Julius Stettenheim
Heitere Erinnerungen
Julius Stettenheim

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86 VII.

Von Kossak habe ich bereits gesprochen. Er war damals der Alleinherrscher des Feuilletons. Die geistvolle Schärfe, welche er seinen Theaterkritiken anzuschleifen verstand, bildete den Schrecken der Bühnenangehörigen und eine Delikatesse für das Publikum. Aber seine Schärfe entstand aus dem Interesse für die Kunst, er wollte durch sie die Gebrechen kuriren, an denen das Theater litt, nicht etwa seinen Lesern eine kleine Schadenfreude bereiten. Seine »Montagspost« war daher eine Lieblingslektüre Berlins, einzig in ihrer Art. Das Publikum hatte damals sein eigenes Urtheil und las die Kritik nur, um dasselbe bestätigt zu sehen, oder es nach dem eines bewährten Kunstkenners reguliren zu können, dann aber auch, um zu lesen, was ein Kritiker mit Kenntniß, Geist und Geschmack zu sagen wußte. Heut liest das Publikum Kritiken, um zu erfahren, ob es sich gestern im Theater unterhalten oder gelangweilt habe, oder um sich an der Niedermetzelung des Stücks 87 und der Darstellung unbarmherzig zu weiden. Als Kossak schrieb, hatte die Kritik noch einen wirklichen Einfluß auf das Kunstleben, den sie heute schon wegen des Dampfbetriebs, mit der sie arbeitet, nicht haben kann. Die Tagesblätter beeilten sich noch nicht so wie heute, die Kritik kannte die Nachtarbeit noch nicht, und sie galt noch nicht für eine leichte Aufgabe, die sich zwischen dem Schluß der Vorstellung und dem Abendessen in aller Eile erledigen ließ. Kossak war auch ein vortrefflicher Menschenschilderer. In wenigen Zeilen zeichnete er eine ganze Figur, und so scharf wußte er zu charakterisiren, daß der Leser sie lebendig vor sich sah. Er war ein stiller, aber überaus geistvoller Gesellschafter und wegen seiner Welt- und Menschenkenntniß geschätzt. Wenn man sein Urtheil herausforderte, war er von rücksichtsloser Offenheit. Ich hatte eine Parodie in drei Gesängen »Lohengrin« verfaßt, die bei Hofmann erschienen war, und an Kossak war ein Exemplar mit der bekannten Bitte um freundliche Beachtung gelangt. Als ich ihn dann bald darauf bei Wilhelm Scholz traf, sagte er zu mir: »Ich habe Ihre Humoreske erhalten und danke Ihnen herzlich. Aber seien Sie unbesorgt, junger Mann, ich schreibe nichts darüber.« Angenehm nachsichtige Kritik! Und ich hatte geglaubt, etwas Beachtenswerthes verfaßt zu haben. Erst später sah ich ein, daß ich allen Grund hatte, Kossak dankbar zu sein.

