Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Elftes Kapitel

Nach dem Besuch im erzbischöflichen Palast ging Fabrizzio zur kleinen Marietta. Schon von weitem vernahm er die grobe Stimme Gilettis, der Wein aufgefahren hatte und sich mit seinen Freunden, dem Souffleur und dem Lampenputzer, daran gütlich tat. Die Mammaccia war die einzige, die auf sein Zeichen antwortete.

»Allerhand Neuigkeiten für dich!« sagte die Alte. »Zwei oder drei Schauspieler von uns sind angeklagt, den Geburtstag des großen Napoleon durch ein wüstes Gelage gefeiert zu haben. Nun ist unsere arme Truppe als jakobinisch verschrieen und hat Befehl erhalten, das Gebiet von Parma zu verlassen. Es lebe Napoleon! Der Minister soll Zaster gespendet haben. So viel ist gewiß, Giletti hat Geld, ich weiß nicht, wieviel, aber ich habe eine Handvoll Taler bei ihm gesehen. Marietta hat von unserem Direktor fünf Taler Reisegeld bis Mantua und Venedig bekommen und ich einen. Sie ist immer noch ganz verschossen in dich; aber Giletti schüchtert sie ein. Vor drei Tagen, bei der Abschiedsvorstellung, die wir gegeben haben, wollte er sie durchaus umbringen. Er hat ihr zwei tüchtige Maulschellen gegeben und – das ist abscheulich – ihr blaues Kopftuch zerrissen. Wenn du ihr ein blaues Kopftuch schenken wolltest, wärst du ein guter Kerl; wir würden sagen, wir hätten im Lotto gewonnen. Morgen gibt der Fechtmeister von den Karabinieri ein Fechtspiel; die Zeit wirst du an allen Straßenecken angeschlagen finden. Komm und besuche uns! Er geht in die Vorstellung, und so können wir hoffen, daß er nicht so bald zurückkommt. Ich werde am Fenster sein und dir ein Zeichen geben, heraufzukommen. Vergiß nicht, uns etwas recht Nettes mitzubringen! Und Marietta liebt dich leidenschaftlich!«

Als Fabrizzio die Wendeltreppe der elenden Bude hinunterstieg, war er ganz zerknirscht. ›Ich bin in keiner Beziehung ein anderer geworden‹, sagte er sich. ›Die guten Vorsätze, die ich am Ufer unseres Sees gefaßt hatte, als ich das Leben mit Philosophenaugen betrachtete, sind wie weggeblasen. Meine Seele hatte sich über die Alltagsstimmung erhoben. Alles das war ein schöner Traum, der vor der rauhen Wirklichkeit zerfließt.‹

›Jetzt wäre der Augenblick der Tat da!‹ sagte sich Fabrizzio, als er gegen elf Uhr in den Palazzo Sanseverina zurückkehrte. Aber umsonst suchte er in seinem Herzen nach dem Mut zu jener erhabenen Aufrichtigkeit, die ihn in der Nacht am Ufer des Corner Sees so leicht gedünkt hatte. ›Ich werde das Wesen erzürnen, das ich am meisten auf der Welt liebe. Wenn ich rede, werde ich mich wie ein schlechter Komödiant benehmen. Ich tauge wirklich nur in gewissen Augenblicken der Begeisterung etwas!‹

»Der Graf benimmt sich mir gegenüber bewundernswert«, sagte er zur Duchezza, nachdem er über seinen Besuch im erzbischöflichen Palast berichtet hatte. »Ich schätze sein Verhalten um so mehr, als ich zu bemerken glaube, daß ich ihm nur mäßig gefalle. Mein Auftreten soll in seinen Augen unbedingt tadellos sein. Er veranstaltet in Sanguigna Ausgrabungen, auf die er ganz versessen ist, wenigstens nach seiner gestrigen Reise zu urteilen. Er hat zwölf Meilen im Galopp zurückgelegt, um zwei Stunden bei seinen Arbeitern zu verbringen. Man könnte in dem antiken Tempel, dessen Grundmauern er kürzlich aufgedeckt hat, Bruchstücke von Bildsäulen finden, und er hat Angst, daß sie ihm gestohlen werden. Ich habe Lust, ihm anzubieten, auf sechsunddreißig Stunden nach Sanguigna zu gehen. Ich muß morgen gegen fünf Uhr nochmals zum Erzbischof, könnte am Abend abreiten und mir die nächtliche Kühle für den Ritt zunutze machen.«

Die Duchezza gab zunächst keine Antwort.

