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›Ich werde den alten Erzähler Bandello, Bischof von Agen, nachahmen, der eine Sünde zu begehen vermeinte, wenn er in seinen Geschichten wahrhaftige Umstände wegließ oder neue hinzu erfand.‹
Dieses gegen das Ende der Niederschrift der ›Kartause von Parma‹ am 23. Januar 1839 (also an Beyles sechsundfünfzigstem Geburtstage) zu Papier gebrachte Programm hat der Dichter getreuestens eingehalten. Der Roman birgt eine Menge eigener Erlebnisse und Erinnerungen, dazu eine Anzahl von Motiven, die Stendhal alten Chroniken des Cinquecento und Secento entnommen hat. So hat vor allem der Held der Erzählung, Fabrizzio del Dongo, sein Urbild in Alexander Farnese, dem nachmaligen Papst Paul III. (1534-1549).
Im Jahre 1832 hatte Beyle in Rom Abschriften aus damals unbekannten alten Handschriften machen lassen, die dreizehn Foliobände füllen. Sie sind später (1851) aus seinem Nachlasse von der Pariser Nationalbibliothek angekauft worden. In einem dieser Folianten findet sich ein Bericht: ›Aus der Jugend des Papstes Paul III.‹ Ganz wie Fabrizzio in der ›Kartause von Parma‹ gerät der junge Farnese, als er Ausgrabungen bei Rom beaufsichtigt, wegen einer hübschen Frau mit deren Begleiter in Händel und ersticht ihn im Kampfe. Daraufhin kommt er in Haft in die Engelsburg, ganz wie Fabrizzio in die Torre Farnese, die übrigens nichts ist als das von Rom nach Parma verlegte Castello Sant' Angelo. Und ganz wie der künftige Papst entkommt Fabrizzio, der künftige Erzbischof, mit Hilfe eines langen Seiles (das im Falle Farnese an die neunzig Meter lang gewesen sein soll) in kühnster Weise aus dem Kerker.
Alessandro Farnese (geboren 1468) war der Enkel von Ranuccio Farnese, einem berühmten General, und der Sohn von Pier Luigi Farnese. Eine jüngere Schwester von Alessandro war Julia Farnese, die um 1489 die Geliebte des Kardinals Roderigo Borgia, des nachmaligen Papstes Alexander VI. (1492–1503), wurde, auf den wir in der Folge zu sprechen kommen.
In der gleichen Zeit lebte das Urbild der Hauptgestalt in der ›Kartause von Parma‹, die Duchezza Gina di Sanseverina: Giovanna Catanei, genannt Vannozza, eine Römerin, geboren im Juli 1442, gestorben in Rom am 26. November 1518, begraben in der Santa Maria del Popolo. In der besagten alten Chronik wird von ihr erzählt: ›Vannozza kam oft vom Lande zu Besuch nach Rom, wo sie im Hause ihres Bruders oder ihrer Schwester weilte. Sie nahm zu an Schönheit und Anmut und ward bald zum Wunder der Hauptstadt der Welt und zum Anlaß des erstaunlichen Glückes ihrer Familie. Keine Frau, weder aus dem Adel noch aus dem Bürgerstande noch aus der ungeheueren Schar der vornehmen Buhlerinnen, deren Schönheit und Reichtum die Bewunderung der Fremden erregte, konnte den Vergleich mit Vannozza im geringsten aushalten. Und selbst wenn sie nichts von dieser göttlichen Schönheit besessen hätte, die so ruhig, so edel, so hinreißend war und die sie so manches Jahr hindurch, ja, man kann ohne Übertreibung sagen, bis zum Augenblicke ihres Todes, zur Königin Roms machte, so wäre sie doch eine der gesuchtesten Frauen gewesen wegen des liebreizenden Vulkans von neuen und glänzenden Gedanken, die ihr die fruchtbarste und fröhlichste Einbildung lieferte, die es je gegeben.
Vannozza war eine der vielen Geliebten des bereits genannten Kardinals Roderigo Borgia, des berühmtesten aller Genußmenschen, eines ›großen Mannes, der die am wenigsten mißlungene Inkarnation des Teufels auf Erden gewesen ist‹, um Worte Stendhals (Promenades dans Rome II, 192) anzuwenden. Vannozza ist die Mutter des Cesare und der Lucrezia Borgia. Über ihren Charakter, ihr Leben und ihre Leidenschaften unterrichtet uns das bekannte Buch ›Lucrezia Borgia‹ (1874) von Ferdinand Gregorovius. Ihre Liebschaft mit Roderigo endete, als sie vierzig Jahre alt war.