88 Daß meine Freunde und ich einen Verein gründeten, ist wohl selbstverständlich. Wann hätten sich jemals etliche junge Männer zusammengefunden, ohne daß eines Tages die Legion von bereits vorhandenen Vereinen um einen unter irgend einem unpassenden Namen vermehrt worden wäre? Zumal junge Männer, die, wie wir, einem gleichen Beruf angehörten und sich mit derselben Mühe und gleichem Humor durch den Tag schlugen. Unser Verein hieß: Die Wüste. Ich muß uns zu unserer Ehre nachsagen, daß bei der Gründung nicht einmal der Gedanke an eine Vereinskasse und an einen Geldbeitrag auftauchte. Wer davon gesprochen hätte, wäre für wahnsinnig gehalten worden. Weshalb wir den Verein »die Wüste« nannten, ist niemals festgestellt worden, es hat sich auch keiner die Mühe gegeben, darüber nachzudenken. Wir kamen Abends in irgend einem Bierhaus, in welchem uns ein Zimmer eingeräumt war, zusammen, improvisirten einen Commers, rauchten feindselige Cigarren, sangen Lieder, welche wir nach bekannten und nicht leicht zu ruinirenden Melodien selbst verfaßt hatten, und lasen uns unsere neueste Prosa und Poesie vor. Das war lauter originelles Zeug, übermüthige Parodie, idealer Spaß. Unter den damaligen jungen Männern kannte man den Pessimismus der heutigen so wenig wie die Sucht, durch angeschminkte Weltverachtung zu einem Namen und zu einem 89 Honorar zu kommen. Wir verleugneten die Jugend nicht. Der Ibsenismus war noch nicht erfunden. Wir freuten uns des Lebens, auch wenn das Lämpchen nicht glühte. Wir alle hatten unser schweres Päckchen Sorge zu tragen, aber Abends legten wir es unter Absingung von Schelmenliedern ab, johlten und tranken uns neuen Muth zu und hatten weder Lust, noch den Ehrgeiz, die Gesellschaftsordnung erst umzustürzen und dann von Grund auf neu zu errichten, wie die Phrase der heutigen Jugend lautet. Wir gossen ja auch unsere Satire über die Gebrechen der Zeit, aber die Gesellschaftsordnung besteht heute noch, und wir bildeten uns auch nicht ein, daß wir berufen waren, sie vom Erdboden zu rasiren. Dazu waren wir trotz unseres Leichtsinns zu vernünftig und zu bescheiden. Wohin unsere prosaischen und poetischen Manuskripte gerathen sind, das kann ich nicht sagen. Wir bildeten uns nämlich auch nicht ein, daß das Niedergeschriebene in einem Archiv aufbewahrt zu werden verdiente. Und doch haben wir später wohl nichts Besseres zu Stande gebracht, nichts, was so ursprünglich erdacht und niedergeschrieben worden ist. Es ist eigentlich bedauerlich, daß man mit dem in jungen Jahren Verfaßten so unverantwortlich gleichgültig verfährt, eben weil alles das nicht das Resultat angestrengten Producirens, sondern vom Moment eingegeben, genial hingeworfen und 90 darum unmittelbar und frisch, nichts Conventionelles ist.

Einem der vielen Lieder, die ich für unsern Kreis verfaßte und von denen sich nur zwei oder drei wie durch ein Wunder erhalten haben, verdanke ich eine ganz lustige Scene, die ich nach vielen Jahren erlebt habe. Sie ist ein Beweis dafür, wie leicht uns die Autorschaft in den Verdacht bringt, anstatt des Autors ein Plagiator zu sein, wenn man in die Jahre kommt und schon frühzeitig allerlei producirte, was sich damals in einigen guten Gedächtnissen festgesetzt hat.

Wir tranken einen Freund und prächtigen Kerl, einen Gerichtsassessor, von Berlin fort. Es war eine schwere Sitzung. Wir hatten den Scheidenden sehr lieb, und als wir längst schon zu viel getrunken hatten, fand sich immer noch eine neue Flasche, von welcher ganz bestimmt behauptet wurde, daß sie auf das Wohl des Freundes zu leeren sei. Wir tranken und sangen. Da stimmte ein Anwesender das Lied an, von dem ich eben gesprochen habe. Es war ein unverantwortlich keckes, das nur zu einer letzten Flasche von Männern gesungen werden konnte. Ich erschrak fast, denn ich hatte es längst vergessen, und wünschte, daß es auch von Andern vergessen sei. Aber als es unter lautem Gelächter zu Ende gesungen war, wies der Sänger, vielleicht um jede Verantwortung von sich 91 abzuwälzen, auf mich als den Autor hin. Ich konnte die Autorschaft nicht bestreiten, sondern nahm das Hurrah der Zechgenossen dankbar entgegen. Kaum war ich so eitel auf meine Paternität gewesen, der nachzuforschen auch speciell bei nicht zu veröffentlichenden Liedern verboten sein sollte, als ein grauköpfiger Major in Civil, der neben mir saß, mir in's Ohr sagte: »Das müssen Sie nicht thun!« Er sah dabei überaus väterlich streng aus.

»Was muß ich nicht thun?« fragte ich ihn neugierig.

»Das werden Sie doch wohl selber wissen«, antwortete er etwas strenger.

»Aber wenn ich es nicht selber weiß?« sagte ich ein wenig gelangweilt.