»Es scheint, als ob du nach Vorwänden suchst, mich zu meiden«, sagte sie nach einer Weile mit innigster Zärtlichkeit. »Kaum bist du von Belgirate zurück, so findest du einen Grund, von neuem wegzugehen.«

›Das ist eine günstige Gelegenheit zur Aussprache‹, sagte sich Fabrizzio. ›Am See war ich ja ein bißchen verrückt. In meinem Aufrichtigkeitstaumel habe ich außer acht gelassen, daß meine Schmeichelei nur auf eine Unverschämtheit hinausläuft. Ich müßte sagen: Ich liebe dich in aufrichtiger Freundschaft, und so weiter, aber meine Seele ist der Liebe unfähig. Hieße das nicht mit anderen Worten: Ich sehe, daß du mich liebst, aber nimm dich in acht, ich kann nicht mit gleicher Münze zahlen? Wenn mich die Duchezza liebt, so könnte sie ärgerlich sein, daß ich sie durchschaue, aber sie wäre empört über meine Unverfrorenheit, wenn sie für mich ganz einfach Freundschaft empfände. Das wäre eine unverzeihliche Beleidigung...‹

Während er diese wichtigen Gedanken gegeneinander abwog, lief er, ohne es zu wissen, mit ernstem und herrischem Gesicht im Gemach hin und her, wie ein Mann, der zehn Schritt vor sich das Unglück sieht. Die Duchezza sah ihm mit Bewunderung zu. Das war nicht mehr das Kind, dessen Geburt sie beigewohnt hatte; das war nicht mehr der allzeit getreue Neffe. Das war ein ernster Mann, von dem geliebt zu werden köstlich sein mußte. Sie erhob sich von der Ottomane, auf der sie gesessen hatte, und warf sich leidenschaftlich in seine Arme: »Du willst mich also fliehen?« fragte sie.

»Nein,« erwiderte er mit der Miene eines römischen Imperators, »aber ich will vernünftig sein.«

Dieses Wort ließ verschiedene Deutungen zu; Fabrizzio fühlte nicht den Mut in sich, weiter zu gehen, auf die Gefahr hin, dieses anbetungswürdige Weib zu verletzen. Er war zu jung, zu empfänglich für Gemütsbewegungen; sein Geist kam ihm mit keiner liebenswürdigen Wendung zu Hilfe, mit der er hätte ausdrücken können, was er sagen wollte. In einer natürlichen Wallung, aller Vernunft entgegen, nahm er die verführerische Frau in seine Arme und bedeckte sie mit Küssen. Im selben Augenblick hörte man den Wagen des Grafen in den Hof einfahren, und fast unmittelbar darauf erschien er selbst im Gemach. Er war sichtlich sehr bewegt.

»Sie flößen merkwürdige Leidenschaften ein«, sagte er zu Fabrizzio, den dieser Ausdruck ganz verdutzt machte. »Der Erzbischof hatte heute abend seinen gewohnten Donnerstagsempfang bei Serenissimus. Soeben hat mir der Fürst erzählt, der Erzbischof habe mit verstörter Miene eine auswendig gelernte, höchst gelehrte Rede angehoben, von der Durchlaucht zunächst nichts verstanden habe. Am Schluß habe Landriani erklärt, es sei wichtig für die parmesanische Kirche, daß Monsignore Fabrizzio del Dongo zum Ersten Großvikar ernannt werde und später, nach Vollendung seines vierundzwanzigsten Lebensjahres, zum Koadjutor und künftigen Nachfolger.

Ich gestehe,« fuhr der Graf fort, »dieses Wort hat mir Schrecken eingejagt. Das war doch ein wenig zu rasch. Ich fürchtete eine Anwandlung von schlechter Laune bei Serenissimus. Statt dessen sah er mich lachend an und sagte auf französisch zu mir: ›Das ist einer Ihrer Streiche, Graf!‹ – ›Ich kann es vor Gott und vor Eurer Hoheit beschwören,‹ habe ich ihm möglichst salbungsvoll geantwortet, ›daß ich von der späteren Nachfolge nicht die leiseste Ahnung hatte.‹ Damit habe ich die Wahrheit gesagt, wie wir sie erst vor ein paar Stunden hier besprochen haben. Ich habe nachdrücklich hinzugesetzt, ich würde es als die höchste Gnade ansehen, wenn Serenissimus geruhen wollten, ihm zunächst ein kleines Bistum zu verleihen. Der Fürst muß mir geglaubt haben, denn er wurde alsbald sehr huldvoll. Mit der denkbar größten Einfalt sagte er zu mir:

