Julius Stettenheim
Heitere Erinnerungen
Julius Stettenheim

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131 X.

Wer die schwere Last der sechzig Jahre mit sich herumträgt, muß sich oft genug von liebenswürdigen und höflichen Menschen geduldig auf den grauen Kopf zusagen lassen, man sehe durchaus nicht so alt aus, man sei »bekanntlich« nicht älter als man sich fühle, man sei ja noch so jugendlich frisch und genußfähig, man könne ganz zufrieden sein, und – das versichern namentlich die Frauen – der Mann werde überhaupt nicht alt. Mit solchen trostreichen Versicherungen wird der Sechzig- und Mehrjährige fortwährend regalirt, und die freundlichen Rednerinnen und Redner versprechen sich von solchen Gesprächsbonbons stets eine außerordentlich wohlthuende Wirkung auf den resignirt hinnehmenden Alten, der mit unterdrücktem Seufzen zuhört. Er weiß nur zu gut, daß die Brutalität der Ziffer durch nichts gemildert werden kann, und wenn er nicht ungeduldig protestirt, so liegt das daran, daß er weiß, wie gänzlich nutzlos ein solcher Protest ist.

132 Sollte aber ein Graugewordener einmal bemerken, daß er in Gefahr schwebe, den einlullenden Versicherungen der Altershöflinge Glauben zu schenken und sich dadurch mehr oder weniger lächerlich zu machen, so schließe er nur schleunig sein Archiv auf, krame unter den alten Papieren, werfe einen Blick in halb- oder drittelhundertjährige Briefe und durchfliege andere vergilbte Dokumente, die er nicht vernichtet hat, weil er anfangs zu ordnungsliebend und später nicht klug oder nicht beherzt genug gewesen ist. Da merkt man, wie unrettbar alt man geworden, da erkennt man das Nichts der freundlichen Redensarten, da schmeckt man die Wahrheit in ihrer ganzen Bitterkeit.

Dann und wann blicke ich in die Schränke und Kästen, die ich im Laufe der Jahre mit unzähligen Briefen, Drucksachen und ähnlichen Hobelspänen einer langen Thätigkeit vollgepackt habe. Oft habe ich unter diesen aufgeräumt, aber große, kaum mehr zu ordnende Massen sind geblieben. Da liegt im unentwirrbaren Durcheinander Geschriebenes und Gedrucktes, das ich einst verfaßt habe und das mir längst völlig fremd geworden, und von Freunden und Kollegen an mich gerichtete Briefe, deren Inhalt mir nicht mehr ganz verständlich ist. Ich stoße auf Namen, die ich vergessen hatte, auf Manuscripte, deren Schriftzüge mich allein daran erinnern, daß ich deren Verfasser 133 sei, auf Zeitungsausschnitte, bei denen mir nicht einfallen will, weshalb sie da aufbewahrt liegen, auf Verse und Prosa, die meinen Namen tragen, an dem allein ich erkenne, daß sie von mir herrühren. Alle diese Briefe habe ich einst mit Interesse gelesen und hoffentlich auch beantwortet, heute bieten sie mir eine fast neue Lektüre; alle diese gedruckten und ungedruckten Kleinigkeiten habe ich einst mit Eifer geschrieben, heute lese ich sie, als seien sie von einem mir Unbekannten verfaßt. Ich finde einen Beitrag mit meinem Namen in einer Zeitung, die schon vor mehreren Jahrzehnten spurlos verschwunden ist, und wenn ich den Artikel lese, so kostet es mich Mühe, das Interesse zu begreifen, das mir einst der darin verarbeitete, längst absolut gleichgültig gewordene Stoff eingeflößt hat. Das Ganze ein unerschöpflich scheinendes Material zum Feueranmachen für mehrere lange Winter. Und jeder einzelne Brief, jedes Quartblatt Manuscript und jeder Fetzen aus einer Zeitung sagt uns laut und vernehmlich, daß wir den Lebensabend erreicht haben, und gegen diese eindringliche Stimme kann keine freundliche Phrase von bewahrter Frische und vom Nichtaltwerden aufkommen.

