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Heitere Erinnerungen, nichts weiter. Plaudereien oder dergleichen, nicht etwa Memoiren, keine Bekenntnisse in stimmungsvoller Stunde, oder gar eine Biographie. Ich halte mein Dasein nicht für wichtig genug, um es in Kapitel zu gießen und im Feuilleton auszustellen. Wenn ich die Biographie eines Menschen in die Hand bekomme, der nicht als Dreher am Rad der Zeit mitangestellt war, oder der nicht einen Korb bekam, als er der Kunst oder Wissenschaft Arm und Geleit zur Höhe antrug, so ist es mir immer, als müßte ich sagen: »Ich danke, ich schneide selber auf.« Wer eine Biographie schreibt, muß ein biographisches Leben gelebt, muß es darauf angelegt gehabt haben, Interessantes und Wichtiges mitzumachen. Das ist eine Riesenarbeit. Er muß sich an die Wiege historischer Ereignisse herangedrängt, muß Briefe aufgehäuft haben, welche über Gestorbene Licht 8 verbreiten und Lebende compromittiren, oder mit Männern liirt gewesen sein, von denen so viel Unwahres geglaubt wird, wie die Leserwelt glaubt, und das ist allerdings eine schöne Menge. Viele Biographien gleichen denn auch gewissen Statuen, von denen der Fremdenführer auf die Frage: »Weshalb hat denn der Mann ein Monument bekommen?« dem Fremden mittheilt: »Nun, weil er noch keins hatte.« Sehr viele Biographien sind Eigenstatuen oder Selbstbüsten, mit denen sich der Autor schmeichelt, die aber ganz anders aussähen und viel ähnlicher wären, wenn sie ein Unbefangener modellirt hätte. Es ist gar zu leicht, interessante Memoiren zu schreiben, wenn man etwas Phantasie hat. Und wer hätte nicht wenigstens etwas Phantasie!
Aus diesem Grunde sind besonders die Künstlerbiographien so sehr unterhaltend. Der dramatische Künstler ist immer durch ein höchst merkwürdiges Wunder auf die Bühne gerathen. Man sieht förmlich, wie sich die Wunder vor der ungläubigen Welt in die Künstlerbiographie gerettet haben. Da passiren gewöhnlich die erstaunlichsten Zufälle, da ist noch der einzige Ort, an welchem wir dem Gott in dem Augenblick begegnen, wo er mittelst der Maschine erscheint, da ist jeder Tag tausend und eine Nacht, da gehört das Tischleindeckdich zu den allereinfachsten Möbeln. Die ganze Laufbahn besonders der darstellenden und 9 singenden Künstler pflegt ein Panorama von überraschenden, wie auf ein Stichwort ineinandergreifenden Ereignissen zu bilden. Fast jedes Auftreten wird durch eine Kette interessanter Un- und Zwischenfälle kunsthistorisch bezeichnet. Solche besonders sensationellen, pikanten und folgenschweren Vorgänge werden in allen Künstlerbiographien wiederholt. Nächst den Bühnenmitgliedern sind es die in Weinen und anderen nützlichen Verbrauchsartikeln reisenden Herren, denen fortwährend Abenteuer zustoßen. Liebesglück und Eisenbahnmalheur wechseln mit einander ab. Wenn man diese Herren erzählen hört, so begreift man kaum, wie sie noch am Leben sein können, gar so unbeschreiblich viel Glück und Unglück passirt ihnen fast täglich. Doch ist anzuerkennen, daß sie das Memoirenschreiben noch nicht so emsig ausüben, wie dies von den Bühnenkünstlern geschieht.
Freilich erlebt jeder Mensch viel oder wenig, und nicht nur der Schriftsteller weiß Mancherlei zu erzählen, was sich ganz kurzweilig vortragen und anhören läßt. Aber zu einer Biographie langt es doch selten, wenn man sich strikt an die Wahrheit hält und nicht zu der industriellen Corporation der Elephantenmacher gehört. Dann sieht man bald, daß die Erlebnisse, die man zu schildern hat, doch eigentlich nur ein persönliches oder ein engbegrenztes Interesse haben, wovon man sich sofort überzeugen 10 kann, wenn man das Erlebniß ernst oder heiter schriftlich dargestellt hat, dann die Darstellung bei Licht besieht, sich hierauf in den Leser versetzt und sich schließlich auf den Kopf zusagen muß, daß die ganze Geschichte den fremden Herrn durchaus nichts angeht. Eine Eitelkeit – das Wort Dummheit scheint mir etwas grob – ist es jedenfalls, anzunehmen, daß irgend einen zweiten Menschen das, was wir erlebt haben, ebenso interessiren könnte, wie uns selbst, wenn wir nicht etwas überraschend Neues oder allgemein Wichtiges zu erzählen haben. Und überdies ist das kluge und blasirte Geschlecht der Akiba viel zahlreicher, als die Mehrzahl der Memoirenschreiber augenscheinlich anzunehmen pflegt.