›Das ist eine offizielle Angelegenheit zwischen mir und dem Erzbischof, die Sie gar nicht berührt. Der Biedermann hat mir einen sehr langen und ziemlich langweiligen Vortrag gehalten, der mit einem amtlichen Vorschlag schloß. Ich habe ihm sehr kühl geantwortet, daß der Betreffende reichlich jung sei und vor allem an meinem Hofe noch ein Neuling, so daß es fast aussähe, als bezahlte ich einen vom Kaiser auf mich ausgestellten Wechsel, wenn ich dem Sohne eines der Großwürdenträger seines lombardo-venezianischen Königreichs die Anwartschaft auf eine so hohe Stellung gewährte. Der Erzbischof beteuerte, es habe keinerlei derartige Empfehlung stattgefunden. Das mir zu sagen, war eine rechte Dummheit. Das hat mich an einem doch klugen Mann überrascht. Aber er gerät immer in Verlegenheit, wenn er mit mir spricht; und heute abend war er verlegener denn je, woraus ich schließe, daß ihm sein Wunsch gewaltig am Herzen liegt. Ich habe ihm erwidert, ich wisse besser als er, daß sich keine hohe Persönlichkeit zugunsten del Dongos verwendet habe, daß niemand an meinem Hofe an seiner Fähigkeit zweifle, daß sein Lebenswandel nicht allzu schlecht beurteilt werde; nur hielte ich ihn für leicht begeisterungsfähig, und ich hätte mir vorgenommen, Narren dieses Schlages, deren ein Fürst nie sicher ist, niemals in hohe Würden zu erheben. Nun‹, fuhr Serenissimus fort, ›mußte ich einen zweiten Schwall von Worten über mich ergehen lassen. Der Erzbischof pries die Begeisterung für das Reich Gottes. ›Tölpel,‹ sagte ich bei mir, ›du begehst Torheiten, du gefährdest die Ernennung, die beinahe schon bestätigt war!‹ Er hätte sich kurz fassen und gerührt danken sollen. Fiel ihm gar nicht ein. Er setzte seine Predigt mit lächerlicher Unerschrockenheit fort. Ich suchte nach einer Entgegnung, die für den kleinen del Dongo nicht allzu nachteilig klingen sollte. Ich fand eine, und eine recht glückliche, wie Sie gleich sehen werden. ›Monsignore,‹ habe ich zu ihm gesagt, ›Pius VII.Pius VII. (Chiaramonti), Papst von 1800 bis 1823, ehedem Kardinal und Bischof von Cesena. Sein Grabmal in Rom von Thorwaldsen. Er hat 1804 Napoleon zum Kaiser gesalbt. 1809 wurde er verhaftet und nach Fontainebleau gebracht. Diese Gefangennahme ist von Stendhal in seiner 1824 geschriebenen Novelle ›Erinnerungen eines römischen Edelmannes‹ ausführlich geschildert. war ein großer Papst und ein sehr heiliger Mann; von allen Herrschern wagte er allein, dem Tyrannen, der Europa zu seinen Füßen sah, nein zu sagen. Er war eben ein Schwärmer. Als er Bischof von Imola war, hat ihn das verführt, seinen berühmten Hirtenbrief des Bürgerkardinals Chiaramonti zugunsten der Zisalpinischen Republik zu schreiben.‹

Mein armer Erzbischof war ganz verblüfft, und um ihn vollends zu verblüffen, sagte ich ernst: ›Leben Sie wohl, Monsignore! Ich werde Ihrem Vorschlag vierundzwanzig Stunden Überlegung widmen.‹ Der Unglücksmensch erging sich noch in ein paar recht schlecht angebrachten und ungeschickt ausgedrückten Bitten, nachdem das Wort: ›Leben Sie wohl!‹ gefallen war. Jetzt beauftrage ich Sie, Graf Mosca della Rovere, der Duchezza zu sagen, daß ich eine für sie so erfreuliche Nachricht nicht vierundzwanzig Stunden verzögern will. Setzen Sie sich, bitte, hierher und schreiben Sie dem Erzbischof ein Jawort, das die ganze Sache entscheidet.‹ Ich schrieb, er unterzeichnete und sagte zu mir: ›Bringen Sie es unverzüglich der Duchezza!‹ – Hier ist das Schreiben, gnädige Frau! Dem verdanke ich das Glück, Sie heute abend noch einmal zu sehen.«

