Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Fünfzehntes Kapitel

Zwei Stunden später fuhr der arme Fabrizzio, mit Handschellen versehen und mit einer langen Kette an den Wagen gebunden, den er hatte besteigen müssen, unter Bedeckung von acht Gendarmen nach der Zitadelle von Parma. Es war befohlen, daß sich in den Dörfern, durch die der Marsch ging, alle Gendarmen dem Zuge anschließen sollten. Der Podesta von Castelnuovo gab dem Staatsverbrecher das Geleit. Gegen sieben Uhr abends kreuzte der Wagen, hinter dem alle Straßenjungen von Parma und dreißig Gendarmen hermarschierten, die schöne Promenade, zog an dem kleinen Palazzo vorüber, wo einige Monate vorher Fausta gewohnt hatte, und erschien endlich vor dem Außentor der Zitadelle, gerade in dem Augenblick, als der General Fabio Conti mit seiner Tochter auszufahren im Begriff war. Der Wagen des Kommandanten machte Halt, ehe er über die Zugbrücke fuhr, um den Wagen vorbeizulassen, an den Fabrizzio gekettet war. Der General befahl sogleich, man solle die Tore der Zitadelle schließen, und eilte in das Aufnahmezimmer, um flüchtig nachzusehen, worum es sich handle. Er war nicht wenig überrascht, als er den Gefangenen erkannte, der während der langen Fahrt durch die Fesseln ganz steif geworden war. Vier Gendarmen hatten ihn aus seinem Wagen gehoben und in die Kanzlei geschleppt. ›Jetzt habe ich diesen berüchtigten Fabrizzio del Dongo in meiner Gewalt,‹ sagte sich der eitle Kommandant, ›ihn, der seit Jahresfrist den Hauptgesprächsstoff der Hofgesellschaft von Parma bildet!‹

Zwanzigmal war der General ihm bei Hofe, im Hause der Duchezza und sonstwo begegnet, aber es fiel ihm nicht ein, sich anmerken zu lassen, daß er ihn kannte. Er hatte Angst, sich Unannehmlichkeiten zu bereiten.

»Daß Ihr mir einen genauen Bericht aufsetzt«, befahl er dem Gefängnisschreiber, »über die Auslieferung dieses Häftlings durch den löblichen Podesta von Castelnuovo!«

Barbone, der Schreiber, eine wegen seines gewaltigen Bartes und seines rauhen Auftretens gefürchtete Person, nahm eine noch wichtigere Miene als gewöhnlich an, sozusagen die eines deutschen Kerkermeisters. Da seiner Meinung nach hauptsächlich die Duchezza di Sanseverina die Schuld daran trug, daß sein Vorgesetzter, der Kommandant, nicht Kriegsminister geworden war, so benahm er sich gegen den Gefangenen um so unverschämter. Er redete ihn mit Ihr an, wie man in Italien nur mit Dienstboten zu sprechen pflegt.

»Ich bin Prälat der heiligen römischen Kirche«, antwortete ihm Fabrizzio trotzig, »und Großvikar dieser Diözese. Allein meine Geburt gewährt mir ein Recht auf rücksichtsvolle Behandlung.«

»Davon weiß ich nichts!« entgegnete der Schreiber frech.

»Beweist Eure Behauptungen durch Urkunden, die Euch zu diesen hochehrenwerten Titeln berechtigen.«

Fabrizzio hatte keinerlei Papiere bei sich und antwortete nicht. Der General Fabio Conti, der hochmütig neben seinem Schreiber stand, sah auf die Niederschrift, ohne dem Gefangenen einen Blick zu gönnen. Er wollte nicht gern bestätigen, daß es wirklich Fabrizzio del Dongo war.

Clelia Conti, die im Wagen wartete, vernahm plötzlich einen schrecklichen Lärm im Amtszimmer. Der Schreiber Barbone hatte eine unverschämte und umständliche Beschreibung des Gefangenen aufgenommen und ihm befohlen, seinen Anzug aufzuknöpfen, damit man die Anzahl und den Zustand der bei dem Auftritt mit Giletti empfangenen Wunden untersuchen und feststellen könne.

»Das kann ich nicht«, sagte Fabrizzio mit höhnischem Lächeln. »Ich bin nicht imstande, den Befehlen des Herrn zu gehorchen. Die Handschellen hindern mich daran!«

»Was,« rief der General in unschuldigem Tone, »der Gefangene hat Handschellen? Innerhalb der Zitadelle? Das ist gegen die Ordnung! Es bedürfte eines besonderen Befehls dazu. Nehmen Sie ihm die Handschellen ab!«

Fabrizzio blickte ihn an. ›Ein spaßiger Jesuit!‹ dachte er. ›Seit einer Stunde sieht er mich mit diesen Handschellen, die mich gräßlich belästigen, und jetzt spielt er den Erstaunten!‹

Die Handschellen wurden ihm von den Gendarmen abgenommen; sie hatten erfahren, daß Fabrizzio der Neffe der Duchezza di Sanseverina war, und beeilten sich, ihn auf das allerhöflichste zu behandeln, was von der Grobheit des Schreibers auffällig abstach. Darüber sichtlich ergrimmt, fuhr dieser Fabrizzio, der regungslos dastand, an: »Na, nun los! Rasch! Zeigt die Narben, die von dem armen Giletti herrühren, von dem Mord her!«

