeidliche, dachte nur an die Ehre des Vaterlandes und sah entschlossen und opferfreudig in die kommenden Tage.
Mit dem König zogen der Kronprinz, Bismarck, Roon und Moltke, die ihm bis Brandenburg entgegengefahren waren, in Berlin ein. Es war, als habe sich die ganze Einwohnerschaft unter den Linden zum Empfang eingefunden. Hier hörte ich zum ersten Mal die Wacht am Rhein, welches Lied die Massen ahnungsvoll anstimmten. Der König und seine Begleiter, von donnernden Hurrahs empfangen, grüßten ernst und auf das Tiefste ergriffen. Keinen Augenblick ruhten die stürmischen Kundgebungen der vor dem Palais versammelten Menge, bis ein Adjutant des Königs erschien und das Publikum aufforderte, sich zu entfernen, der König habe zu arbeiten. Nach einigen Minuten war der Platz vor dem Palais still und menschenleer, und in dem königlichen Hause beriethen der Monarch und seine bewährten 184 Freunde, was zu geschehen habe. Das Publikum konnte sich ruhig entfernen, es wußte, daß Alles, was beschlossen wurde, dem Schutz und der Ehre des Vaterlandes galt.
Wer in diese große Zeit mit patriotischem Herzen und offenem Auge hineingeblickt hat, wird die Eindrücke, die er empfangen, unverändert in sich bewahren. Wir haben ernste und erschütternde historische Ereignisse fern von uns und in unserer Nähe sich gestalten sehen, die uns, wie nie vorher geschehen, erhoben und uns mit bis dahin unbekannten Gefühlen des Stolzes erfüllt haben, da sich schöne Träume verwirklichten, die längst verschollen schienen. Es fehlte aber auch mitten in diesen gewaltigen geschichtlichen Begebenheiten an heiteren Episoden nicht.
Als der Krieg losbrach, befanden sich viele Berliner Familien bereits in der Sommerfrische. Da wurde denn der Rückzug in die Hauptstadt allgemein, ohne daß er rasch und bequem ausgeführt werden konnte. Es gab Aengstliche, die früher als die Franzosen in Berlin sein wollten, und namentlich Frauen, welche mit den Kindern, aber ohne Gatten in die Fremde gezogen waren, bestürmten den in Berlin zurückgebliebenen Strohwittwer mit telegraphischen und brieflichen Vorwürfen, daß sie nicht zeitiger zum Aufbruch ermahnt worden seien, um mit dem Gatten und Vater vereint den häuslichen Heerd vertheidigen 185 zu können. Jetzt war die Hauptstadt nicht zu erreichen, da die Eisenbahnen nur Militärzüge beförderten. Erst allmälig trat die alte Ordnung an die Stelle des unvermeidlichen Wirrsals, und die Eintreffenden waren nicht wenig überrascht, als sie Berlin ruhiger fanden, als die kleinen Ortschaften der Sommerfrische gewesen waren. Berlin hatte sich rasch wieder zurecht gefunden, der Volkswitz war sogar noch schneller wieder zu Wort gekommen. Er nannte den Sohn Napoleons einen Kegeljungen, als der unglückliche Vater über ihn berichtet hatte, er habe bei Saarbrücken einige Kugeln mit tapferer Hand aufgehoben. Als die Nummer der »Wespen« vom 15. Juli das Bild brachten, aus welchem der Mobile auf die französischen Kriegsschreier wies und die Worte sprach: »Jetzt weiß ich endlich, was dem geehrten Nachbar fehlt: ihm hat lange die Nase nicht geblutet!« ein Bild, das mir die Pariser Presse sehr übel nahm und lange nicht verziehen hat, erhielt ich eine Visitenkarte des alten Wrangel, auf welche der populäre Kriegsmann mit Bleistift geschrieben hatte: »Meinen Glück Wunsch zu den treffenden Witz in Nr. 29. Gr. Wrangel, Feldmarschall.« Die eintreffenden Siegesdepeschen wurden, bevor sie an den Litfaßsäulen erschienen und jedesmal einen Volksauflauf verursachten, in den Wirtshäusern unter weithinschallenden Ovationen verlesen. Das gab 186 denn regelmäßig überall eine mächtig feuchte Festlichkeit. Und als ich dann meinen Muckenich einen Brief an die Kriegshelden veröffentlichen ließ, der ihnen die Drohworte seiner Frau übermittelte: »Dir siejen sie ooch noch das Dellirjum tremens an den Hals!« und sie daher bat, nicht mehr als zwei Siege täglich melden zu lassen, da nahmen einige Blätter außerhalb Berlins diesen Brief ganz ernst, indem sie meldeten, der Kronprinz habe wirklich ein solches Schreiben erhalten und seinen Offizieren mitgetheilt, und es ist denn auch später in einem Werk über den Volkshumor abgedruckt worden. Viel zu lachen gab auch die tolle Absicht eines Fräulein Minna Hänsel, ein Amazonencorps zu bilden und gegen den Feind zu führen. Sie beweist, daß es auch auf unserer Seite nicht an allerlei burlesken Einfällen fehlte, nur mit dem Unterschiede, daß die diesseitigen nicht aus der Angst oder der Wuth entstanden, wie in Paris, wo der Vorschlag, die wilden Thiere des Zoologischen Gartens auf den sich nähernden Feind zu hetzen, genau so parodistisch klang, wie die Manifeste Victor Hugo's sich wie Parodien lasen. Als die ersten Siegesnachrichten aus Frankreich eintrafen, verschwanden hier