Die Duchezza las das Schreiben voller Entzücken. Während des langen Berichts des Grafen hatte Fabrizzio Zeit, sich zu sammeln. Dieses Ereignis setzte ihn augenscheinlich gar nicht in Erstaunen. Er nahm die Sache so recht wie ein Grandseigneur hin, der selbstverständlich immer geglaubt hat, er habe ein Anrecht auf so außergewöhnliche Beförderungen, auf Glücksfälle, die einen Spießbürger ganz aus dem Häuschen brächten. Er dankte dem Grafen in gewählten Ausdrücken und schloß mit den Worten: »Ein guter Hofmann muß der herrschenden Vorliebe huldigen. Sie haben gestern die Befürchtung geäußert, Ihre Arbeiter in Sanguigna könnten Bruchstücke antiker Kunstwerke beim Ausgraben stehlen. Ich bin ein Liebhaber von Ausgrabungen. Wenn Sie es mir gütigst gestatten, werde ich die Arbeiter beaufsichtigen. Morgen abend, nach den nötigen Dankesbesuchen im Schloß und im erzbischöflichen Palast, will ich nach Sanguigna abreiten.«

»Ahnen Sie denn,« fragte die Duchezza den Grafen, »wovon diese plötzliche Neigung des guten Erzbischofs für Fabrizzio herrührt?«

»Zu ahnen brauche ich das nicht. Der Großvikar, der Bruder des Hauptmanns, sagte gestern zu mir: ›Monsignore Landriani geht von dem richtigen Grundsatz aus, daß der Titular über dem Koadjutor steht, und es ist ihm eine Freude, daß ein del Dongo unter seinem Befehl steht und ihm verpflichtet ist. Alles, was Fabrizzios hohe Geburt ins volle Licht setzt, erhöht sein inneres Glück. Einen solchen Menschen zum Adjutanten zu haben! Zum anderen gefällt ihm Fabrizzio, weil er in seiner Gegenwart keine Befangenheit empfindet. Und schließlich hegt er seit zehn Jahren einen wohlbegründeten Haß gegen den Bischof von Piacenza, der seine Ansprüche auf die Nachfolge im Erzbistum Parma unverhohlen ausspricht und noch dazu ein Müllerssohn ist. Im Hinblick auf die künftige Nachfolge hat der Bischof von Piacenza sehr enge Beziehungen zur Marchesa Raversi angeknüpft, und diese Beziehungen machen den Erzbischof besorgt um die Erfüllung seines Lieblingsplanes, einen del Dongo in seinem Stab und unter seinem Befehl zu haben.‹ «

Am übernächsten Tage leitete Fabrizzio frühzeitig die Ausgrabungsarbeiten bei Sanguigna, gegenüber von Colorno, dem Versailles des Fürsten von Parma. Diese Grabungen fanden in der Ebene statt, ganz nahe der Landstraße, die von Parma nach der Brücke von Casalmaggiore, der ersten österreichischen Stadt, führt. Die Arbeiter hoben einen langen, acht Fuß tiefen, aber möglichst schmalen Graben aus; man wollte längs der alten Römerstraße die Reste eines zweiten Tempels aufdecken, der nach mündlicher Überlieferung noch im Mittelalter gestanden hatte. Obwohl es Befehl des Fürsten war, sahen mehrere Bauern auf diese langen Gräben, die ihren Grund und Boden durchquerten, mit scheelen Augen. Was man ihnen auch sagen mochte, sie bildeten sich ein, man suche nach einem Schatz, und Fabrizzio kam gerade recht, um einen kleinen Aufstand zu verhindern. Er langweilte sich nicht im geringsten. Leidenschaftlich verfolgte er die Arbeiten. Hin und wieder fand man Münzen, und er ließ den Arbeitern absichtlich keine Zeit, sich untereinander über das Beiseitebringen solcher Funde zu einigen.