Da fällt mir ein Briefchen von Eduard Maria Oettinger in die Hand. Er war damals eine Berühmtheit, die die heutige Generation kaum noch kennt. Auch seine Art des Witzes kennt man nicht 134 mehr. Er hat eine Anzahl humoristischer Blätter herausgegeben und wieder eingehen lassen, unter denen der»Charivari« sehr verbreitet war, er schrieb eine lange Reihe von Romanen, Novellen und Lustspielen, er besaß eine beängstigende Fähigkeit, bibliographische Werke zu schaffen, kurz, er war einer der fruchtbarsten Schriftsteller, welche die Literaturgeschichte zu nennen weiß. Man kann sich denken, als welche Auszeichnung ich es betrachtete, als er mich in sein Hôtel einlud. Zwei Jahre vor meiner Geburt, im Jahre 1829, hatte er in Berlin den humoristisch-satirischen »Eulenspiegel« herausgegeben, ich verehrte also in ihm den Nestor der heiteren Journalistik und war wie betäubt von seinem Verlangen, mich kennen zu lernen. Er empfing mich sehr gnädig und trieb seine Herablassung so weit, daß er sich in meiner Gegenwart nicht nur entkleidete, sondern mich auch bei dieser Gelegenheit die dünnsten Beine sehen ließ, welche ich bisher gesehen hatte. Kaum begriff ich, wie er denselben zumuthen konnte, seinen Körper, den eines 55jährigen Mannes, zu tragen. Sie bewiesen, daß der Humor die Corpulenz nicht aufkommen ließ. Er stellte mir eine merkwürdige Aufgabe, die zu erfüllen ich für eine ehrenvolle Pflicht hielt. Ich sollte in meinem Blatte einen offenen Brief an ihn richten, in welchem ich ihn um Alles in der Welt bat, sein Schweigen endlich zu brechen und wieder von sich 135 hören zu lassen, ihm Vorwürfe machend, daß er, der noch so geistesfrische Führer der humoristischen Literatur in Deutschland, auf seinen Lorbeeren ausruhe. Zum Dank wollte er dem ungestümen Drängen nachgeben und mit einem Artikel in den »Wespen« wieder auf der Bildfläche erscheinen. Die nächste Nummer meines Blattes brachte denn auch meinen »Literarischen Brandbrief an den Veteranen des Humors und der Satire Eduard Maria Oettinger«, den ich mit unbeschreiblichem Stolz verfaßt hatte. Dann reiste Oettinger ab, und ich habe niemals wieder ein Sterbenswörtchen von ihm gehört. Ich erinnerte ihn höflich an sein Versprechen. Keine Antwort. Ich bat ihn dringend. Keine Antwort. Neun Jahre später starb er in Blasewitz, und ich habe nie erfahren, was er von mir gewollt hat.

Etwas früher, im December 1862, war der unter dem Namen Graf von und zu Dattenberg bekannt gewordene Champagnerfabrikant Boom nach Hamburg gekommen, einer der originellsten Käuze, die ich unter den originellen Käuzen gefunden habe. Dann und wann hat er als Prinz Carneval den Kölner Carneval regiert, hat aber eigentlich an keinem Tag seines langen Lebens diese Würde abgelegt, und jedenfalls gebührt ihm ein Blatt in der Geschichte des Grotesk-Komischen. Er hatte sich den Titel eines Grafen von und zu Dattenberg verliehen und war auch in weiten Kreisen 136 nur unter diesem Namen bekannt. Diese Grafenrolle führte er mit großer Virtuosität und großen Kosten durch. Er schien durch seine Erscheinung und Haltung für sie geschaffen und opferte ihr Zeit und Geld. Er war ein Münchhausen, aber ein glaubwürdiger, und bei allem Ernst, mit dem er als ein gewissenhafter Geschäftsmann wirthschaftete, ein Schalk ohne Gleichen, vielleicht der Letzte dieser Gilde, seit die ernsthaft gewordene Welt keinen Raum mehr für die Originale hat. Damals kam eine Erscheinung wie Boom zu voller Geltung, man störte sie nicht, man glaubte an sie, man unterstützte sie in ihren harmlosen Extravaganzen, und man amüsirte sich mit ihr. Der falsche Graf war nicht nur in der rheinischen Residenz des Prinzen Carneval populär, halb Europa kannte ihn und seine tollen Späße, welche, und das muß ihnen zum Lobe nachgesagt werden, niemals irgend Jemand kränkten oder schädigten, denn sie wurden immer mit einer gewissen Würde ausgeführt, die jede Ausschreitung sorgfältig zu vermeiden wußte.