Besonders Künstler und Schriftsteller wissen wortreich Erstaunliches darüber mitzutheilen, wie sie von der unsichtbaren Hand des Schicksals in ihren Beruf eingeführt worden seien. Was hat sich da nicht alles begeben, wie wunderbar wurde vorgeahnt, wie merkwürdig fügte sich alles! Schon am Tage der Geburt ereignete sich etwas Bedeutsames, schon die Amme sah alles voraus, ein Onkel weissagte, und in der Schule, während des Alphabetunterrichts, entpuppte sich was. Ich habe von mir nichts dergleichen zu melden. Ich erinnere mich nur, daß ich in einer der untersten Klassen der israelitischen Freischule in Hamburg für meine ersten Journalgründungen 11 Prügel bekam, oder, was persönlich weniger schmerzhaft war, in's Carcer mußte. Wenn ich überhaupt bestraft wurde, so hatte ich das meinen journalistischen Bestrebungen zu verdanken, weil die mit vollem Recht gestrengen Herren Lehrer bald dahinter gekommen waren, daß ich die wichtigsten Schularbeiten vernachlässigte, um meinen redaktionellen Pflichten nachkommen zu können. Auf dem Katheder der Klasse lag ein Strafbuch, in das der erzürnte Lehrer die Verurtheilungen zu Hieben oder Carcer für die verbrecherische Schülernummer – ich hieß 797 – notirte. Das Urtheil, gegen das es keine Appellation gab, wurde nach der letzten Schulstunde vollstreckt. Dann erschien der Kustos Wiener, ein guter bartloser Mann mit milden Gesichtszügen, schritt auf das Katheder zu, warf einen Blick in das Strafbuch und rief den Delinquenten vor, entweder um ihm, indem er ihn am linken Arm faßte, mit dem kurzen ledernen und leider recht abgenutzten Kantschu die dictirten Hiebe auszuzahlen, oder ihn in's Carcer abzuführen. In dem Bodenraum der Schule standen einige hohe schmale Kisten, nicht breiter als wir selber waren, und in einer solchen von keinem Lichtstrahl erhellten Kiste, die eine verschließbare Thür hatte, habe ich oft genug für meine erste journalistische Thätigkeit gebüßt, hatte ich oft genug Zeit, fern von meinem lieben Elternhaus darüber nachzudenken, weshalb man 12 mich für eine so eminent wichtige Thätigkeit, wie es die Herausgabe einer mühsam geschriebenen Zeitung war, wie für ein Vergehen bestrafte. Wie manche Abendstunde hatte ich an der Herstellung des Blattes gearbeitet, und wie viel Neuem und Belehrendem hatte ich auf den vier vollgeschriebenen Quartseiten eine Verbreitung unter den Mitschülern verschafft, denen ich das Blatt zu lesen gab, ohne jemals einen anderen Lohn zu erwarten, als den, welchen eine gute That in sich selbst trägt! Und wie oft war ich mit meinem Blatt an einen Mitschüler herangetreten, der für geistige Ausbildung nicht empfänglich war, und wie oft habe ich es erleben müssen, daß so ein Barbar sofort davonlief, weil er, wie er sagte, etwas Besseres zu thun hätte! Etwas Besseres als das Lesen meines so sauber zusammengestellten und sogar illustrirten Blattes! Wenn ich in meiner Kiste an alles das dachte, dann weinte ich und so laut, daß irgend ein Mitgefangener, gleichfalls eine lebendige Mumie, in seiner Kiste mir zurief, ich sollte mich doch schämen, wegen einer Stunde Carcer solch einen lächerlichen Lärm zu machen. Ich konnte ihm natürlich nicht sagen, daß ich in meiner Eigenschaft als Journalist weinte. Erstens kannte ich das Wort Journalist gar nicht, und zweitens hätte er mich absolut nicht begriffen. Ich weiß aber, daß mir dann in meiner Kiste das Bewußtsein, verkannt zu werden, einen schweren Kummer bereitete, und daß 13 mich der Gedanke, Märtyrer einer guten Sache zu sein, durchaus nicht aufrichtete. Als ich vor einigen Jahren von dem Schneider Herrn Zeitung las, daß er in der Kiste, in der verpackt er sich nach Paris spediren ließ, Höllenqualen ausgestanden habe, da dachte ich, nicht allein durch den Namen Zeitung geleitet, an meinen Aufenthalt in der Carcerkiste der israelitischen Freischule am Zeughausmarkt in Hamburg.