Es war ein schöner Tag. Es mochte sechs Uhr morgens sein. Er hatte sich eine alte einläufige Büchse geliehen und schoß ein paar Lerchen. Eine angeschossene fiel auf die große Straße nieder. Als Fabrizzio zu ihr lief, bemerkte er in der Ferne einen Wagen, der von Parma her in der Richtung nach dem Grenzort Casalmaggiore fuhr. Er hatte eben seine Büchse neu geladen, da kam der höchst klapprige Wagen langsam heran, und er erkannte die kleine Marietta. Links und rechts von ihr saßen der lange Lümmel Giletti und die alte Mammaccia.

Giletti bildete sich ein, Fabrizzio stünde mit einem Gewehr in der Hand so mitten auf der Landstraße, um ihn zu überfallen und wohl gar die kleine Marietta zu entführen. Beherzt, wie er war, sprang er aus dem Wagen, in der Linken eine große verrostete Pistole und in der Rechten einen Degen, der noch in der Scheide stak. Das waren seine Requisiten, wenn ihm die Truppe eine Ritterrolle anvertraute.

»Ha, du Brigant!« schrie er. »Ausgezeichnet, daß ich dich hier so nahe an der Grenze treffe! Ich will mit dir abrechnen! Hier schützen dich deine violetten Socken nicht!«

Fabrizzio liebäugelte mit der kleinen Marietta und kümmerte sich gar nicht um das Geschimpfe Gilettis, bis er mit einem Male drei Fuß vor seiner Brust die Mündung der verrosteten Pistole erblickte. Er hatte gerade noch Zeit, die Pistole niederzuschlagen, indem er seine Büchse wie einen Stock gebrauchte. Die Pistole ging los, verwundete aber niemanden.

»Halt doch an, Schafskopf!« brüllte Giletti dem Kutscher zu. Zugleich packte er geschickt die Flinte seines Gegners an der Mündung und hielt sie von sich ab. Beide zogen aus Leibeskräften an der Waffe. Der weit kräftigere Giletti setzte eine Hand vor die andere und kam dadurch immer näher an das Schloß der Büchse. Schon hatte er sie ihm halb entrissen, als Fabrizzio, um die Waffe unschädlich zu machen, den Hahn abdrückte. Er hatte vorher wohl bemerkt, daß die Mündung mehr als drei Zoll über Gilettis Schulter war. Der Schuß ging dicht an dessen Ohr vorbei. Eine Sekunde war der Komödiant verdutzt, erholte sich aber im Nu.

»Ha! Du willst mich vor den Kopf schießen, Hundsfott! Ich werde dir heimleuchten!«

Giletti zog seinen Ritterdegen aus der Scheide und drang mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit auf Fabrizzio ein. Der war völlig wehrlos und sah sich verloren.

Er rettete sich nach dem Wagen, der etwa zwölf Schritt hinter Giletti stand. Er lief nach links, und indem er sich mit der einen Hand an einer der Wagenfedern festhielt, bog er blitzschnell um den Wagen herum; so gelangte er vor den geöffneten rechten Wagenschlag. Giletti stürmte mit seinen langen Beinen nach, kam aber nicht auf den Einfall, sich an der Wagenfeder festzuhalten, und schoß noch ein paar Schritte weiter, ehe er stehen blieb.

Im Augenblick, als Fabrizzio an den offenen Wagenschlag gelangte, hörte er, wie ihm Marietta zuflüsterte: »Hüte dich! Er will dich morden! Nimm!«

Gleichzeitig sah Fabrizzio, wie eine Art langer Hirschfänger aus der Tür fiel. Er bückte sich, um ihn aufzuheben, aber da traf ihn ein Degenstoß Gilettis in die Schulter. Fabrizzio richtete sich auf und sah sich sechs Zoll weit von Giletti, der ihm mit dem Degengriff einen wütenden Schlag ins Gesicht versetzte. Dieser Schlag war so wuchtig geführt, daß Fabrizzio seine Besinnung verlor. Es fehlte nicht viel, und er wäre getötet worden. Zum Glück für ihn stand Giletti allzu nahe, als daß er ihm noch einen Stoß mit der Degenspitze beibringen konnte. Sobald Fabrizzio wieder zu sich kam, ergriff er die Flucht und lief, was er konnte. Beim Laufen zog er den Hirschfänger aus der Scheide und wandte sich dann plötzlich um. Giletti, der ihn verfolgte, war drei Schritte vor ihm. Während er noch im Schuß war, stach Fabrizzio nach ihm. Giletti wollte den Hirschfänger mit seinem Degen abfangen, lenkte den Stoß aber nur nach oben und bekam ihn mitten in die linke Backe. Er stürzte auf Fabrizzio zu, der einen Stich im Schenkel fühlte; es war Gilettis Messer, das dieser inzwischen gezogen hatte. Fabrizzio machte einen Sprung nach rechts und drehte sich um. Endlich standen sich die beiden Gegner im richtigen Fechtabstand gegenüber.