Jenen Chroniken ist fernerhin die Episode der Fausta (S. 262 ff.) in ihren Grundzügen entnommen. Dort trägt diese den Namen Anna Brocchi. Die Geschichte widerfährt dem verliebten Kardinal Pietro Aldobrandini, unter dem Pontifikat von Klemens VIII. (1592-1605). Der Liebhaber hieß Girolamo Langobardi. Einige Stellen aus dem alten Bericht findet man im Anhange, in den Anmerkungen zu Seite 262 ff. Der Vergleich beleuchtet Stendhals Arbeitsweise auf das anschaulichste.
Eine vierte Gestalt des Romans, der Dichter und Rebell Ferrante Palla (S. 435 ff.), hat seinen geschichtlichen Vorgänger in dem 1644 in Avignon enthaupteten unglücklichen Verfasser politischer Romane Ferrante Pallavicini aus Piacenza. Alle diese Menschen längst vergangener Tage hat Stendhal in das neunzehnte Jahrhundert versetzt. Es hängt ihnen noch so mancherlei aus ihrem Vorleben an. Im Zusammenhang damit erscheint einem der im Roman geschilderte Fürstenmord (S. 489) mit allen seinen Motiven und Umständen als Anachronismus, wenngleich das Italien des vergangenen Jahrhunderts an Fürstenmördern nicht arm war. Hier erlebt der wilde Fanatismus der Florentiner des Mittelalters, die im Tyrannenmord ein offen eingestandenes Ideal erblickten, eine merkwürdige dichterische Nachblüte.
Nicht minder als die Gestalten sind die Schauplätze der ›Kartause von Parma‹ nach der Natur studiert. Sie wechseln vielfach. Die Geschehnisse spielen sich auf den Eingangsseiten in Mailand von 1800 bis 1814 ab, sodann am Comer See, in Paris, bei Maubeuge, im Schlachtgelände bei Waterloo (im Juni 1815), in Zoonders (wohl ein erfundener Name für ein flämisches Städtchen), in Genf und Lugano, wiederum am Comer See (in Grianta Stendhal nennt den Ort Grianta und hat dabei die längst verfallene Burg Rocca di Musso, nahe dem Orte Dongo am Westufer des Comer Sees, im Sinne. Diese ehedem trotzige Feste hatte der Marschall Trivulzio erbaut. (Vgl. Anmerkung zu S. 211 f.) Stendhal verlegt aber offenbar sein imaginäres Grianta in die Tremezzina, oberhalb Cadenabbia, wo es ein Dorf Griante gibt.), dann in Como, in Mailand, auf einem Landgute in der Nähe von Romagnano (bei Novara), in Parma, Neapel, Bologna, in Casalmaggiore (am Po), in Ferrara, auf dem Gute Sacca (bei Colorno), im Gebirge bei Florenz, in der Torre FarneseDie Zitadelle (Castello) von Parma. Papst Paul III. ernannte 1545 seinen Sohn Pier Luigi Farnese zum Herzog von Parma und Piacenza. Am berühmtesten ist sein Nachkomme, der Feldherr Alessandro Farnese il Grande (gestorben 1592 an einer Kugelwunde), dessen Reiterdenkmal in Piacenza steht. Der letzte Farnese in Parma (Antonio) starb 1731., in der Burg Velleia, in Castelnuovo, in Locarno und schließlich in der Certosa do Parma. Alle diese vielen Orte kannte Beyle aus eigener Anschauung. Italien, seine Landschaft wie seine Städtebilder, waren dem Milanesen Beyle nichts Fremdes, hatte er doch von 1800 bis 1802, von 1814 bis 1821 und von 1831 bis 1836, also insgesamt anderthalb Jahrzehnte seines Lebens, südlich der Alpen verbracht. Ähnlich wie die Engelsburg in der Torre Farnese geschildert ist, hat auch die Certosa di Pavia in die Nähe von Parma rücken müssen.Die nicht ›in waldreicher Gegend am Po, zwei Meilen von Sacca entfernt‹, sondern in der Ebene vor der Stadt, nahe der antiken Via Emilia und dem Triumphbogen Aldobrandinis liegende Certosa di Parma (heute eine Strafanstalt) hat Stendhal kaum gekannt und sicherlich nicht im Sinne gehabt. Alle anderen Orte sind ohne Transpositionen nach der Wirklichkeit gezeichnet.