Es wäre mir nun ein Leichtes, nach Biographenart mein Carcer zur Wiege meiner journalistischen Thätigkeit zu erheben, zu schildern, wie ich aus den Leiden dieser Gefangenschaft die Kraft schöpfte, die Feder festzuhalten, mit der ich mir diesen Kerker zugezogen hatte, und wie ich mir in der hölzernen Dunkelheit geschworen, unentwegt den Kampf für Freiheit und Licht zu kämpfen. Das klänge ja vielleicht ganz hübsch, wäre aber nicht wahr. Ich wollte nur mittheilen, daß ich schon in beängstigend früher Jugend, als Elementarschüler, Journalist und Redakteur spielte, vielleicht noch eher, als ich Zeitungen gelesen, ganz gewiß, bevor ich auch nur eine Ahnung von dem Wesen der – wie man es heute nennt – Schriftleitung hatte. Ich denke mir, daß man als Journalist geboren werden kann, und daß man dann immer Journalist bleibt, man mag mit sich anfangen, was man wolle. Auf jedem Weg, den man einschlägt, in jedem Beruf, den man wählt, ist man 14 Journalist, und immer wird man wieder zu dieser Hexe zurückkehren, wenn man sie einmal verlassen haben sollte. Wer ihr angehört hat und ihr dann dauernd den Rücken kehrt, der ist eben kein geborener Journalist.
Seit ich als Junge, der kaum schreiben konnte, die ersten Zeitungen – aber fragt mich nur nicht wie – für meine Mitschüler, die meist nicht begriffen, was ich denn eigentlich wollte, herausgegeben habe, bin ich Journalist. Das ist nun mehr als fünfzig Jahre her. Wie beneide ich mich heute um die Freude, die mir damals die Spielerei mit der Feder machte! Wer als reifer Mann in die Journalistik eintritt, lernt den Zauber nicht kennen, den sie auszuüben vermag, sie, die von dem Mann so viel Ernst, so viel Muth, Enttäuschungen zu ertragen, so viel Kraft und Ausdauer, Kämpfe zu bestehen, fordert. Wer als Mann Journalist wird, ist wie ein Hagestolz, der mit der Journalistik eine Vernunftheirath schließt. Ich habe mit der Journalistik alle Stadien der Liebe durchgemacht, von der blonden Jugendeselei aufwärts. Erröthend folgte ich ihren Spuren und war von ihrem Gruß beglückt, und als die Leidenschaft geflohen war, blieb die Liebe zu der Angebeteten in mir zurück, und ich werde ihr diese Liebe bis zur letzten Zeile treu bewahren.
Wie man aus dem Rausch der ersten 15 Herzensneigung keine Erinnerung in das reife Alter hinübernimmt, wenigstens keine andere als die, daß dieser Rausch sehr schön gewesen sei, so erinnere ich mich aus der Zeit, als ich in die Journalistik knabenhaft verschossen war, keiner Einzelheiten mehr. Ich weiß nur, daß mich die Strafen und Ermahnungen nicht genirten, was gewiß sehr bedauerlich ist, und daß ich mich über die in der Mitte der vierziger Jahre gefeierte silberne Hochzeit meiner geliebten Eltern nicht so freute, als darüber, daß ich von meinem ältesten nun längst verstorbenen Bruder Martin die Mittel erhielt, um zu dieser Feier ein Festblatt drucken lassen zu können. Ich sollte etwas drucken lassen! Unbeschreiblich ist der Zauber, der mich beherrschte, kaum schlief und aß ich noch, ich schrieb, und als ich nun gar mit dem fertigen Manuscript in die Druckerei kam, da vermochte ich vor Aufregung nicht zu sagen, was mich dahingeführt hatte. Wie ich den Muth fand, diesen Gang anzutreten, das ist mir auch heute noch unbegreiflich. Ich war niemals vorher in einer Druckerei gewesen, ich hatte keine Ahnung von den Aufgaben, die nun an mich herantraten. Mit züchtigen, verschämten Wangen sah mich der Faktor der Druckerei vor sich stehen, als ich ihm meine ungelenke Prosa und Poesie in sauberster