Giletti fluchte wie ein Wilder. »Warte, du Pfaffenluder! Ich werde dir die Gurgel abschneiden!« brüllte er immer wieder.

Fabrizzio war ganz außer Atem und konnte nicht sprechen. Der Schlag mit dem Degengriff ins Gesicht verursachte ihm heftige Schmerzen, und seine Nase blutete stark. Mehrere Stöße wehrte er mit seinem Hirschfänger ab und stieß einige Male damit zu, ohne recht zu wissen, was er tat. Er hatte das unklare Gefühl, bei einer öffentlichen Fechtvorstellung zu sein. Diesen Gedanken hatte ihm die Gegenwart seiner Arbeiter eingegeben, die, fünfundzwanzig bis dreißig an der Zahl, einen Kreis um die Kämpfer gebildet hatten, freilich in gehörigem Abstand, denn die beiden stürmten bald hier, bald dort ohne Pause aufeinander los.

Der Kampf schien ein wenig nachzulassen; die Stöße folgten nicht mehr so blitzschnell hintereinander. Da sagte sich Fabrizzio: ›Nach den Schmerzen zu urteilen, die ich im Gesicht fühle, muß er mich übel zugerichtet haben.‹ Bei diesem Gedanken packte ihn die Wut; er stürzte, die Spitze des Hirschfängers vor sich hin haltend, auf seinen Gegner los. Der Stahl drang Giletti in die rechte Brustseite und kam an der linken Schulter wieder heraus. Zu gleicher Zeit drang Gilettis Degen in seiner ganzen Länge durch Fabrizzios Arm, aber er glitt unter der Haut hin und verursachte nur eine unbedeutende Wunde.

Giletti war gefallen. Im Augenblick, da Fabrizzio auf ihn zutrat, mit dem Blick auf dessen linke Hand, die ein Messer hielt, öffnete sich diese Hand mechanisch und ließ die Waffe fallen.

›Der Schuft ist tot,‹sagte sich Fabrizzio. Er sah ihm ins Gesicht. Giletti spie eine Menge Blut. Fabrizzio eilte an den Wagen.

»Hast du einen Spiegel?« rief er Marietta zu. Sie starrte ihn ganz bleich an und vermochte nicht zu antworten. Die Alte nahm mit großer Kaltblütigkeit eine grüne Tasche zur Hand und reichte Fabrizzio einen kleinen Handspiegel. Er betrachtete sich und untersuchte sein Gesicht. ›Die Augen sind heil‹, sagte er sich. ›Das ist schon viel.‹ Er besah sich die Zähne: ›Sie sind alle ganz‹ – ›Woher habe ich nur solche Schmerzen?‹ fragte er sich halblaut. Die Alte erwiderte ihm: »Weil Giletti Ihnen mit seinem Degengriff die ganze Backe bis auf den Knochen durchgeschlagen hat. Ihre Wange ist furchtbar geschwollen und ganz blau. Setzen Sie sich gleich ein paar Blutegel an, und die Sache ist gemacht!«

»So! Gleich Blutegel!« lachte Fabrizzio; er hatte seine Kaltblütigkeit wieder. Er bemerkte, daß die Arbeiter alle um Giletti standen und ihn anglotzten, aber nicht wagten, ihn anzurühren.

»So helft dem Manne doch!« rief er ihnen zu. »Zieht ihm den Rock aus!«

Er wollte noch mehr sagen, aber als er aufschaute, gewahrte er fünf oder sechs Männer dreihundert Schritt entfernt auf der Landstraße, die zu Fuß und in gleichmäßigem Schritt auf den Tatort zukamen.

›Das sind Gendarmen,‹ dachte er, ›und da hier ein Toter liegt, werden sie mich festnehmen, und ich habe die Ehre eines feierlichen Einzugs in Parma. Was für ein Klatschstoff für die Sippschaft der Raversi, die meine Tante haßt!‹

Blitzschnell warf er den verdutzten Arbeitern alles Geld zu, das er in seinen Taschen hatte, und schwang sich in den Wagen.