auch die harmlosesten Symptome der großen Hitze, welche einige Köpfe ergriffen hatte, und selbst die »unter der Uniform tragbaren und auf Kernschußweite 187 undurchdringlichen Panzerhemden« suchte man bald vergeblich unter den Inseraten. Als charakteristisch für die Ruhe, mit welcher das Volk von Berlin bald trotz der inneren Erregung den Ereignissen gegenüberstand, sei das Folgende mitgetheilt. An einem schönen Augusttage war die Ankunft der ersten gefangenen Turkos und Zuaven gemeldet worden. Die merkwürdigen fremden Soldaten, über welche immer viel Fabelhaftes verbreitet worden war und denen eine Hauptrolle in dem sich abspielenden Kriegsdrama zugedacht schien, interessirten die Berliner auf das Lebhafteste, und in hellen Haufen strömten die Neugierigen nach dem Askanischen Platz, auf welchem damals noch die Schienen der Verbindungsbahn lagen. Ich hatte mir eine Droschke genommen, die mich an die Ecke der Anhaltischen Straße brachte, an welcher der Zug vorüberfahren mußte. Bald erschien derselbe. In offenen Güterwagen saßen und standen, bewacht von preußischen Soldaten, deren Waffen und Helme bekränzt waren, die armen Gefangenen in ihren bunten, fast theatralischen Kostümen, weniger betrübt, als man erwartet hatte, in die staunende Menge blickend, welcher sie aber gar nicht imponierten, so martialisch die mit dem rothen Fez bedeckten Köpfe aussehen mochten. Mein Droschkenkutscher zeichnete diesen Eindruck durch vier kurze Worte, indem er sich zu mir umdrehte und 188 ganz ernst sagte: »Die dhun uns nischt!« Man kann sich kein vernichtenderes Urtheil über diese Soldaten denken, von denen der französische Chauvinismus so viel Abenteuerliches und Romantisches verbreitet und so viel unwiderstehliches Heldenthum für den begonnenen Krieg angekündigt hatte.
Wie Berlin den Sedantag feierte, das ist oft beschrieben worden. Wer ihn erlebt hat, wird sagen müssen, daß keine dieser Schilderungen auch nur ein annähernd ähnliches Bild dieses großen Tages herstellt. Von der Stimmung, in welche Berlin von der überraschenden Depesche des Königs versetzt worden ist, kann man mit Recht sagen, was so oft und unzutreffend bei anderen Gelegenheiten zum bequemen Ausweichen gesagt und gedruckt wird: sie spottet jeder Beschreibung. Berlin war berauscht. Da man selbst mitberauscht war, so merkte man gar nicht, wie mächtig der Rausch war, von dem man umtaumelt wurde. Man darf nicht vergessen, daß es sich nicht allein um die Freude über die Gefangennahme Napoleons handelte. Napoleon war eigentlich schon bei Wärth entthront, er war ein kranker, abgethaner Mann, welcher sich aus dem Strudel heraussehnte, der das Kaiserreich ergriffen hatte und in die Tiefe zog. Was dem Tage die Bedeutung gab und ihn zu einem Nationalfesttag erhob, das war die Ueberzeugung, oder doch die 189 Hoffnung der Menschen, daß er den Krieg beendigen würde. Die Hoffnung, wie man weiß, erfüllte sich nicht, aber an jenem Tage war sie in Jedem lebendig, und sie führte den Rausch herbei. Als ich Vormittags, von brausendem Jubel ans Fenster gelockt, in die Straße hinunterfragte, was denn los sei, wurde heraufgerufen: »Er kraucht nicht mehr im Busch herum!« Da wußte ich Bescheid, und als ich hinunterkam, umarmte mich mein Hauswirth, der mich einige Wochen vorher gesteigert hatte und den ich also als meinen Feind betrachtete. Es hat mir nie ein besonderes Vergnügen gemacht, von Männern umarmt zu werden, aber an diesem Tage war man ganz willenlos. Man wurde auf der Straße umarmt, ohne zu wissen, von wem, manchmal so, daß es einem weh that oder unangenehm war. Aber das störte nicht weiter. In den Straßen Jubel, nichts als Jubel. Die Läden waren offen, aber man dachte nicht an Geschäft. Und wo es einen guten Tropfen gab, da wurde getrunken, getoastet und wieder getrunken. Die Kinder zogen, die Wacht am Rhein singend, durch die Stadt, darunter Kleine, die garnicht wußten, um was es sich handelte, und Hurrah schrieen. Das von forschen Jungens erstiegene Denkmal Friedrichs des Großen bot einen höchst sonderbaren Anblick, aber es fiel nicht auf, denn an diesem Tage fiel überhaupt nichts 190 auf. Selbst der Gedanke an die großen Opfer, welche dieser Tag gekostet hatte, vermochte die herrschende Freude nicht zu trüben. Niemand hatte Sorgen. Ein Vergnügter sagte zu mir: »Wenn mir heute nicht glücklicherweise noch rechtzeitig eingefallen wäre, daß ich schon verheirathet bin, so hätte ich mich wahrhaftig mit einer sehr reizenden Wittwe verlobt. Wir waren aber auch über Sedan zu glücklich!« Ueberall wurden Feste improvisirt und herrschten Tanz und Jubel bis in die späte Nacht, und in diesen Tanz und Jubel mischten sich Unbekannte, die man duldete und nicht fragte, wie sie denn da hinein gekommen. Das war der Rausch von Berlin.