Abschrift überreichte und ihm sagte, was damit geschehen solle. Mit aufrichtiger Ehrfurcht sah ich zu ihm hinauf, er war ja 16 der Mann, der das Geschriebene in Gedrucktes verwandelte, und mit demselben Gefühl blickte ich zu den Maschinen hinüber und staunte ich die Setzer an, welche da blitzschnell in die Kästen griffen und die Bleilettern hervorholten, um dieselben in Reih und Glied zu stellen. Ich befand mich in einer neuen Welt, die ich bisher nur geahnt hatte. Der Faktor sah in mir nur einen Jungen, der mit einem Auftrag an ihn geschickt war und der sich dieses Auftrages ziemlich ungeschickt entledigte. Er wurde ungeduldig und sagte: »Bestell' Deinem Vater, er soll selber kommen!« Nun erst wurde ich deutlicher und machte den kurzangebundenen Zauberer darauf aufmerksam, daß das Blatt ja für den Vater eine Ueberraschung sein solle. »Aha,« sagte er, »also schick' mir den Mann, der das Blatt geschrieben hat.« Ich gestand nun dem strengen Inquirenten alles offen ein und war nicht wenig stolz auf mich, als er ein paarmal mit beleidigender Schärfe fragte, ob das auch wirklich wahr sei. Es scheint aber doch, daß er mir endlich geglaubt hat, denn als ich fortging, sagte er: »Also kommen Sie morgen Mittag wieder.« Bis vor etlichen Minuten hatte er mich geduzt.
Ich habe schon mitgetheilt, daß ich allerlei journalistischen Unfug beging, ohne mit Journalen nähere Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich brachte Blätter hervor wie ein Baum, der meines Wissens 17 auch nicht weiß, wie er sie hervorbringt. Etwas mehr als ein solcher wußte ich allerdings davon, ich hatte wohl eines der damals in Hamburg erscheinenden wenigen Blätter gesehen, und nachdem ich die Kunst des Schreibens erlernt und die ersten deutschen Aufsätze gemacht hatte, war es mir wohl ein Leichtes, mich in mehr oder weniger schadhafter Prosa schriftlich zu äußern. Aber wie kam ich zu Versen? Ich hatte kaum Verse gelesen und verbrach solche, ohne eine Ahnung von der Metrik zu haben, um deren Gesetzbücher ich mich auch später niemals bekümmert habe. Ich will ja gern zugeben, daß ich auch heute noch keine Verse machen kann, nachdem ich viele Tausende publicirt und der Leserwelt dadurch Gelegenheit gegeben habe, sich von der Wahrheit meiner Vermuthung zu überzeugen. Immerhin bleiben mir meine ersten gereimten Strophen ein Räthsel.
Mein Silberhochzeitblatt erschien pünktlich am Festtag meiner lieben Eltern und zwar in einem so großen Format, wie ich es später niemals wieder an einem Festblatt gesehen habe. Ich war nicht wenig stolz und durchaus nicht beleidigt, als ich sah, daß mehrere Gäste das Blatt dazu benutzten, allerlei von der Festtafel für die Kinder einzuwickeln und nach Hause zu transportiren. Das war doch Verbreitung in den weitesten Schichten der Bevölkerung, es war die Colportage, ich kam mir wie der Redakteur eines 18 Weltblattes vor. Nun war ich unheilbar Journalist. Freilich fehlte mir noch die Tapferkeit eines solchen, ich mußte noch den besseren Theil derselben, die Vorsicht, üben, wovon ich noch erzählen werde. Ich sandte in aller Heimlichkeit an erreichbare Blätter kleine humoristische Arbeiten, die auch willig gedruckt wurden. Wo mögen sie sein? Ich würde sie wohl auch nicht wieder erkennen, wenn sie mir jetzt vor Augen kämen. Doch wie viel Vergnügen machten sie mir, als sie entstanden, mit wie viel Sehnsucht erwartete ich regelmäßig den Abdruck, mit wie viel Furcht durchspähte ich jedesmal die Zeilen des Briefkastens nach irgend einer redaktionellen Mittheilung!