»Hindert die Gendarmen, mich zu verfolgen!« rief er den Arbeitern zu. »Ich werde euch reich belohnen. Sagt ihnen, daß ich schuldlos bin, daß dieser Mensch mich angegriffen hat und mich ermorden wollte!«

»Und du,« sagte er zum Kutscher, »laß deine Pferde Galopp laufen! Du bekommst vier Napoleons, wenn du über den Po kommst, ehe mich die Männer da erwischen.« »Es gilt!« antwortete der Kutscher. »Haben Sie nur keine Bange! Die Leute da sind zu Fuß, und schon im Trab kriegen meine Pferdchen einen riesigen Vorsprung vor ihnen.«

Mit diesen Worten fuhr er im Galopp los.

Unser Held ärgerte sich über das Wort ›Bange‹ im Munde des Kutschers. In der Tat, seit er den Schlag mit dem Degengriff im Gesicht verspürt hatte, hegte er unbändige Angst.

»Wir können Reitern begegnen,« sagte der kluge Rosselenker, der an die vier Napoleons dachte, »und unsere Verfolger können ihnen zurufen, sie sollen uns festnehmen.« Das hieß soviel wie: ›Laden Sie Ihre Waffe wieder!‹

»O, wie tapfer du bist, mein kleiner Abbate!« sagte Marietta und umarmte Fabrizzio. Die Alte steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus und hielt Umschau. Nach einer Weile zog sie ihn wieder zurück.

»Kein Mensch verfolgt uns, mein Herr,« sagte sie kaltblütig zu Fabrizzio, »und vor uns ist auch niemand auf der Straße. Sie wissen, wie argwöhnisch die österreichische Polizei ist. Wenn sie uns so im Galopp ankommen sieht, verhaftet sie uns an der Po-Brücke. Das können Sie mir glauben!«

Fabrizzio sah zum Fenster hinaus.

»Trab!« befahl er dem Kutscher. Dann fragte er die Alte: »Was für einen Paß haben Sie?«

»Drei statt einen«, antwortete sie. »Stück für Stück hat uns vier Franken gekostet. Ist das nicht schauderhaft für arme Mimen, die das ganze Jahr unterwegs sind? Hier ist der Paß vom Herrn Schauspieler Giletti; der ist für Sie! Hier sind zwei Pässe für Marietta und für mich. Ach, Giletti hatte unser ganzes Geld in der Tasche! Was soll aus uns werden?«

»Wieviel hatte er?« fragte Fabrizzio.

»Vierzig blitzblanke Skudi!« sagte die Alte.

»Das soll heißen sechs und etwas Kleingeld!« verbesserte Marietta und lachte. »Ich will nicht, daß mein kleiner Abbate betrogen wird.«

»Ist es nicht ganz natürlich, hoher Herr,« fuhr die Alte unverfroren fort, »wenn ich Ihnen vierunddreißig Taler aufzubrummen suche? Was sind vierunddreißig Taler für Sie? Wir aber, wir haben unseren Beschützer verloren. Wer wird uns nun die Wohnungen mieten, mit den Fuhrleuten wegen der Preise handeln, wenn wir unterwegs sind, und aller Welt Angst machen? Giletti war nicht schön, aber er war sehr bequem. Und wäre die Kleine da nicht so albern, sich gleich bis über die Ohren in Sie zu vergaffen, so hätte Giletti nicht das mindeste gemerkt, und Sie hätten uns manchen schönen Taler zustecken können. Wir sind wirklich sehr arm.«

Fabrizzio war gerührt; er zog seine Börse und gab der Alten ein paar Napoleons.