Mit einem Sprunge stürzte Fabrizzio sich auf den Schreiber und gab ihm eine derartige Ohrfeige, daß Barbone von seinem Sessel über die Beine des Generals fiel. Die Gendarmen hielten Fabrizzio, der sich nicht rührte, an den Armen fest. Der General selbst und zwei Gendarmen, die neben ihm standen, hoben den Schreiber eiligst auf. Sein Gesicht blutete stark. Zwei Gendarmen, die entfernter gestanden hatten, verschlossen schleunigst die Kanzlei, im Glauben, der Gefangene suche zu entkommen. Der Wachtmeister, der die Oberaufsicht hatte, meinte zwar, der junge del Dongo könne einen wirklich ernsten Fluchtversuch gar nicht unternehmen, da er innerhalb der Zitadelle sei. Trotzdem aber stellte er sich aus Polizisteninstinkt ans Fenster, um eine völlige Unordnung zu verhindern. Gerade vor diesem offenen Fenster hielt, zwei Schritt entfernt, der Wagen des Generals. Clelia hatte sich in die Ecke geschmiegt, um nicht Zeugin des traurigen Auftrittes zu sein, der sich drinnen abspielte. Als sie den Lärm hörte, blickte sie hin.

»Was geht da vor?« fragte sie den Wachtmeister.

»Signorina, das ist der junge del Dongo. Er hat dem frechen Barbone soeben eine anständige Ohrfeige gegeben!«

»Wie, der Verhaftete ist Monsignore del Dongo?«

»Zweifellos!« antwortete der Wachtmeister. »Wegen der hohen Herkunft des armen jungen Mannes hat man so große Umstände gemacht. Ich dachte, Signorina wüßten alles.«

Clelia wich nicht mehr vom Wagenfenster. Als die Gendarmen, die den Tisch umstanden, ein wenig auseinanderrückten, sah sie den Gefangenen. ›Wer hätte gedacht, als ich ihm auf der Straße am Comer See begegnete,‹ dachte sie, ›daß ich ihn zum ersten Male in so trauriger Lage wiedertreffen sollte? Er reichte mir die Hand, als ich in den Wagen seiner Mutter stieg ... Die Duchezza war mit dabei ... Ob ihre Liebe damals gerade anfing ?‹

Der Leser muß wissen, daß die von der Marchesa Raversi und dem General Conti gelenkte liberale Partei die Überzeugung zur Schau trug, daß zwischen Fabrizzio und der Duchezza zarte Beziehungen bestünden. Der hintergangene Graf Mosca, den man haßte, war der Gegenstand ewiger Witzeleien.

›So ist er nun in der Hand seiner Feinde!‹ dachte Clelia. ›Der Graf Mosca wird sich heimlich über diesen Fang ins Fäustchen lachen. Sonst müßte er ein Engel sein.‹ Im Amtszimmer erscholl unbändiges Gelächter.

»Jacopo,« fragte sie den Wachtmeister mit unsicherer Stimme, »was gibts?«

»Der General hat den Gefangenen barsch gefragt, warum er Barbone geschlagen habe. Monsignore Fabrizzio hat kaltblütig geantwortet: ›Er hat mich einen Mörder genannt; er soll mir die Urkunden vorweisen, die ihn berechtigen, mir diesen Titel beizulegen!‹ Darüber lacht man.«

Ein schreibkundiger Aufseher ersetzte Barbone. Clelia sah diesen aus dem Hause kommen, wie er sich mit seinem Taschentuch das Blut abwischte, das ihm reichlich über sein scheußliches Gesicht tropfte. Er fluchte wie ein Heide. »Dieser verdammte Fabrizzio«, wetterte er dröhnend, »soll nur durch meine Hand sterben, und wenn ich Henker werden sollte!«

Er war zwischen dem Fenster des Amtszimmers und dem Wagen des Generals stehen geblieben, um Fabrizzio zu beobachten; seine Schimpfereien verdoppelten sich.

»Geh deiner Wege,« rief ihm der Wachtmeister zu, »oder fluche wenigstens nicht so vor der Signorina!«

Barbone wandte den Kopf und sah in den Wagen; seine Augen begegneten denen Clelias. Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus; nie hatte sie ein Gesicht mit so abscheulichem Ausdruck gesehen. ›Er wird Fabrizzio ermorden!‹ sagte sie sich. ›Ich muß schnell Don Cesare für ihn gewinnen!‹ Das war ihr Onkel, einer der angesehensten Geistlichen der Stadt. Sein Bruder, der General Conti, hatte ihm die Stelle des Verwalters und Almoseniers im Gefängnis verschafft.

Der General stieg wieder in den Wagen.

»Willst du nach Hause zurück,« fragte er seine Tochter, »oder willst du im Schloßhof warten? Es dauert vielleicht lange. Ich muß Serenissimus über alles Geschehene sofort Vortrag halten.«

Fabrizzio verließ die Kanzlei in Begleitung von drei Gendarmen; man führte ihn nach seiner Zelle. Clelia blickte durch das Wagenfenster; der Gefangene ging dicht an ihr vorüber. Sie antwortete gerade auf die Frage ihres Vaters und sagte: »Ich möchte mit dir gehen!«

Fabrizzio hörte diese ganz nahe bei ihm gesprochenen Worte, er sah auf, und sein Blick begegnete dem des jungen Mädchens. Der schwermütige Ausdruck in Clelias Antlitz fiel ihm besonders auf. ›Seit Como ist sie viel schöner geworden! Wie gedankenvoll ihre Augen sind! Man vergleicht sie nicht zu Unrecht mit der Duchezza. Sie hat wahrhaftig ein Gesicht wie ein Engel!‹