»Nun denn, mein Freund, das müssen Sie nicht thun, Sie dürfen nicht sagen, daß das Lied, welches wir eben gesungen haben, von Ihnen sei.«

»Es ist aber von mir. Ich thue mir nichts darauf zu gut, im Gegentheil, aber wenn mir die Verfasserschaft auf den Kopf zugesagt wird, dann muß ich sie doch der Wahrheit gemäß eingestehen.«

»Das Lied soll von Ihnen sein? Ich kenne es ja schon ein Vierteljahrhundert, und Sie sehen mir gar nicht so alt aus, daß Sie es verfaßt haben könnten. Das müssen Sie nicht thun!«

92 »Ich danke Ihnen für das Compliment, Herr Major, aber Sie kennen das Lied keinenfalls länger, als seit seiner Entstehung, die es leider mir zu verdanken hat.«

Aber mein edler Warner war nicht zu beruhigen. Er sagte: »Bedenken Sie, was Ihnen passiren kann, wenn zufälligerweise der richtige Verfasser entdeckt würde, oder gar bei einer Gelegenheit wie der heutigen anwesend wäre!«

Dabei lächelte er etwas verletzend mitleidig und trank. Dann sagte er wieder: »Das müssen Sie nicht thun!« Und das wiederholte er im Laufe der Nacht noch etliche Male in Worten und Blicken, und als wir uns endlich trennten, bat er mich nochmals, es nicht wieder zu thun. Er ist, und wenn er noch lebt, bis auf den heutigen Tag fest davon überzeugt geblieben, daß ich ein kecker Plagiator sei.

Manchmal, wie ich versichern kann, wurde mir vor meiner Nichtsähnlichkeit bange. Dann verurtheilte ich mich zum Stubenarrest, beugte mich über Kant und Hegel und zwang mich, in dieser Stellung zu verbleiben und meine Ohren den Lockungen der Feder zu verschließen, die an das Produciren gewohnt war. Oder ich ging in's Colleg, Trendelenburg, Michelet, Ranke und Andere zu hören, die mir auch auf meinem Bogen das bekannte Zeugniß fleißigsten Besuchs ausgestellt haben. Nach Unverdienst, denn ich hatte mich 93 nur selten sehen lassen. Ich habe dies oft redlich bedauert, sogar, wenn dies auch etwas sentimental klingen mag, unter Thränen. Aber das alles half nichts, ich hielt doch das Produciren für mehr, als alle Weisheit dieser Welt, und griff wieder zur Feder. Das wird nur der mit vorwurfsvollem Kopfschütteln hören, der die Kraft der Feder, dieser metallenen Sirene, nicht kennt, oder nicht an sich hat erproben gefühlt. Sie hatte auch leichtes Spiel, sie brauchte mich nicht etwa mit großen Honoraren und glänzenden Aussichten zu bestechen. Was sie mir brachte, reichte kaum hin, die bescheidenen Ansprüche meiner Dachstube und der »Langsamen Vergiftung« zu befriedigen, aber ich glaube, daß ich ihr auch treu geblieben wäre, wenn mir das edlere, stolzere und schönere Weib, meine Fakultät, ein Riesengebirge von goldenen Bergen versprochen hätte. Gegen die Feder giebt es keinen Widerstand.

Vielleicht überschätzte ich damals und überschätze ich noch heute die Macht der Feder, und es ist nur meine Schwäche für sie, welche ihr den Sieg leicht gemacht. Aber wenn ich mich auch zur Wehre setzen wollte, dann brauchte mir nur eine Idee, welche ich für originell oder für besonders lustig hielt, durch's Gehirn zu streichen, und alsbald war ich entwaffnet, ich saß wieder am Schreibtisch und ließ alle Philosophen und Philologen gute Männer sein. Gerieth ich nun 94 gar in die Gesellschaft eines vielgenannten Schriftstellers, so sah ich in dessen Berühmtheit nichts anderes als ein Werk seiner Feder, nicht etwa zugleich auch die Arbeit des ernstesten Studiums, welches vorangegangen war. Und mit um so größerem Eifer wandte ich mich der Feder zu. Auf dem Kampfplatz zwischen Büchern und Dintefaß zog ich mich nach kurzem, oft nur scheinbarem Widerstand stets auf das letztere zurück.