Das Schlachtfeld von Waterloo (südlich von Brüssel) hat Beyle im Juli 1838 besucht und eingehend studiert. Zweifellos ist das im Roman geschilderte Gelände im einzelnen an Ort und Stelle auffindbar.
Die Waterloo-Episode in der ›Kartause von Parma‹ gehört zu dem Berühmtesten, was Stendhal geschrieben hat.
Mit Recht hat Tolstoi gesagt: ›Ich bin Stendhal wie kaum irgendwem verpflichtet: ich verdanke ihm die Kenntnis des Krieges. Wer vor ihm hat den Krieg auf diese Weise geschildert, das heißt so, wie er wirklich ist? Man erinnere sich, wie Fabrizzio mitten durch die Schlacht von Waterloo reitet und nicht das geringste davon merkt und wie ihn die Husaren unversehens rückwärts über die Kruppe seines Pferdes, seines schönen Generalspferdes, herunterholen. Später, im Kaukasus, hat mir mein Bruder, der eher Offizier wurde als ich, den Realismus der Stendhalschen Schilderung bestätigt. Er schwärmte für den Krieg, wenn er auch nicht so naiv war, an die Szene auf der Brücke von Arcole zu glauben. Alles das, sagte er mir, ist buntes Beiwerk; im Kriege gibt es derlei nicht! Bald darauf, in der Krim, habe ich das mit eigenen Augen beobachtet. Und ich wiederhole es: in allem, was ich vom Kriege weiß, war mein erster Lehrer Stendhal.‹
Beyle ist nicht Augenzeuge der Schlacht bei Waterloo und Belle-Alliance gewesen. Er gibt die Eindrücke und Zustände wieder, die er in den großen Schlachten bei Wagram und bei Borodino, in den vielen Gefechten auf dem Rückzug aus Rußland und während des Feldzuges 1813 in Sachsen persönlich erlebt hat. Wir besitzen ein paar Tagebuchblätter, die er beim Kanonendonner während der Schlacht bei Bautzen hingekritzelt hat. Es heißt da: ›Von Mittag bis drei Uhr nachmittags sahen wir alles, was man von einer Schlacht sehen kann, das heißt: nichts. Der Genuß liegt in der Aufregung, die einem das Bewußtsein erweckt, daß sich um uns etwas abspielt, von dem man weiß, es ist schrecklich. Der majestätische Kanonendonner verstärkt die Wirkung. Er paßt vortrefflich zum ganzen Eindruck. Wenn die Geschütze ein scharfes, pfeifendes Geräusch hervorbrächten, so würde es einen wohl nicht so ergreifen. Ich habe das Gefühl, ein pfeifendes Geräusch wäre grausig, aber niemals so schön wie der rollende Kanonendonner.‹
Die Niederschrift der ›Kartause von Parma‹ ist in die Monate August 1838 bis März 1839 zu setzen. Beyles Briefe aus dieser Zeit verraten nichts über dieses Werk. Im Buche selbst deutet eine unverständliche Anmerkung (am Schlusse von Kapitel 3) auf die Entstehungszeit: ›Para v.P.y.E.15.X.38‹. Und am 21. März 1839 schreibt Stendhal seiner Freundin Giulia Gaulthier: ›Ich habe noch keine Zeit gehabt, mich bei jener mutigen Frau (der Gräfin Tascher) einzufinden, die ich aus tiefstem Herzen bewundere. Mir brennt es sozusagen auf den Nägeln. Das will sagen: ich komme vor acht Uhr abends nicht zum Essen, und um Mitternacht nehme ich die Arbeit wieder auf, bis drei Uhr morgens. Aber am Dienstag (den 26.) werde ich erlöst sein!‹
Beyle arbeitete damals fünfzehn Stunden am Tage; Es kam ihm darauf an, den Roman vor seiner drohenden Wiederabreise nach Civitavecchia zu vollenden und dem Drück zu übergeben.