Barbone, der blutende Schreiber, der nicht ohne Grund in der Nähe des Wagens stehen geblieben war, hielt die drei Gendarmen, die Fabrizzio abführten, durch einen Blick auf und ging von hinten an den Wagen heran. Auf der Seite, wo der General saß, an das Wagenfenster tretend, sagte er zu diesem: »Da der Gefangene innerhalb der Zitadelle gewalttätig geworden ist, wäre es da nach Paragraph 157 der Gefängnisordnung nicht angebracht, ihm auf drei Tage Handschellen anzulegen?«

»Scher dich zum Teufel!« fuhr ihn der General an, den diese Verhaftung arg in Verlegenheit brachte. Es lag ihm daran, es weder mit der Duchezza noch mit dem Grafen Mosca zu verderben. Wie würde der Graf übrigens diese Geschichte auffassen? Im Grunde war die Ermordung Gilettis eine Kleinigkeit, und nur Quertreibereien hatten die Sache aufgebauscht.

Während dieser kurzen Unterredung stand Fabrizzio zwischen den Gendarmen stolzer und vornehmer denn je; seine zarten, feinen Züge und das verächtliche Lächeln, das um seine Lippen spielte, bildeten einen entzückenden Gegensatz zu dem plumpen Aussehen der ihn umringenden Gendarmen. Aber alles das war sozusagen nur das Gefäß seiner Empfindungen. Er war über Clelias Schönheit beseligt, und seine Augen verrieten sein helles Staunen. Tief in Grübeleien versunken, hatte sich Clelia vergessen und sah immer noch zum Wagenfenster hinaus; er grüßte sie mit einem leisen, ehrfürchtigen Lächeln und sagte darauf: »Signorina, wenn ich nicht irre, habe ich bereits einmal, in der Nähe des Sees, die Ehre gehabt, Ihnen unter Bedeckung von Gendarmen zu begegnen.«

Clelia wurde rot und so verlegen, daß sie keine Antwort fand. ›Wie vornehm er aussieht, mitten unter diesen groben Leuten!‹ sagte sie sich, als Fabrizzio sie ansprach. Das tiefe Mitleid, man könnte beinahe sagen, die Rührung, die sie ergriff, benahm ihr die nötige Geistesgegenwart für irgendein paar Worte. Sie wurde sich ihres Stillschweigens bewußt und errötete noch stärker.

In diesem Augenblick schob man die Riegel des Haupttores der Zitadelle mit Wucht zurück; wartete doch der Wagen Seiner Exzellenz schon mindestens eine Minute. Es polterte so heftig im Torgewölbe, daß Clelia nun erst recht nichts einfiel, und Fabrizzio hätte ihre Worte auch nicht verstehen können.

Der Wagen rollte dahin; jenseits der Zugbrücke trabten die Pferde sofort an. ›Er wird mich recht kindisch gefunden haben!‹ sagte Clelia zu sich. ›Nein, nicht nur kindisch. Er wird denken, ich hätte eine gemeine Seele; er wird denken, ich hätte seinen Gruß nicht erwidert, weil er ein Gefangener ist und ich die Tochter des Kommandanten bin.‹

Dieser Gedanke brachte das junge Mädchen, das eine erhabene Seele hatte, zur Verzweiflung. ›Was mein Benehmen ganz verächtlich macht,‹ fuhr sie fort, ›das ist der Umstand, daß ich damals, als wir uns zum ersten Male sahen, ebenfalls unter Bedeckung von Gendarmen war, wie er sagt, daß ich mich selbst damals in Gefangenschaft befand und daß er mir zu Diensten war und mich aus einer sehr mißlichen Lage befreite. Jawohl, ich muß es bekennen, mein Benehmen ist der Gipfel der Unartigkeit und Undankbarkeit. Ach, der arme junge Mann! Jetzt, da er im Unglück ist, wendet sich alle Welt von ihm ab. Damals hat er zu mir gesagt: ›Werden Sie sich in Parma meines Namens erinnern?‹ Wie sehr wird er mich nun verachten! Ich hätte ihm so leicht ein verbindliches Wort sagen können! Mein Benehmen gegen ihn war wirklich gräßlich! Ohne die großmütige Aufforderung seiner Mutter, in ihren Wagen zu steigen, hätte ich damals zu Fuß hinter den Gendarmen gehen oder mich gar, was noch schlimmer gewesen wäre, hinten auf die Kruppe eines ihrer Pferde setzen müssen. Damals war mein Vater ein Gefangener und ich ohne Schutz! Gewiß, mein Benehmen ist unerhört. Und wie tief mag das eine Natur wie er empfinden! Was für ein Unterschied zwischen seinen edlen Mienen und meinem Verhalten! Welche Vornehmheit, welche Gelassenheit! Er sah aus wie ein Held, umringt von seinen niedrigen Feinden! Jetzt begreife ich die Leidenschaft der Duchezza. Wenn er in einer derart mißlichen Lage, die noch die schrecklichsten Folgen haben kann, so ist, wie muß er dann erst sein, wenn seine Seele jubelt!‹

Der Wagen des Kommandanten der Zitadelle wartete länger als anderthalb Stunden im Schloßhof, und doch fand Clelia, als der General von seinem Empfang bei Serenissimus zurückkam, gar nicht, daß er allzu lange ausgeblieben wäre.

»Welche Absichten hat Serenissimus?« fragte Clelia.

»Seinem Worte nach: Gefängnis, aber seinem Blicke nach: den Tod!«

»Den Tod! Großer Gott!« rief Clelia aus.