»Bei dem Einen ist es die Natur, bei dem Andern die Kunst«, sagte mir an einem heißen Sommernachmittage in Kroll's Garten Fritz Reuter, damit in charakteristisch kurzer und prägnanter Form meine Klage gegen die Unwider- oder Unausstehlichkeit der Feder von der Tagesordnung unserer Unterhaltung streichend. Fritz Reuter war nach Berlin gekommen, um der Aufführung seines satirischen Lustspiels »Die drei Langhänse« beizuwohnen. Auf der Bühne fremd, hatte er zur Mitarbeit an dem Bau des Stückes Eduard Jacobson veranlaßt, der mich dem Dichter vorstellte, dessen »Reis nach Belligen« eben erschienen war und ihm einen vornehmen Platz in der deutschen Literatur gesichert hatte. Reuter's Erscheinung war die breite, ruhige Behaglichkeit eines zufriedenen Bürgers, der sich aus dem Lärm der großen Stadt wieder zu seinen Freunden in der stillen Heimath fortsehnte. Man sah ihm an, daß die 950 Menschen, bei denen er sich wohlfühlte, die er liebte, und mit denen er aufgewachsen war, Dorfmenschen und Kleinstädter waren. Wer ihn nicht kannte, war gewiß erstaunt, wenn er erfuhr, das sei der große Volksdichter, einer der wenigen echten Humoristen, welche Deutschland hervorgebracht. Wer aber so glücklich war, Reuter kennen zu lernen. hatte einen ganzen Menschen gewonnen und verehrte bald in ihm einen originellen Charakter, wie auch seine Erscheinung originell war. Reuter war ein Typus, gewissermaßen die Verkörperung seiner Muse, und wenn man ihm eine Weile zugehört hatte, so begriff man, wie er in jeder seiner zahlreichen Figuren einen Typus schaffen konnte. Dabei war er ein ungemein bescheidener Mensch und meinte, Jeder, der sich mit offenen Augen umsehe, müsse wie er schaffen können.

Als ich Reuter gegenübersaß, wurde ihm vom Kellner ein Glas Wasser gebracht, und als er bemerkte, daß mich diese farblose Mäßigkeit überraschte, lachte er und sagte: »Beruhigen Sie sich, es ist kalter Punsch von Arak ohne Löffel. Es sieht so unschuldiger aus, nicht wahr, obschon es ja keinen was angeht.« Mindestens sechs Mal rasch hintereinander hat er in dieser Weise Alle, die es nichts anging, getäuscht. Das schien ihm ein großes Vergnügen zu machen.

96 In Einem glich ich dem großen Humoristen: ich hatte mit keinem Versuch, die Bühne zu erobern, Glück. So oft ich mich hinaufwagte, purzelte ich wieder herunter und fand unten die Kritik, welche mitleidig den Kopf schüttelte. Einmal begehrte sogar das Publikum in einem Einakter, den ich für Anton Ascher's Benefiz im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater geschrieben hatte, nach dem Vorhang, obschon derselbe kaum zehn Minuten lang seinen Blicken entzogen gewesen war. Das war nicht sonderlich ermunternd. Nur ein einziges Mal gelang mir eine dramatische Kleinigkeit, ein Liederspiel, welches »Die letzte Fahrt« hieß und die Bearbeitung eines Stückes von Grün, einem Wiener Autor, war. Die erste Aufführung fand am 3. März 1860 im Wallner-Theater statt, und den Erfolg verdanke ich Helmerding, der einen verseschmiedenden Executor überaus originell darstellte. Das Stückchen, welches auch jetzt noch dann und wann gegeben wird, endet sehr ernst: mit dem Tod eines alten Postillons, nachdem dieser seine letzte Fahrt auf das Gut eines Grafen gemacht und diesem erzählt hat, daß er einst dessen Kind aus den Flammen gerettet habe. Theodor Reusche, mein Landsmann, spielte diese Rolle. Es schien ihm nun sehr bedenklich, sie, wie sie es verlangte, mit einer Sterbescene abzuschließen, die nach seiner Meinung nicht für sein Fach – er war bekanntlich 97 ein vortrefflicher Charakterkomiker – paßte. Endlich entschloß er sich, die Rolle zu spielen. Als er aber am ersten Abend, umgeben von seiner schluchzend Abschied nehmenden knieenden Familie, im Lehnstuhl seinen letzten Athemzug gethan hatte, und als unter dem stimmungsvollen Geläute der Abendglocken der Vorhang sich senkte, da – ich sehe das Unerhörte noch vor mir – da wurde plötzlich sein Fach in ihm lebendig, und er erhob sich aus dem ewigen Schlaf und begrüßte seine höchst überraschten Lieben auf das Herzlichste. Das that er auch noch in lebendigster Weise, als der Vorhang sich wieder hob. Das Liederspiel hatte wirklich sehr gefallen, und das Publikum schien ganz damit zufrieden zu sein, daß der alte Postillon schließlich den Seinen erhalten geblieben war. Erst bei einer späteren Wiederholung entschloß sich Reusche auf meine dringende Bitte, am Schluß des kleinen Stückes seinen Komikergeist aufzugeben, und nun hatte er einen wirklichen Erfolg, wie jeder andere Schauspieler, der nach ihm diese Rolle dargestellt hat. Während heute die Vertreter der heiteren Bühne eifrig nach Aufgaben greifen, in denen sie auch ihr ernsteres Können zu zeigen vermögen, war damals der Komiker kaum zu bewegen, die Schablone auch nur versuchsweise zu verlassen.