Boom war also im December 1862 nach Hamburg gekommen und im Hôtel de l'Europe abgestiegen. Gleich nach seiner Ankunft verbreitete sich das Gerücht, der Vicekönig von Aegypten sei eingetroffen. Wie von Boom ein sensationelles Gerücht dieser Art verbreitet wurde, das war sein Geheimniß. Das 137 Gerücht tauchte so auf, daß es von Jedem geglaubt wurde. Dann und wann war auf dem Balkon des genannten Hôtels ein würdiger, ernster Mann erschienen, dessen Fez die Augen der Vorübergehenden auf sich zog. Der würdige, ernste Mann ging mehrmals sinnend auf und ab und verschwand dann wieder in das Innere des Salons. Aber während des ganzen Tags wichen die Neugierigen nicht von dem Hôtel an der Alster, und als nun der frühe Abend erschien und in dem hellerleuchteten Balkonzimmer in der ersten Etage mehrere den Fez tragende Herren sichtbar wurden, da war die Straße bald überfüllt und nicht mehr zu passiren. Der Wagenverkehr wurde gänzlich unterbrochen, und als nun gar ein Trompetercorps erschien und dem hohen Gast ein Ständchen brachte, wurde der Aufenthalt in der immer dichter werdenden Menge geradezu lebensgefährlich. Kaum war nun der letzte Ständchenton verhallt, als sich die Thür des Balkons öffnete und der würdige, ernste Gast erschien und mit der Hand ein Zeichen gab, daß er sprechen wolle. Ein donnerndes Hurrah hatte die Luft erschüttert, dann trat tiefe Stille ein, und nun sprach der hohe Herr den Hamburgern seinen Dank aus für den seinem Herzen wohlthuenden schönen Empfang. Er versicherte die Bürger der geliebten Hansestadt seiner unveränderlichen Sympathie und bat nur noch um einen Augenblick Ruhe, da er ein 138 Gebet um das Wohl der Stadt Hamburg an den Propheten richten wolle. Es war ein feierlicher Moment, als nun der Herrscher sich gen Osten wendete und, die gekreuzten Arme an die Brust drückend und sich tief verneigend, etwas murmelte, was Niemand verstand, am allerwenigsten der Sprecher. Dann noch eine Verbeugung vor dem Publikum, das in ein brausendes Hurrah ausbrach, und hochaufgerichtet trat der Vicekönig in das Zimmer zurück, jubelnd von einigen mit dem Fez bedeckten Freunden, welche seinen Hof bildeten, empfangen. Lange noch stand die Menge vor dem Hôtel, bis sie von der schärfer werdenden Decemberkälte vertrieben wurde. Die Zeitungen meldeten (man hatte es noch nicht so eilig wie heute) zwei Tage später, welch einen hohen exotischen Gast die freie Stadt beherberge, und ich wartete die Abreise Boom's ab, um in einem in Nr. 12 der »Wespen« veröffentlichten Liede den Spaß zu verrathen, den sich der »Vicekönig« erlaubt hatte.