»Ei, schweig doch still!« brummte der General. »Was bin ich so dumm, einem Kinde zu antworten!«

Unterdessen stieg Fabrizzio die dreihundertundachtzig Stufen hinauf, die zur Torre Farnese führen, dem neuen Gefängnis, das auf der Plattform des breiten, turmartigen Unterbaues in wunderbarer Höhe angelegt ist. Nicht ein einziges Mal wurde er sich klar bewußt, welch großer Umschwung sich soeben in seinem Geschick vollzogen hatte. ›Was für ein Blick!‹ sagte er sich. ›Was drückte er nicht alles aus! Welches tiefe Mitgefühl! Als ob er sagen wollte: ›Das Leben ist nur eine Kette von Unglücksfällen! Betrübe dich nicht über das, was dir zustößt! Sind wir nicht alle nur da, um unglücklich zu sein?‹ – Wie lange ihre schönen Augen doch auf mir ruhten, selbst dann noch, als die Pferde mit Donnergepolter durch das Torgewölbe liefen!‹

Fabrizzio vergaß völlig, unglücklich zu sein.

Clelia folgte ihrem Vater durch mehrere Gemächer; zu Beginn der Abendgesellschaft wußte noch kein Mensch die Neuigkeit von der Verhaftung des großen Verbrechers. So nämlich wurde der unvorsichtige arme junge Mann zwei Stunden später von der Hofgesellschaft getauft.

An diesem Abend bemerkte man, daß Clelias Gesicht bewegter als sonst war; denn Teilnahme für ihre Umgebung war das, was diesem edlen Mädchen vornehmlich fehlte. Wenn man ihre Schönheit mit der der Duchezza verglich, so war es hauptsächlich ihre Art, sich durch nichts rühren zu lassen, gleichsam über alle Dinge erhaben zu sein, was die Waagschale zugunsten ihrer Nebenbuhlerin sinken ließ. In England oder in Frankreich, dem Lande der Eitelkeit, hätte man wahrscheinlich ein ganz entgegengesetztes Urteil gefällt. Clelia Conti war noch ein wenig zu schlank, als daß man sie mit den schönen Gestalten Guido Renis vergleichen konnte. Wir wollen keineswegs leugnen, daß man ihrem Antlitz, an der griechischen Antike gemessen, etwas zu ausgeprägte Züge vorwerfen konnte; so waren beispielsweise ihre Lippen bei aller Holdseligkeit etwas zu voll. Die bewundernswerte Eigenart ihres Gesichtes, aus dem Jugendfrische und hoher Seelenadel hervorleuchteten, erinnerte bei aller seltenen und seltsamen Schönheit in keiner Weise an die Köpfe griechischer Statuen. Im Gegensatz zu ihr wies die Duchezza ein wenig zuviel von dem allbekannten Schönheitsideal auf. Ihr echt lombardischer Kopf gemahnte an das wollüstige Lächeln und die zärtliche Schwermut der schönen Tochter der Herodias von Leonardo da Vinci. So sprühend von Geist und Bosheit die Duchezza war, so leidenschaftlich, wenn man so sagen darf, sie sich für alle Dinge erwärmte, die der Lauf eines Gespräches vor ihr geistiges Auge führte, ebenso kühl und schwer zu begeistern war Clelia, sei es aus Geringschätzung gegen ihre Umwelt, sei es aus Sehnsucht nach irgendeinem unerreichbaren Traumbild. Lange Zeit ging das Gerücht, sie wolle sogar ins Kloster gehen. Mit zwanzig Jahren machte sich ihre Abneigung, Bälle zu besuchen, bemerkbar, und wenn sie sich mit ihrem Vater in Gesellschaften zeigte, so geschah das nur aus Gehorsam und um seine ehrgeizigen Pläne nicht zu schädigen.

›Obwohl mir der Himmel‹, pflegte sich die gewöhnliche Seele des Generals zu sagen, ›das schönste und tugendsamste Mädchen im Lande zur Tochter gegeben hat, so wird es mir doch unmöglich sein, daraus irgendwelchen Vorteil für mein Vorwärtskommen zu ziehen. Ich stehe viel zu einsam da, habe niemanden in der Welt und bedarf in hohem Grade einer Familie, die mich in der Gesellschaft stützt und mir eine gewisse Anzahl Salons eröffnet, wo meine Verdienste und vor allem meine Fähigkeit zum Minister ohne Widerrede anerkannt werden. Je nun, meine Tochter, so schön, so klug, so fromm sie ist, wird schlechter Laune, sobald ihr ein bei Hofe gut angeschriebener junger Mann seine Huldigungen darzubringen wagt. Ist ein Freier höflich abgewiesen, so wird ihr Wesen weniger düster, ja ich finde sie beinahe heiter, so lange, bis sich wieder ein anderer Bewerber einstellt. Der schönste Mann am Hofe, der Graf Baldi, hat um sie geworben und ihr mißfallen. Der reichste Mensch im Staate Parma, der Marchese Crescenzi, ist nach ihm gekommen; sie behauptet, er würde sie unglücklich machen.‹

›Unbestritten‹, sagte der General andere Male, ›hat meine Tochter schönere Augen als die Duchezza, zumal sie die Fähigkeit haben, bei besonderen Anlässen den seelenvollsten Ausdruck anzunehmen. Aber wer kriegt diesen herrlichen Ausdruck zu sehen? Im Salon, wo sie ihr Glück damit machen könnte, kein Mensch! Höchstens auf der Promenade, wenn sie allein mit mir ist, wenn sie sich rühren läßt, zum Beispiel durch das Unglück irgendeines schrecklichen Krüppels. Behalte etwas von diesem himmlischen Ausdruck, sage ich bisweilen zu ihr, für die Gesellschaft, in die wir heute abend gehen wollen! Gerade nicht! Geruht sie, überhaupt dabei zu sein, so nimmt ihr edles und keusches Gesicht den genugsam hochmütigen und wenig ermutigenden Ausdruck unfrohen Gehorsams an.‹ Der General scheute ersichtlich keine Mühe, einen passenden Schwiegersohn zu finden, und was er da sagte, das stimmte.