Wertvolle Aufschlüsse enthält Beyles berühmter Brief an Honoré de Balzac vom 30. Oktober 1840. Er hatte dem ›Könige der Romandichter unseres Jahrhunderts‹ (wie er ihn im Begleitbriefchen nennt) ein Exemplar der ›Kartause‹ am 17. Mai 1839 übersandt, am gleichen Tage, da er im ›Constitutionnel‹ die Episode von Waterloo als Kostprobe seines Werkes veröffentlichte. Balzac antwortete drei Tage darauf mit Worten aufrichtiger Bewunderung, und am 6. April des nächsten Jahres versichert er Beyle, die ›Kartause‹ sei ›ein großes, schönes Buch, wie er es nicht imstande sei zu schaffen‹. Im September 1840 erschien sodann der berühmte Essay Balzacs über die Chartreuse de Parme in der ›Revue Parisienne‹. In seinem Dankschreiben macht Beyle folgende Geständnisse:
›Ich muß Ihnen bekennen, daß ich seinerzeit bei der Niederschrift der ersten vierundfünfzig Seiten (der Erstausgabe) den lebhaftesten Genuß verspürt habe. Ich erzählte da von Dingen, die ich anbete, und ich habe dabei an nichts weniger gedacht als an die Kunst, einen Roman zu schreiben. Ich war des Glaubens, vor 1880 doch nicht gelesen zu werden. So weit hinaus verlegte ich die Autorfreuden. Irgendein Literaturschnüffler, so sagte ich mir, wird dermaleinst das Buch ausgraben, das Sie so seltsamer Weise überschätzen. Aber da Sie sich die Mühe gemacht haben, diesen Roman dreimal zu lesen, so hege ich die Absicht, bei unserer nächsten Begegnung auf dem Boulevard eine Menge Fragen an Sie zu richten:
1. Ist es statthaft, Fabrizzio ›unseren Helden‹ zu nennen? Ich wollte den Namen Fabrizzio nicht so häufig wiederholen.
2. Muß die Fausta-Episode gestrichen werden? Sie ist mir in der Niederschrift etwas breit geraten. Fabrizzio benutzt die erste beste Gelegenheit, der Duchezza zu zeigen, daß er der Liebe unfähig sei.
Jene vierundfünfzig Seiten sind mir wie eine anmutige Einleitung vorgekommen. Wie gesagt, es war mir eine zu große Freude, von den glücklichen Zeiten meiner Jugend zu plaudern. Als ich die Korrektur las, stiegen mir allerdings Bedenken auf, aber ich dachte an die so langweiligen ersten Kapitel bei Walter Scott und an den überlangen Anfang der göttlichen ›Prinzessin von Cleve‹ (der Madame de Lafayette).
Ich habe verschiedentliche Romanpläne entworfen; das kann ich nicht in Abrede stellen. Aber das Planmachen erstarrt mich. Gewöhnlich diktiere ich fünfundzwanzig bis dreißig Seiten. Wenn es dann Abend wird, habe ich das Bedürfnis nach etwas starker Ablenkung. Am anderen Morgen muß ich alles vergessen haben. Indem ich die letzten drei oder vier Seiten des Kapitels vom Tag zuvor wieder lese, fällt mir das neue Kapitel ein. Es ist mein Unglück hier (in Civitavecchia), daß mein Gehirn gar keine Anregung findet.
Ich verabscheue den geschraubten Stil (le style contourné), und ich will Ihnen gestehen, daß ein guter Teil der ›Kartause‹ nach dem ersten Diktat gedruckt worden ist. Ich habe insgesamt sechzig- bis siebzigmal diktiert. Die Ideen drängten mich. Das ganze Stück, das sich im Kerker abspielt, war mir abhanden gekommen, und ich war gezwungen, es ein zweites Mal zu machen. Aber was nützen Ihnen diese Einzelheiten?
Ich glaube, seit dem Untergange des Hofes, im Jahre 1792, schwindet das Gefühl für die (präzise) Form von Tag zu Tag mehr. Wenn Villemain, den ich als hervorragendsten Akademiker anführe, die ›Kartause von Parma‹ ins Französische übersetzen sollte, so brauchte er drei Bände, um auszudrücken, was in zweien vorliegt. Überschwang und Schwulst werden von der Masse der Schelme derart betrieben, daß man den deklamatorischen Stil alsbald hassen wird.