Allmälig wurde mir Hamburg doch etwas zu eng, denn Preußen, dem ich, wie ich erzählt habe, mehrere Monat Gefängniß schuldig geworden war, wuchs immer dichter an meine Vaterstadt heran. Schleswig-Holstein und Hannover waren preußisch geworden, und so trennten mich von meinem mächtigen Gläubiger nur einerseits die Vorstadt St. Pauli und anderseits die Elbe. Ich durfte die Stadt nicht 139 verlassen, wenn ich nicht auf dem direktesten Wege in eine lange Haft geschoben werden wollte. Ich wußte, daß die Polizei, was nicht hübsch, aber ihres Amtes war, auf irgend eine von mir begangene Unvorsichtigkeit wartete, um mich zu erwischen. Zum Glück hatte ich Freunde, welche mich täglich warnten, eine Dummheit zu begehen. Zu einer solchen fehlte es nicht an allerlei lockenden Aufforderungen, die mich zu verführen suchten, nach Altona oder Harburg zu fahren, ich wäre unzweifelhaft in die Arme liebenswürdiger Beamten gelaufen, die mich entführt und obenein ausgelacht hätten. Es war aber gar nicht leicht, keine Unvorsichtigkeit zu begehen, denn die Versuche, mich zu einer Spritzfahrt auf preußisches Gebiet zu veranlassen, traten dann und wann in so unverdächtiger Form an mich heran, daß es wirklich schwer war, ihnen zu widerstehen. Natürlich erschien mir auch manche freundliche Einladung, deren Absender nicht wußte, daß ich Hamburg nicht verlassen durfte, ganz ohne jeden Grund als eine hinterlistige, und ich verletzte durch meine mit irgend einer versteckten Malice gespickte Ablehnung nicht Wenige, die mich in Folge dessen für verrückt hielten. So antwortete ich einmal auf eine Einladung nach Altona zu einem Plauderstündchen mit der Versicherung, ich hätte zu einem Plauderstündchen von fünf Monaten Dauer keine Zeit, und der harmlose Gastgeber erkundigte sich ganz 140 erschrocken bei meinen Freunden nach meinem Gesundheitszustand, der ihm sehr bedenklich erschien.

So lebte ich in einem offenen Gefängniß, aus dem ich nur entschlüpfen konnte, um in eine Falle zu gerathen. Das war keine angenehme Situation, und diese Situation hatte noch die diabolische Eigenschaft, mich zu reizen, sie durch einen abenteuerlichen Bannbruch zu verschlimmern. Ich hatte immer das Begehren, die Grenze zu überschreiten und mich unter den Augen derer, die mit einem Haftbefehl auf mich lauerten, aufzuhalten und diesen Herren dann, wenn ich wieder in Sicherheit war, durch mein Blatt mitzutheilen, wie es mir in ihrer Nähe gefallen habe. Es fand sich dann, wie gesagt, immer ein vernünftiger Freund, der mich auf die Verrücktheit meiner Absicht aufmerksam machte und mir in der überzeugendsten Weise vorstellte, um wie viel stärker als ich die Großmacht Preußen sei. Nach einigem Nachdenken sah ich das auch ein, und ich habe mich nicht entschlossen, mich mit dem damals gerade seine ganze Kraft entwickelnden preußischen Staat auf einen Zweikampf einzulassen. Glücklicherweise erschien dann die Amnestie von 1866 und damit war jede Gefahr, mich muthwillig ins Märtyrerthum zu stürzen, beseitigt. In einem lustigen Leitgedicht lud ich das Perleberger Gericht, um mich für dessen nun drei Jahre alte Einladung zu revanchiren, zu einer Flasche Sekt in das 141 Redaktionsbureau der »Wespen«. Das war in der Nummer vom 29. September 1866. Mit der Amnestie gewann ich die freie Bewegung wieder, verlor aber gleichzeitig die Würde eines in Preußen Verurtheilten. Das war damals in Hamburg keine Kleinigkeit. Preußen und das Bismarck'sche Regiment hatten in Hamburg keinen Freund. Regierung, Presse und Bevölkerung bildeten eine dreieinige Opposition. Hamburg, stolz auf seine Größe und Unabhängigkeit, war durch das überwältigende Anwachsen der preußischen Herrschaft in die größte Unruhe versetzt und fürchtete, deren Appetit zu erregen, oder schon erregt zu haben. Heute ist das anders geworden. Hamburg verehrt in Preußen den Schöpfer Deutschlands und in Bismarck einen Heiligen. Die Zeiten ändern sich.