Die Augen der Höflinge, denen ihre Seele nicht zu schaffen macht, sind immer auf Äußerlichkeiten eingestellt. Sie hatten beobachtet, daß die Duchezza besonders an solchen Tagen, da Clelia nicht aus ihren süßen Träumereien aufzuwachen und Teilnahme für irgend etwas vorzutäuschen vermochte, sich mit Vorliebe ihr zu nähern und mit ihr zu plaudern suchte. Clelia hatte aschblondes Haar, das sich auf das lieblichste gegen die zarte Färbung ihrer fast zu blassen Wangen abhob. Schon an der Form ihrer Stirn konnte ein aufmerksamer Betrachter erkennen, daß diese edle Erscheinung, dieser Gang, der die alltägliche Anmut tief in den Schatten stellte, aus einer gründlichen Gleichgültigkeit gegen alles Gewöhnliche entsprang. Sie litt am Mangel, aber nicht an der Unfähigkeit, sich für irgend etwas zu erwärmen. Seit ihr Vater Kommandant der Zitadelle war, fühlte sich Clelia in ihrer hochgelegenen Wohnung glücklich oder mindestens kummerfrei. Die gräßlich vielen Stufen, die man steigen mußte, um in die Kommandantur auf der Plattform des breiten Turmes zu gelangen, hielten langweilige Besucher fern. Aus diesem äußeren Grunde erfreute sich Clelia einer gleichsam klösterlichen Einsamkeit, wie sie ihr immer als das Ideal von Glück vorschwebte, so daß sie eine Zeit lang tatsächlich an den Eintritt in ein Kloster gedacht hatte. Eine Art Schauder ergriff sie, wenn sie nur daran dachte, ihre teuere Stille und ihre verborgensten Gedanken einem jungen Manne preiszugeben, den der Titel Ehegemahl berechtigte, ihr Innenleben zu stören. Hatte sie durch diese Abgeschiedenheit auch nicht das Glück gefunden, so half sie ihr doch wenigstens, schmerzlichen Erlebnissen aus dem Wege zu gehen.

An dem Tage, da Fabrizzio in die Zitadelle gebracht worden war, traf Clelia in der Abendgesellschaft beim Grafen Zurla, dem Minister des Inneren, mit der Duchezza zusammen. Alle Welt umringte die beiden Damen, aber an diesem Abend übertraf Clelia die Duchezza an Schönheit. Die Augen des jungen Mädchens hatten einen so seltsamen und innigen Ausdruck, daß sie fast verräterisch erschienen: sie sprachen von Mitleid, Entrüstung und Zorn. Die Heiterkeit und die sprühende Laune der Duchezza schienen Clelia wehmütige Anwandlungen einzuflößen, die sich bis zum Grausen steigerten. ›Wie würde die arme Frau jammern und seufzen, wenn sie wüßte, daß ihr Geliebter, jener hochherzige junge Mann mit dem so vornehmen Gesicht, soeben in den Kerker geworfen worden ist! wenn sie die Blicke des Fürsten gesehen hätte, die ihn zum Tode verurteilt haben! O Italien, wann wird dich kein Absolutismus mehr bedrücken! Weg mit den käuflichen und niedrigen Menschen! Ach, daß ich die Tochter eines Kerkermeisters bin! Und ich habe dem edlen Manne nicht gezeigt, daß ich mich dessen schäme! Ich habe ihn keiner Antwort gewürdigt, obgleich er einst mein Wohltäter war. Was mag er jetzt von mir denken, einsam in seiner Zelle, beim Schimmer eines dürftigen Lämpchens?‹

Aufgewühlt durch den Gedanken daran, sah Clelia voller Entsetzen in den großartig erleuchteten Empfangssaal des Ministers.

Im Schwärm der Höflinge, die die beiden Modeschönheiten umdrängten und sich in ihre Plaudereien einzumischen suchten, flüsterte man sich zu: »In so lebhafter, zuweilen sogar vertraulicher Weise haben sich die beiden nie unterhalten! Sollte die Duchezza, die immer bemüht ist, den durch den Premierminister entfachten Haß zu beschwichtigen, irgendeinen Heiratsplan mit Clelia im Schilde führen?«

Diese Vermutung gewann Nahrung durch eine Tatsache, die von der Hofgesellschaft zum allerersten Male festgestellt wurde: die Augen des jungen Mädchens hatten mehr Feuer, ja, wenn man so sagen darf, mehr Leidenschaft als die Augen der Herzogin. Selbst die Sanseverina war erstaunt und – zu ihrer Ehre sei es gesagt – entzückt über diesen neuen Reiz, den sie an der schönen Einsiedlerin entdeckte; seit einer Stunde betrachtete sie Clelia mit einer Freude, wie sie wohl selten angesichts einer Nebenbuhlerin empfunden wird. ›Was geht da vor sich?‹ fragte sich die Duchezza. ›Nie hat Clelia so schön, man möchte sagen, so rührend ausgesehen; sollte ihr Herz erwacht sein? Aber dann ist es sicherlich eine unglückliche Liebe, im Hintergrund ihrer so jungen Leidenschaft lauert düsterer Kummer. Unglückliche Liebe ist stumm. Will sie sich einen Wankelmütigen durch einen Triumph in der Gesellschaft wiedererobern?‹