Als ich siebzehn Jahre alt war, hatte ich beinahe ein Duell wegen Chateaubriands ›Atala‹. Nie habe ich die ›Chaumière indienne‹ (von Bernardin de Saint-Pierre) gelesen. De Maistre kann ich nicht ausstehen. Meine Verachtung Laharpes geht bis zum Haß. Ohne Zweifel aus übertriebener Liebe zur Logik bin ich ein so schlechter Schriftsteller. Mein Homer sind die ›Denkwürdigkeiten‹ des Marschalls Gouvion-Saint-Cyr.Montesquieu und die ›Totengespräche‹ von Fontenelle halte ich für gut geschrieben. Es ist keine vierzehn Tage her, daß ich beim Wiederlesen von ›Aristonous‹ oder ›L'esclave d'Alcine‹ geweint habe. Abgesehen von Madame de Murdauff und ihrem Kreise, etlichen Romanen der George Sand und den in Zeitungen erschienenen Novellen von Soulié, habe ich von der schönen Literatur der letzten dreißig Jahre nichts gelesen. Oft lese ich Ariost, dessen Gesänge ich liebe. Die Duchezza (di Sanseverina) ist eine Kopie nach Correggio, womit ich sagen will, sie wirkt auf meine Seele genau so wie Correggio.
Während ich die ›Kartause‹ schrieb, habe ich jeden Morgen, um den Ton zu stimmen, zwei, drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch gelesen. Ich wollte immer natürlich sein. Ich will die Phantasie des Lesers nicht mit unechten Mitteln gewinnen. So ein armer Leser läßt zunächst alle hochtrabenden Floskeln über sich ergehen, zum Beispiel den ›Wind, der die Wogen entwurzelt‹; aber wenn die Spannung vorüber ist, wird er jene Redensarten nicht wieder los. Im Gegensatz dazu will ich, der Leser soll an die Gestalt des Grafen Mosca denken und nicht an irgendwelches Drum und Dran. Aber man soll seinem Arzt nichts verheimlichen. Oft überlege ich mir eine Viertelstunde lang, ob ich ein Eigenschaftswort vor oder hinter sein Hauptwort stelle. Ich suche mit Wahrheit und Klarheit zu erzählen, was in meinem Herzen vorgeht. Ich sehe nur auf ein Gesetz: Klar sein!
Ich will berichten, was sich im Seelengrunde Moscas, der Duchezza, der Clelia Conti abspielt. Das ist ein Gebiet, für das Parvenüs, Schulmeister, Bürokraten, Krämer und Spießbürger sowieso den rechten Blick nicht haben. Wenn ich so schwer faßbare Materien im verschwommenen Stile eines Villemain, einer George Sand usw. darstellen wollte – vorausgesetzt, daß ich das seltene Privileg besäße, so zu schreiben wie diese Koryphäen der schönen Form –, wenn ich also zu der psychologischen Schwierigkeit die Unklarheit dieses gepriesenen Stils gesellen wollte, so verstünde der Leser absolut nichts vom Konflikt zwischen der Duchezza und Serenissimus.
In fünfzig Jahren werden die schwülstig-eleganten Modedichter und Modeprosaisten langweilig wirken. Im Jahre 1880 wird man von der schönen Form übersättigt sein. Vielleicht wird man dann die ›Kartause‹ lesen. Ich wiederhole: sie ist wie das Bürgerliche Gesetzbuch geschrieben.
Sie haben sehr richtig herausgefunden, daß mein Roman keine der Großmächte karikiert, weder Frankreich noch Spanien noch Österreich. Dies erkennt man schon an gewissen administrativen Einzelheiten. Bleiben die Duodezfürsten in Deutschland und in Italien. Die Deutschen liegen vor Orden und Titeln auf den Knieen. Ich habe jahrelang unter ihnen gelebt. Meine Hauptgestalten sind keine Deutschen. Verfolgen Sie diesen Gedankengang weiter, und Sie werden finden, daß ich eine erloschene Dynastie im Sinne gehabt habe, etwa die der Farnese.