Als ich im December 1867 Hamburg verließ, galt mein letzter Besuch meinem Verleger und lieben Freund Otto Meißner, dessen Verlag dem Fortschritt und der Demokratie große Dienste geleistet hat. »Also Sie wollen nun, wie ich höre, in die Höhle des Löwen gehen?« fragte mich ein im Laden anwesender Großkaufmann, indem er mich mit strengen Blicken maß.

»In die Höhle des Löwen nicht«, antwortete ich berichtigend, »aber ich will nach Berlin.«

»Na, meinetwegen«, rief er mir wüthend entgegen, »aber Sie können in Berlin bestellen, uns kriegen sie nur als Trümmerhaufen!«

142 Dann verließ er den Laden. In welcher Weise ich die Bestellung ausrichten sollte, hat er mir nicht gesagt. Als aber eines Tages Kaiser Wilhelm I. Hamburg besuchte, wurde er von unbeschreiblichem Jubel begrüßt, und die reiche Stadt hatte in ihrer angeborenen Noblesse ein Festgewand angelegt, das unvergleichlich glänzend war. So sah der Trümmerhaufen aus, und ohne Zweifel hat der energische Herr, der diesen Trümmerhaufen in Aussicht gestellt hatte, sein Haus zu Ehren der Anwesenheit des Kaisers so illuminirt, wie es ihm seine gutkaiserliche Gesinnung geboten hat und seine reichen Mittel gestatteten.