Die Duchezza musterte aufmerksam die jungen Männer um sie herum; allenthalben erblickte sie Alltagsgesichter, lauter mehr oder weniger selbstzufriedene Übersättigung. ›Hier geschieht ein Wunder!‹ dachte die Duchezza, ärgerlich, es nicht enträtseln zu können. ›Wo ist der Graf Mosca, der feine Menschenkenner? Ich täusche mich gewiß nicht. Clelia blickt mich so aufmerksam an, als ob ich ihr der Gegenstand einer soeben geweckten Teilnahme wäre. Ist das die Folge von irgendeinem Befehl ihres Vaters, dieses feilen Hofschranzen? Nein, ich glaube nicht, daß sich diese reine, junge Seele dazu erniedrigt. Sollte der General Fabio Conti dem Grafen ein wichtiges Anliegen übermitteln wollen?‹

Gegen zehn Uhr trat ein Freund der Duchezza nahe an sie heran und flüsterte ihr ganz leise ein paar Worte zu. Die Sanseverina ward totenbleich. Clelia ergriff ihre Hand und wagte sie zu drücken.

»Ich danke Ihnen! Und jetzt verstehe ich Sie. Sie sind hochherzig!« sagte die Duchezza, sich mit Mühe fassend. Sie hatte kaum die Kraft, diese wenigen Worte herauszubringen. Sie widmete der Hausfrau ein Lächeln und verabschiedete sich. Die Gräfin Zurla stand auf und gab ihr bis zur Tür des letzten Gemachs das Geleit. Diese Ehrenbezeigung, die nur Prinzessinnen von Geblüt zusteht, ließ die Duchezza ihr augenblickliches Unglück um so grausamer empfinden. Sie lächelte der Gräfin auf das liebenswürdigste zu, aber trotz größter Anstrengung vermochte sie ihr nicht ein einziges Wort zu sagen.

Clelias Augen füllten sich mit Tränen, als sie die Duchezza so mitten durch diese Gemächer wandeln sah, die alles bevölkerte, was damals in der Gesellschaft hervorragte. ›Was wird die arme Frau tun, wenn sie allein in ihrem Wagen sitzt? Es wäre anmaßend von mir, böte ich ihr meine Begleitung an! Ich wage es nicht. Was für ein Trost wäre es für den armen Gefangenen, der in seiner öden Zelle sitzt bei seinem dürftigen Lämpchen, wenn er wüßte, daß er so geliebt wird! Er schmachtet in gräßlicher Einsamkeit, und wir, wir sind hier in diesen strahlenden Gemächern! Schauderhaft! Gibt es ein Mittel, ihm ein Wort zukommen zu lassen? Großer Gott, das hieße Verrat an meinem Vater üben! Seine Stellung zwischen den beiden Parteien ist so schwierig! Was geschähe, wenn er dem leidenschaftlichen Haß der Duchezza verfiele? Sie hat den größten Einfluß auf den Premierminister, und der ist in drei Vierteln aller Staatsangelegenheiten der Gebieter! Anderseits beschäftigt sich Serenissimus unaufhörlich mit den Vorgängen in der Zitadelle und versteht in dieser Hinsicht keinen Spaß. Die Angst macht ihn grausam. Auf alle Fälle ist Fabrizzio – Clelia nannte ihn nicht mehr Monsignore del Dongo – unendlich zu bedauern. Es handelt sich für ihn um mehr als nur den Verlust einer einträglichen Pfründe. Und die Duchezza! Was für eine schreckliche Leidenschaft ist die Liebe! Und doch faseln alle Schwärmer der Welt von ihr als dem Born des Glücks! Man beklagt alt gewordene Frauen, weil sie keine Liebe mehr empfinden und erwecken können! Nie werde ich vergessen, was ich soeben gesehen habe! Was für eine Umwandlung war das! Wie wurden die schönen, strahlenden Augen der Duchezza so trüb und lichtlos nach der verhängnisvollen Kunde, die ihr der Marchese R. mitteilte! Fabrizzio muß es wohl wert sein, geliebt zu werden!‹

Mitten in diesen tiefernsten Betrachtungen, die Clelias Seele ganz erfüllten, kamen ihr die geschwätzigen Schmeichler, die sie immerfort umschwärmten, noch abscheulicher vor als sonst. Um sich ihrer zu entledigen, trat sie an ein offenes Fenster, dessen seidener Vorhang halb heruntergelassen war. Sie hoffte, in diesen Schlupfwinkel ihr zu folgen, werde niemand sich getrauen. Das Fenster ging nach einem kleinen Orangenhain unter freiem Himmel, der allerdings jeden Winter durch ein Dach geschützt werden mußte. Mit Entzücken atmete Clelia den Duft der Orangenblüten ein, und dieses Labsal beruhigte ihre Seele ein wenig. ›Er hat ein überaus edles Wesen,‹ dachte sie, ›aber in einer so hervorragenden Frau eine solche Leidenschaft wachzurufen! Man rühmt ihr nach, sie habe die Huldigungen von Serenissimus abgewiesen. Wenn sie ihn erhört hätte, wäre sie die Königin seines Landes. Mein Vater hat erzählt, die Leidenschaft des Fürsten sei so weit gegangen, daß er sie geheiratet hätte, wenn er je frei geworden wäre. Und ihre Liebe zu Fabrizzio währt schon so lange! Denn es ist doch fünf Jahre her, daß wir einander in der Nähe des Comer Sees begegnet sind. Jawohl, es ist fünf Jahre her‹, sagte sie sich nach einigem Nachgrübeln. ›Ich war schon damals betroffen, als so manches Unverstandene vor meinen Kinderaugen geschah. Wie die beiden Damen Fabrizzio sichtlich bewunderten!‹