Ich nehme mir eine gut bekannte Person, lasse ihr die zur Gewohnheit gewordene individuelle Art in der Kunst, alle Morgen auf die Jagd nach dem Glück zu gehen, nur verleihe ich ihr mehr Geist. Rassi hat sein Urbild in einem Deutschen, mit dem ich zweihundertmal gesprochen habe. Das Urbild des Fürsten (Ernst IV.) habe ich während meines Aufenthalts in Saint-Cloud studiert, in den Jahren 1810 und 1811.‹
Man hat behauptet, Stendhal habe in seinem Serenissimus den Herzog Franz IV. von Modena gezeichnet und im Grafen Mosca den Grafen Saurau, den Statthalter der damals österreichischen Lombardei. Und ein gelehrter Stendhal-Forscher (der Professor Arthur Chuquet) hat im Anhange seiner Stendhal-Biographie sogar den Lebenslauf des Leutnants Robert beigebracht, dessen in Mailand getragene oder vielmehr abgetragene Stiefel unsterblich geworden sind. Allerdings hat der historische Robert nicht das Vergnügen gehabt, am Tage von Waterloo als General im Stabe des Fürsten von der Moskwa über das Schlachtfeld zu reiten.
Mosca hat seinen Ahnherrn deutlich in Machiavell; bereits Balzac hat dies erkannt, indem er in seinem erwähnten Essay schreibt: ›Wenn Machiavell dazu verdammt wäre, im Italien des neunzehnten Jahrhunderts zu leben, dann hätte er diesen Roman geschrieben.‹
An zahlreichen Stellen des Romans leuchten eigene Erlebnisse Beyles hindurch. Ein Beispiel: In seinem merkwürdigen selbstverfaßten ›Nekrolog‹ von 1837 sagt er: ›Gina hinderte mich, bei der Rückkehr Napoleons (am 1. März 1815), die ich am 6. März erfuhr, zu den Fahnen zu eilen.‹ Vermutlich meint er hier Gina (Angelina) Pietragrua, und man geht kaum fehl, wenn man in der so lebensprühenden Gestalt der Duchezza ein Denkmal erkennt, das der alternde Dichter jener nie vergessenen schönen Mailänderin gesetzt hat. Auf viele andere Reminiszenzen wird in den Anmerkungen aufmerksam gemacht, vor allem auch auf interessante Parallelen zwischen den Taten und Meinungen der Romangestalten und Stendhals Theorieen in seinem berühmten Buche ›Von der Liebe‹. Wie alle Bücher Beyles ist auch die ›Kartause‹ eine Konfession.
Stendhal mischt Dichtung und Wahrheit,wie es das Recht jedes Dichters ist. Er arbeitet nach Modellen, verändert sie aber nach Laune und Notwendigkeit. Es liegt ihm wenig daran, Porträts zu schaffen. Aber nicht allein Gestalten des Lebens und der Geschichte schweben ihm bei seinen Schöpfungen vor, auch solche aus Gemälden, die Eindruck auf ihn gemacht haben. So erwähnt er selber zweimal die ›Tochter der Herodias‹ von Lionardo da Vinci (richtiger: von Bernardino Luini). Recht glücklich nennt Barbey d'Aurevilly die Duchezza di Sanseverina die ›Mona Lisa der Literatur‹. Und ist die liebliche Clelia Conti nicht dem Rahmen eines Bildes von Correggio oder Guido Reni entstiegen?
Angeregt von einigen Ausstellungen, die Balzac gemacht hatte, entschloß sich Beyle zu einer Umarbeitung seiner ›Kartause‹. Er ließ sich im Herbst 1840 ein Exemplar des Romans mit Schreibpapier durchschießen und machte sich sodann an die Arbeit. Diese vier Bände sind nach Beyles so baldigem Tode in den Besitz der Familie Crozet gekommen und im Jahre 1869 zusammen mit noch anderen Stücken des Stendhalschen Nachlasses von einem Herrn Eugen Chaper in Eybens (Isère) erworben worden; jetzt besitzt sie Herr P. Royer. In diesem Exemplar hat Beyle eine große Menge textlicher Änderungen vorgenommen, hier einen Ausdruck geändert, dort ein paar Worte gestrichen, da hinzugesetzt, und so weiter. Die beabsichtigte völlige Umarbeitung des Romans bieten diese durchschossenen Bände nicht. Hingegen lassen die zahlreichen Notizen darin ziemlich deutlich erkennen, wie sich Beyle die neue Gestaltung der ›Kartause‹ gedacht hat.