Zu meinen heiteren Erinnerungen gehört auch mein Aufenthalt in der Klinik des großen 98 Augenarztes, Professors Albrecht von Graefe. Ich wachte eines schlimmen Morgens mit einer sehr schmerzhaften Augenentzündung auf. Alsbald suchte ich Hülfe, wo alle augenkranke Welt sie damals suchte, und das war mein Glück, denn ein mir befreundeter Student der Medicin war am selben Vormittag zu mir gekommen und schickte sich schon an, seine Kunst an mir auszulassen. Er hätte mich entschieden blind kurirt, und mich rettend flüchtete ich in die Graefe'sche Klinik. Im Wartesaal derselben, in Gesellschaft der vielen seufzenden Augenkranken, saß ich stundenlang, bis ich von Graefe untersucht wurde. Graefe war eine bezaubernde Erscheinung, hoch, schlank, männlich schön, ein Messias für den Leidenden, den sein mildes Wesen mit heilendem Vertrauen erfüllte. Er sagte, ich möchte gleich in seiner Klinik bleiben, da ich in Gefahr schwebte, mein Auge zu verlieren, und als ich ihm sagte, daß mir die Mittel fehlten, solche gewiß kostspielige Kur durchzumachen, schickte er mich, ohne ein Wort weiter zu verlieren, in ein Zimmer, das er einem Leidensgefährten eingeräumt hatte, der gleichfalls Student war. Mit verbundenen Augen, als ging's zum Blindekuhspiel, wurde ich in ein stockfinsteres Zimmer geführt, in welchem ich nun mit dem Studien- und Leidensgenossen, ohne denselben zu sehen, bis zu meiner völligen Wiederherstellung verbrachte. Ein originelles Zusammenleben, 99 das wir uns, in der Dunkelheit umhertappend, trotz unserer nicht geringen Schmerzen, durch lustiges Geplauder und Singen freundlich zu gestalten vermochten. Wir hatten wohl allerlei Unbequemes zu ertragen, und besonders feindselig waren wir gegen die nöthige Diät der Klinik gestimmt, deren mehr bekannte als beliebte Lazarethpflaume den unerbittlichsten Vegetarianer zum Abfall zu bewegen vermag. Aber mir fehlte das arge Talent, mir Sorge zu machen, und dadurch überwand ich jeden Schmerz und jedes Ungemach sehr leicht. Ich war aus meiner allerhöchsten Wohnung fortgegangen, ohne sie verschließen zu müssen, alles, was ich nicht besaß, vertrauensvoll der Obhut meiner wackeren Wirthsleute überlassend, denen ich eine Mittheilung über mein Verbleiben geschickt hatte.

Am zweiten Tag erschien Graefe an der Seite eines seiner gelehrten Kollegen, dem er mein von Blutegeln umrahmtes Auge zeigte. »Ein prächtiges Auge!« sagte er dabei zu seinem Begleiter.

»Verzeihen Sie mir die schüchterne Bemerkung, Herr Professor«, wagte ich zu bemerken, »mit diesem prächtigen Auge kann ich aber absolut nichts sehen.«

»Das ist es eben«, antwortete er mir ganz ernst. »Wenn Sie mit dem Auge wieder sehen können, dann ist es kein prächtiges und hat gar kein Interesse mehr. Das wird bald der Fall sein«, setzte er tröstend hinzu.

100 So war es auch. Ohne prächtiges Auge und erfüllt von einem unauslöschlichen Dankgefühl verließ ich bald die Klinik dieses ausgezeichneten Mannes, der, viel zu früh für die leidende Menschheit, am 20. August 1870, mitten im Brausen des großen Krieges, gestorben ist. Bevor ich die Klinik verließ, schrieb ich in das Album einer Pflegerin, der ich für ihre liebenswürdige Sorgfalt zu Dank verpflichtet blieb, einige Graefe gewidmete Verse, welche schlossen:

»Ueber Alle wacht ein Auge,
Ueber alle Augen Einer.«

Wo mag diese Pflegerin, wo mag mein Krankenstubenkamerad jetzt sein? Ich würde mich sehr freuen, von ihnen zu hören.


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