Mit Befriedigung nahm Clelia wahr, daß keiner von den jungen Männern, die so überschwenglich mit ihr geplaudert hatten, sich ihrem Fenster zu nähern wagte. Einer, der Marchese Crescenzi, hatte ein paar Schritte in dieser Absicht gemacht, war dann aber an einem Spieltisch stehen geblieben. ›Sähe ich wenigstens von meinem kleinen Fenster in unserer Wohnung in der Zitadelle,‹ sagte sie sich, ›dem einzigen, das schattig liegt, auf so hübsche Orangenbäume wie diese dort, dann wären meine Gedanken nicht so trüb und traurig. Aber als einzige Aussicht die riesigen Quader der Torre Farnese! Ach,‹ dachte sie zusammenzuckend, ›dorthin wird man ihn sicherlich gesperrt haben! Wie ich mich danach sehne, mit Don Cesare sprechen zu können! Mein Vater wird mir während der Heimfahrt zur Zitadelle gewiß nichts sagen, aber von Don Cesare kann ich alles erfahren. – Ich habe Geld, ich könnte mehrere Orangenbäume kaufen. Wenn ich sie unter dem Fenster meiner Vogelstube aufstellte, brauche ich die Riesenmauer der Torre Farnese nicht mehr zu sehen. Der Turm wird mir jetzt noch viel häßlicher vorkommen, da ich einen von den Menschen kenne, denen er das Licht raubt!

Dreimal habe ich ihn gerade gesehen: einmal auf dem Hofball am Geburtstag der Fürstin, dann heute, zwischen drei Gendarmen, während der ekelhafte Barbone für ihn Handschellen verlangte, und schließlich in der Nähe des Comer Sees... Das war vor fünf Jahren. Was für ein böses Jungengesicht er damals machte! Wie er die Gendarmen anstarrte, und was für sonderbare Blicke ihm seine Mutter und seine Tante zuwarfen! Gewiß gab es an jenem Tag irgendein Geheimnis, irgend etwas Außergewöhnliches zwischen ihnen. Hinterher ist mir der Gedanke gekommen, sie hätten auch Angst vor den Gendarmen gehabt.‹ Clelia erbebte. ›Ach, wie unwissend war ich doch! Zweifellos hegte die Duchezza schon damals eine Neigung zu ihm. – Nach einer Weile, als sich die Damen trotz ihrer sichtlichen Befangenheit ein wenig an die Gegenwart einer Fremden gewöhnt hatten, wie brachte er uns da zum Lachen! Und heute abend wußte ich keine Antwort auf das, was er zu mir gesagt hatte! Wie dumm und feig! Das ist oft das Schlechteste, was es gibt! Dabei bin ich schon über zwanzig Jahre alt. Meine Klostergedanken waren sehr berechtigt. Wirklich, ich tauge nur für die Abgeschiedenheit. Eine richtige Kerkermeisterstochter! So wird er gesagt haben. Er verachtet mich, und wenn er der Duchezza wird schreiben dürfen, dann wird er meine Empfindungslosigkeit erwähnen, und die Duchezza wird meinen, ich sei ein recht falsches Ding. Denn heute abend konnte sie glauben, ich fühle mit ihr.‹

Clelia merkte, daß sich ihr jemand näherte, und zwar offenbar in der Absicht, sich neben sie auf den eisernen Balkon ihres Fensters zu stellen. Sie war, obgleich sie sich deswegen Vorwürfe machte, verdrießlich darüber. Die Träumereien, aus denen sie aufgeschreckt wurde, waren doch so süß! ›Den zudringlichen Menschen werde ich schön empfangen!‹ dachte sie. Sie wandte den Kopf mit hochmütiger Miene, da erkannte sie das schüchterne Gesicht des Erzbischofs, der mit kleinen, unauffälligen Bewegungen dem Balkon näher rückte. ›Der fromme Mann hat gar keine Lebensart‹, dachte Clelia. ›Wozu will er ein armes Ding wie mich stören? Mein Frieden ist all mein Besitz.‹ Sie begrüßte ihn ehrfürchtig, aber förmlich. Da sagte der Kirchenfürst zu ihr: »Signorina, erfuhren Sie schon das Schreckliche?«

Die Augen des jungen Mädchens wechselten bereits ihren Ausdruck, aber einer hundertmal wiederholten Vorschrift ihres Vaters eingedenk, antwortete sie in einem Ton, als ob sie von nichts wisse, sosehr die Sprache ihrer Augen sie der Lüge zieh: »Ich habe nichts gehört, Monsignore.«