Durch Erweiterung des letzten Viertels der vorliegenden Fassung sollte der Roman auf den Umfang von drei gleichstarken Bänden gebracht werden. In einer Randbemerkung des Royerschen Exemplares heißt es: ›Meinem Verleger Dupont graute es vor der Dickleibigkeit des zweiten Bandes meines Manuskriptes oder gar vor einem dritten Bande. Aber ich muß die Charakterentwicklung der Clelia wieder so breit geschildert herstellen, wie sie ursprünglich war, ehe Dupont mich veranlaßte, sie zusammenzusäbeln. So wie Clelias Liebe jetzt geschildert ist, wirkt sie langweilig. Es fehlen ein paar zarte, rührende Szenen ... Clelia kann der leibhaftigen Gegenwart Fabrizzios nicht widerstehen. Ihre Tugend hatte ihren Halt nur in seinem Fernsein ... Ich war im März 1839 mißlaunig, und Dupont jammerte bereits bei Seite 364 maßlos ...‹ Der zweite, stärkere Band der Erstausgabe, der mit Kapitel 14 beginnt, hat 445 Seiten.
Der umgearbeitete Roman sollte offenbar mit Fabrizzios Erlebnissen auf dem Schlachtfelde von Waterloo beginnen. Damit wäre die Komposition gedrungener geworden. Die Erlebnisse der Gräfin Pietranera bis 1815 wollte Stendhal den Obersten Lebaron erzählen lassen. In der vorliegenden Fassung tritt dieser Oberst nur in der Episode an der Sainte-Brücke (S.80 ff.) auf; in der Neubearbeitung sollte Fabrizzio während seines Aufenthaltes in Amiens (S.91 f.) in das Haus des Obersten kommen. Ein Bruchstück der Erzählung Lebarons hat Casimir Stryienski im Nachlasse Beyles in der Grenobler Bibliothek aufgefunden und veröffentlicht. Wieder in Paris (S.92), sollte Fabrizzio im Foyer der Großen Oper den Großfiskal Rassi und den Cavaliere Riscara, die Ranuccio Ernesto als Spione nach Paris entsandt hat, kennen lernen. ›Fabrizzio fällt ihr italienisches Aussehen und ihr Mailänder Dialekt auf, den die beiden Kundschafter für allgemein unverständlich wähnen.‹ Weiterhin wollte Stendhal ›eine komische Person einfügen, die am Parmaer Hofe die Rolle des ›Journal des Débats‹ und dazu die des Herrn de Fontanes spielt‹.
›Ich muß noch ein paar Landschaftsschilderungen und hin und wieder ein Alltagsgespräch einfügen‹, heißt es in einer Randbemerkung. ›Die Personen, die nach Fabrizzios Ankunft in Parma eine Rolle spielen, insbesondere Rassi, den Erzbischof, den Marchese Crescenzi und andere, muß ich irgendwie bereits im ersten Teile des Romans einführen... Ich muß viele Worte ändern, besonders in den letzten hundert Seiten ...‹
Der Roman ist zu Anfang Mai 1839 in zwei Bänden erschienen; bereits im gleichen Jahre folgte ein belgischer Nachdruck, ebenfalls zweibändig, in kleinerem Format. Eine freie deutsche Nacherzählung, die leider alles Beylistische tilgt, ist 1845 in Dresden herausgekommen. Im Laufe der Zeit ist dann eine Reihe fremdländischer Ausgaben erschienen. Es gibt je eine englische, amerikanische, polnische, tschechische, dänische, schwedische, zwei spanische, zwei russische und zwei italienische Übersetzungen der ›Kartause‹.
Die vorliegende erste deutsche Übertragung ist erstmalig 1906 in zwei Bänden veröffentlicht. Der Neudruck ist vielfach verbessert.
Dresden, am 24. Dezember 1920.
17. bis 26. Tausend Gedruckt von Paul Dünnhaupt in Köthen (IV/5/1) Verlagslizenz Nr. 351 – Nr. 260/8/52