Auch einer und zwar einzigen Reise, die ich, längere Zeit bevor ich für immer von Hamburg Abschied nahm, »gethan« habe, möchte ich noch gedenken. Es war eigentlich gar keine Reise, sondern ein Ausflug, aber vor dreißig Jahren war das Reisen nicht so wie heute allgemein, nicht so eingerissen, nicht Modesache, und was heute überhaupt nicht als Reise, sondern als Ausflug und Spritzfahrt gilt, wurde damals Reise genannt. Ich reiste nach Lübeck, Emanuel Geibel zu besuchen. Geibel zeichnete mich durch seine Freundschaft aus, es war mein sehnlichster Wunsch, ihn wiederzusehen, und endlich hatte ich so viel Zeit und überflüssiges Geld, die Wallfahrt anzutreten. Das war ein glücklicher Julitag. Geibel wurde von Allen, die ihn kannten, geliebt, 143 angebetet. Heute freilich hört die Jugend dieses Geständniß mit mitleidigem Achselzucken an, sie ist ja, wie sie meint, über Geibel hinweggeschritten zu größeren, weil realistischen Poeten. Ich fand den Dichter in seinem Arbeitszimmer, einer echten Dichterwerkstatt, in der es sich bequem unsterblich sein ließ. Das Ganze schien von einem geschickten Regisseur in Scene gesetzt, und doch sah man den Einzelheiten an, daß hier nichts mit Absicht genial arrangirt war, daß in diesem Zimmer sehr fleißig gearbeitet wurde und die Bücher und Mappen wenig Ruhe hatten. Von der Wand blickten das freundlich-ernste, von Kaulbach gemalte Portrait und die Marmorbüste auf das nun etwas über 50 Jahre alte Original nieder, und auf dem Schreibtisch herrschte die scheinbar unentwirrbare Unordnung, wie sie auf den Schreibtischen fleißiger Menschen gefunden zu werden pflegt, eine Unordnung, in der sie alles so rasch zu finden wissen, wenn die Hausfrau nicht eben die unglückselige Idee, aufzuräumen, zur Ausführung gebracht hat. Geibel empfing mich mit berückender Herzlichkeit. Freilich war er damals ganz von den politischen Tagesfragen erfüllt, und man merkte seiner Unterhaltung nicht den Poeten an, welcher der Süßen so hinreißend zusingen konnte: »Ich habe dich lieb und grüße dich tausend, tausendmal!« Töne, welche die Mädchenherzen in großen Schwärmen angelockt 144 hatten. Von den Ereignissen, die sich zur Errichtung der deutschen Einheit vorbereiteten, war er, der sein Vaterland und die Freiheit über Alles liebte, ganz erfüllt, und er erholte sich gewissermaßen von seiner »Wacht am still von Liebe glühenden Herzen«, indem er seinen Pegasus in eine politische Richtung lenkte. Er wußte mir viel hierüber zu sagen und gab mir auch eines seiner politischen Gedichte für meine »Wespen«, was mich derart beglückte, daß ich etliche Minuten brauchte, um zu mir zu kommen und ihm meinen Dank abzustatten. Ein Gedicht in den »Wespen« mit der Unterschrift »Emanuel Geibel«! Das erschien mir als ein so außerordentliches Ereigniß, daß ich dem Manuskript nicht traute, welches ich in der Hand hielt. Abends saßen wir dann bis spät in die Nacht im Lübecker Rathskeller am Störtebeckertisch und tranken wacker. Geibel war ein trinkbarer Mann, obschon ihm der Genuß durch sein schmerzhaftes Leiden verbittert wurde. Wenn er an die Folgen des Trinkens dachte, das er doch nicht missen wollte, so holte er irgend eine Medicin hervor, mit der er diese Folgen zu mildern hoffte, und trank das schlechtschmeckende Zeugs, ohne welches er auf Befehl des Arztes nicht hinter der Flasche sitzen durfte, zwischen einem Glas und dem andern. Dabei klagte er dann sehr, und einmal sagte er zu mir: »Wenn ich nur wüßte, was ich dem lieben Gott gethan habe, 145 daß er mir dieses Leiden geschickt hat und nicht daran zu denken scheint, mich zu begnadigen!« Und dann tranken wir lustig weiter, er dachte nicht mehr an die Medicin, und in seiner schnell wiederhergestellten guten Laune schien er mehr der heitere Sänger, welcher vom lustigen Musikanten, der am Nil marschirte, zu singen gewußt hatte, als der ernste Poet zu sein, der so wunderbar rührte und begeisterte. Es waren anregende Stunden, die ich am Störtebeckertisch im Lübecker Rathskeller verbrachte, und als wir uns endlich erhoben, war ich doppelt selig, denn außer dem Wein im Kopf hatte ich das Gedicht Geibels in der Tasche.

Am anderen Tage machte ich einen Abstecher nach Travemünde. In diesem kleinen Seebade wurde noch gespielt, und zwar schoß daselbst eine kleine schäbige Roulettehexe mit ihrer Kugel, genau wie eine große in den Weltbädern, den Gästen das Geld aus der Tasche. Und als ich nun einem Freunde die Verse zeigte, die mir aus dem Geibel'schen Schatz für mein Blatt zugeflossen waren, da behauptete der, das Glück lächle mir, und ich müsse das nun als einen Wink des Schicksals, es zu versuchen, betrachten und spielen. Dies leuchtete mir ein, ich spielte und verlor Alles, was ich in der Tasche hatte. Es war nicht viel, aber, wie gesagt, Alles. Und als ich dann nach Lübeck zurückkehrte, da wurde mir 146 der Orakelspruch in seiner ganzen Zweizüngigkeit klar. Denn im Hotel fand ich einen Brief Geibel's, welcher in den bekannten großen und klaren Schriftzügen lautete: »Lieber Stettenheim! Soeben erhalte ich Nachrichten aus München, die mich dringend wünschen lassen, daß das Ihnen gestern mitgetheilte Gedicht diesen Augenblick nicht abgedruckt werde. Sie verzeihen daher, wenn ich um freundliche Rücksendung bitte; ich werde meine Treulosigkeit bei nächster Gelegenheit gut zu machen suchen. Herzlich grüßend der Ihrige Geibel. Breite Straße 801, d. 8. Jul. 66.«

Geibel hat das, was er seine Treulosigkeit nannte, dadurch gut gemacht, daß er mir ein Exemplar seiner Gedichte und seiner Brunhild dedicirte, fünf Bände, welche einen der Schätze meiner Bibliothek bilden.