»Mein Erster Großvikar, der arme Fabrizzio del Dongo, der am Tode des Gauners Giletti ebenso schuldig ist wie ich selber, hatte sich nach Bologna geflüchtet. Dort lebte er unter dem angenommenen Namen Giuseppe Bossi. Man hat ihn in Ihre Zitadelle gesperrt. Mit Ketten an seinen Wagen gefesselt, kam er da an. Ein gewisser Gefängnisbeamter, namens Barbone, der vor Jahren seinen eigenen Bruder ermordet hat, aber begnadigt worden ist, hat Fabrizzio mißhandeln wollen. Doch mein junger Freund ist nicht der Mann, eine Beleidigung zu erdulden. Er hat seinen niederträchtigen Angreifer zu Boden gestreckt. Deshalb hat man ihm Handschellen angetan und ihn in ein Gewölbe, zwanzig Fuß unter der Erde, geworfen.«

»Handschellen, nein!«

»Ah, Sie wissen etwas!« rief der Erzbischof, und die Züge des Greises verloren ihre tiefe Mutlosigkeit. »Vor allem, ehe sich jemand diesem Balkon nähert und uns stört: Wollen Sie so barmherzig sein und Don Cesare meinen Hirtenring hier eigenhändig überbringen?«

Das junge Mädchen nahm den Ring, aber sie wußte nicht, wo sie ihn verbergen sollte, ohne Gefahr zu laufen, ihn zu verlieren.

»Tragen Sie ihn am Daumen!« riet der Erzbischof und steckte ihr ihn selbst an. »Kann ich darauf bauen, daß Sie den Ring hinbringen?«

»Gewiß, Monsignore!«

»Wollen Sie mir versprechen, das, was ich Ihnen noch sagen möchte, als Geheimnis zu bewahren, selbst für den Fall, daß Sie nicht geneigt sind, mir meine Bitte zu erfüllen?«

»Ja, Monsignore!« entgegnete das junge Mädchen, über und über bebend, da sie die düstere und ernste Miene sah, die der Greis plötzlich hatte. »Euer Ehrwürden«, fügte sie hinzu, »wird mir nichts auftragen, was seiner und meiner nicht würdig wäre.«

»Sagen Sie Don Cesare, daß ich ihm meinen Adoptivsohn ans Herz lege. Wie ich weiß, haben die Schergen ihm nicht die Zeit gelassen, sein Brevier mitzunehmen. Ich bitte Don Cesare, ihm das seine zu geben, und wenn Ihr Herr Onkel morgen in den erzbischöflichen Palast schicken will, werde ich ihm das Fabrizzio überlassene Buch ersetzen. Ebenso bitte ich Don Cesare, den Ring, den Ihre schöne Hand trägt, Fabrizzio zuzustellen...«

Der Erzbischof wurde durch den General Fabio Conti unterbrochen, der seine Tochter holen wollte, um mit ihr nach Hause zu fahren. Es entwickelte sich eine kleine Unterhaltung, die auf Seiten des Prälaten der Diplomatie nicht entbehrte. Ohne den neuen Gefangenen irgendwie zu erwähnen, brachte er es zuwege, im Laufe des Gesprächs gewisse moralische und politische Grundsätze an passenden Stellen einzuflechten; so sagte er zum Beispiel: »Es gibt vorübergehende Spannungen im Hofleben, die auf lange Zeit hinaus über Sein und Nichtsein der hervorragendsten Persönlichkeiten entscheiden. Dabei wäre es recht unklug, politische Abneigung, die oft nur die ganz natürliche Folge entgegengesetzter Standpunkte ist, in persönlichen Haß zu verkehren.« Ja, der Erzbischof ließ sich durch den tiefen Kummer, den ihm die so unvorhergesehene Verhaftung bereitete, zu der Äußerung verleiten, man sei sicherlich berechtigt, die Stellung zu wahren, die man inne habe, aber es sei eine recht fruchtlose Unvernunft, sich für die Zukunft wilden Haß aufzuladen, indem man sich zu Dingen hergäbe, die einem nie vergessen würden.

Als der General mit seiner Tochter in seinem Wagen saß, sagte er zu ihr: »Das sollte wohl eine Drohung sein? Eine Drohung einem Manne meines Schlages!«

Weiter fielen in den zwanzig Minuten keine Worte zwischen Vater und Tochter.

Als Clelia den Hirtenring des Erzbischofs annahm, hatte sie sich wohl vorgenommen, ihrem Vater, sobald sie im Wagen wären, von dem kleinen Dienst zu berichten, um den der Prälat sie angegangen hatte. Nachdem er aber das Wort ›Drohung‹ mit so zorniger Betonung ausgesprochen hatte, war sie überzeugt, daß ihr Vater sie an der Ausführung des Auftrages hindern werde. Sie verdeckte den Ring mit der linken Hand und hielt ihn leidenschaftlich fest. Während der ganzen Zeit, die die Fahrt vom Ministerium des Inneren bis in den Hof der Zitadelle in Anspruch nahm, überlegte sie sich, ob es Sünde sei, ihrem Vater nichts zu sagen. Clelia war sehr fromm und gottesfürchtig, und ihr sonst so ruhiges Herz schlug mit ungewohnter Heftigkeit. Aber schließlich rief der Posten, der auf dem Wall über dem Tore Wache stand, sein »Wer da?«, bevor sie die geeigneten Worte gefunden hatte, um ihren Vater zu bereden, ihre Bitte nicht abzuschlagen; so sehr fürchtete sie, daß sie ihr abgeschlagen werden könnte. Als sie die dreihundertsechzig Stufen zur Kommandantur hinaufschritten, fand sie Clelia erst recht nicht.

Sobald es anging, sprach sie mit ihrem Onkel, der sie ausschalt und sich auf nichts einließ.


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