Da kam das Jahr 1848. Ich war eben sechszehn Jahr alt geworden. Die Flucht Louis Philipps bezeichnete den Beginn der neuen Zeit, deren erste Gabe die Preßfreiheit war. Alles, was jung war, griff zur Feder, um heilige Rechte zu erkämpfen, Tyrannen zu stürzen, Nationen zu befreien, verlassene Bruderstämme zu retten. Man glaubte, dies mit der Feder zu können. Voran die Jugend, welche am allerwenigsten unter dem vormärzlichen Druck gelitten hatte. Sie verlangte nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Wie das alles klang, wie schön, wie voll, wie erhebend! Es war ein Rausch, der alle Menschen beherrschte, wenn das Wort Beherrschen 19 von uns Halbkindern überhaupt noch geduldet wurde. Wir schlossen uns den großen Volkshaufen an, die durch die Straßen zogen und am Hause eines mißliebigen Bürgermeisters die Fenster zertrümmerten. Dazu sangen wir:
»Denn ein Frühling ist im Lande,
Wie die Welt noch keinen sah,
Und es springen alle Bande,
Und die Freiheit, sie ist da!«
Der Völkerfrühling! So lautete das Zauberwort. Man kann sich heute nicht denken, was sich in den Tagen des Völkerfrühlings und wie sich alles begeben hat. Oft kommt's einem vor, als sei alles ein Traum gewesen. Etwas ähnliches war es doch auch. Die Zeit war ja noch jünger als wir, die wir darin gelebt haben. Selbst die Männer wußten nicht recht, was sie mit ihr anfangen sollten, sie waren nicht weniger naiv als die Halbwüchsigen. Eines Abends war das alte Haus des Bürgermeisters wieder hart bedrängt. »Es lebe die Republik!« wurde geschrieen. Das war die Parole, die man von den Ereignissen in Paris an jenem denkwürdigen 24. Februar gelernt hatte. Der Bürgermeister erschien auf dem Balkon und rief in die Menge: »Was wollen Sie denn eigentlich, meine Herren, Hamburg ist ja eine Republik!« Da donnerte es zu dem Sprecher hinaus: »Denn wölt wi noch eene hebben!«
20 Die Preßfreiheit hatte der Journalistik ein frisches, oder überhaupt Leben eingehaucht. Ueberall tauchten neue Blätter auf. Der lang verhaltene Groll machte sich vor Allem in satirischen Blättern Luft, es war für die Schreibseligen eine glänzende Zeit, man druckte viel, alles und ohne viel Kritik und Bedenken. Einen Monat früher als in Berlin die erste Nummer des Kladderadatsch (am 7. Mai) erschien in Hamburg (am 2. April) die erste Nummer des»Mephistopheles« unter der Redaktion von Wilhelm Marr im Verlag der durch ihre demokratischen Bücher berühmt gewordenen Firma Hoffmann und Campe. Wilhelm Marr ist der heute 72 Jahr alte Sohn des bedeutenden klassischen Schauspielers Heinrich Marr. Diesen Künstler, der in der ersten Aufführung des Goethe'schen Faust am Hoftheater zu Braunschweig am 19. Januar 1829 den Mephistopheles gespielt hatte, lernte ich während seiner Wirksamkeit am Thaliatheater in den fünfziger Jahren als einen genialen Charakterdarsteller kennen, der auf der deutschen Bühne heute nicht seinesgleichen hat. Als ich zur Universität nach Berlin ging, führte er mich mit einigen Zeilen bei dem damals so gefürchteten Feuilletonisten Ernst Kossak ein. Als Kossak den Brief gelesen hatte, sagte er zu mir: Der alte Marr ersucht mich, Sie von der Journalistik fortzugraulen, Sie seien so sehr auf sie versessen. Aber ich werde 21 mich wohl hüten. Wer einmal ein Dutzend Federn bei der Journalistik ausgeschrieben hat, ist nicht wieder herauszubringen.
Der Sohn des ersten Darstellers des Mephistopheles, Wilhelm Marr, war also der Redakteur des politisch-satirischen »Mephistopheles« in Hamburg. Wilhelm Marr war im Jahre 1848 einer der populärsten Demokraten der Hansestadt, der mit Gott und allen Königen grollte und eine geistvolle, kecke und sehr witzige Feder führte, die ihn, als sich die Behörden von ihrer März-Ohnmacht erholten, dann und wann in das Hamburgische Staatsgefängniß, den Winserbaum, gebracht hat. Das machte einen Märtyrer aus ihm und vermehrte seine Popularität. Der frische, unerschrockene Ton seines Teufelsblattes sagte mir zu, und bald überfluthete ich dasselbe mit Manuscripten, ohne zu wagen, mich persönlich dem Redakteur vorzustellen, oder ihm meinen Namen zu nennen. Ich war damals sehr schüchtern. Das hat sich später gegeben. Und diese Schüchternheit war auch nicht ganz waschecht, wie ich versichern darf, sie hatte, wie ich oben schon andeutete, einen zwingenden Grund, von dem ich in einem zweiten Kapitel erzählen will.