Noch anderthalb Jahre blieb ich in Hamburg, ohne nennenswerthen Erfolg fleißig arbeitend. Allmälig freilich verlor ich die Geduld, obschon ich, sie festzuhalten, eine so große Praxis hatte. Da, im richtigen Moment, im December 1867, erschien ein Berliner Brief von den Herren Bernhard Brigl und Albert Hofmann, den Verlegern, welche die »Tribüne« gekauft hatten und beabsichtigten, derselben die »Wespen« als Gratisbeilage anzufügen. Ich war rasch entschlossen, so schwer mir die Trennung von meiner Vaterstadt wurde, an der ich mit ganzer 147 Seele hing. Ich rede mir nicht ein, ein Prophet zu sein, obschon ich in meiner Heimath niemals etwas gegolten habe, aber als es mit dem Abschied Ernst wurde, als ich mein Köfferchen gepackt hatte und nun von den Freunden mich entfernte, welche sich zu einem tüchtigen Lebewohltrunk um mich versammelt hatten, da war mir doch unendlich weh um's Herz. Ich weinte wie ein Knabe und war doch Gatte und Vater, – der Heimath sind wir Kinder und bleiben wir es auch, so alt wir werden.

Am nächsten Tage fuhr ich nach Berlin, von den Herren Brigl und Hofmann mit großer Liebenswürdigkeit empfangen. Hofmann hatte mir mit seiner unvergleichlich aufmunternden Laune geschrieben: »Ich verspreche Ihnen keine Schwefelhölzer von Jacarandaholz, aber ein gutes Honorar und den verlangten Vorschuß.« Letzteren brauchte ich dringend. Wer niemals einen Vorschuß brauchte und erhalten hat, kann den Segen eines solchen nicht würdigen, die Melodie des Wortes nicht entzückend finden, wie ich. Ich bin überzeugt, daß das Getriebe der Welt außer durch Hunger und durch Liebe namentlich durch Vorschuß zusammengehalten wird. Vorschuß ist Vertrauen, Förderung, Nächstenliebe, Rettung, ihm verdankt die Menschheit große Entdeckungen, segensreiche Erfindungen, Erhaltung vieler Menschen und Kräfte. Ich habe meinen Wippchen, von dem ich noch 148 sprechen werde, mit der Sehnsucht nach dem Vorschuß erfüllt, nicht allein, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Phantasie zur Auffindung immer neuer Motive in Bewegung zu setzen, sondern um ihm etwas Unschätzbares auf seine journalistische Laufbahn mitzugeben.

In Herrn Bernhard Brigl lernte ich den intelligentesten und tapfersten Zeitungsgründer und Verleger kennen, den nach meiner Ueberzeugung die deutsche Zeitungswelt aufzuweisen hat.

So war ich denn in Berlin. Ich fand gleich viel zu thun. Ich hatte in der zweiten Hälfte des December drei Witzblätter zu schreiben: die letzten Nummern der »Wespen« für Hamburg und den »Pipifax«, der bei der »Tribüne« erschien, sowie die erste Nummer der neuen »Wespen«, deren erste Nummer am 5. Januar 1868 an die Stelle des »Pipifax« treten sollte. Ich merkte gleich, daß ich nicht um auszuruhen nach Berlin gekommen war, und habe auch niemals Gelegenheit gefunden, mir Ruhe zu gönnen. Niemals habe ich das Faulenzen kennen gelernt. Das erhält frisch.


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