»Sie sehen,« sagte er zu ihr, »mir bleiben nur noch fünfzehn. Es hat also fortan keinen Zweck, mich zu schröpfen.«

Die kleine Marietta fiel ihm um den Hals, und die Alte küßte ihm die Hände. Der Wagen fuhr in gemächlichem Trab weiter. Als man in der Ferne die gelb und schwarz gestreiften Schlagbäume sah, die Zeichen des österreichischen Gebietes, sagte die Alte zu Fabrizzio:

»Es wäre besser, wenn Sie, mit Gilettis Paß in der Tasche, zu Fuß über die Grenze gingen. Wir werden einen Augenblick halten, angeblich, um uns ein bißchen herzurichten. Überdies werden die Zöllner unser Gepäck durchsuchen. Wenn Sie auf mich hören wollen, schlendern Sie gemächlich durch Casalmaggiore. Sie können sogar in ein Kaffeehaus gehen und einen Likör trinken. Sind Sie erst aus dem Ort hinaus, dann nehmen Sie die Beine unter den Arm. Die Polizei ist verdammt wachsam im Lande Österreich. Sie wird sehr bald wissen, daß ein Mann ermordet worden ist. Sie reisen mit einem falschen Paß. Das genügt schon, um zwei Jahre Gefängnis zu kriegen. Wenn Sie die Stadt hinter sich haben, halten Sie auf das rechte Po-Ufer zu, mieten einen Kahn und entwischen nach Ravenna oder Ferrara. Machen Sie, daß Sie möglichst rasch aus dem österreichischen Gebiet hinauskommen. Für zwei Louis können Sie sich von irgendeinem Zollbeamten einen anderen Paß verschaffen. Der da könnte Ihnen verhängnisvoll werden. Vergessen Sie nicht, daß Sie den Mann umgebracht haben!«

Während Fabrizzio zu Fuß auf die Schiffsbrücke von Casalmaggiore zuschritt, studierte er aufmerksam Gilettis Paß. Unser Held hatte eine Heidenangst. Er erinnerte sich deutlich alles dessen, was ihm Graf Mosca über die Gefahr gesagt hatte, die ihm beim Wiederbetreten österreichischen Gebietes drohe. Nun sah er zweihundert Schritt vor sich die schreckliche Brücke, die ihm Einlaß in jenes Land gewähren sollte, dessen Hauptstadt in seinen Augen der Spielberg war. Aber was sollte er sonst machen? Das Herzogtum Modena, das im Süden an das Fürstentum Parma angrenzt, lieferte auf Grund eines Sonderabkommens Flüchtlinge dahin aus. Die Landesgrenze in den Bergen nach der Genueser Seite lag allzu fern. Sein Mißgeschick wäre in Parma bekannt geworden, ehe er jenes Gebirge hätte erreichen können. Also blieb ihm nichts übrig, als das österreichische Gebiet auf dem linken Po-Ufer. Ehe die österreichischen Behörden benachrichtigt und um seine Verhaftung ersucht würden, verstrichen vielleicht sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden. Nachdem er zum Entschluß gekommen war, verbrannte er seinen Paß mit dem Feuer seiner Zigarre: er wollte in Österreich lieber Landstreicher als Fabrizzio del Dongo sein. Möglicherweise durchsuchte man ihn.

Abgesehen von seinem völlig natürlichen Widerwillen, sein Leben dem Paß des unglücklichen Giletti anzuvertrauen, brachte dieser Ausweis äußerliche Schwierigkeiten mit sich. Fabrizzios Körpermaß betrug höchstens fünf Fuß und fünf Zoll, aber nicht fünf Fuß und zehn Zoll, wie der Paß angab. Er war ungefähr vierundzwanzig Jahre alt, sah aber jünger aus, Giletti neununddreißig. Wir müssen gestehen, daß unser Held eine reichliche halbe Stunde auf einem Damm nahe der Po-Brücke auf und ab ging, ehe er sich entschloß, hinüberzugehen. ›Was würde ich einem anderen raten, der sich an meiner Stelle befände?‹ fragte er sich schließlich. ›Wahrscheinlich, er solle hinübergehen. Es ist gefahrvoll, im Staate Parma zu bleiben. Vielleicht ist ein Gendarm zur Verfolgung des Mannes ausgesandt, der einen anderen, wenn auch aus Notwehr, totgeschlagen hat.‹ Fabrizzio durchsuchte seine Taschen, zerriß alle Papiere und behielt nur sein Taschentuch und seine Zigarrentasche. Es lag ihm daran, die Durchsuchung, der er entgegenging, abzukürzen. Er dachte an eine schreckliche Vorhaltung, die man ihm machen könnte und auf die er nur schlechte Antworten fände: er war im Begriff, sich Giletti zu nennen, und seine ganze Wäsche war mit F.D. gezeichnet.

Wie man sieht, war Fabrizzio einer von den Unglücklichen, die ihre Vorstellungsgabe quält. Das ist gewöhnlich der Fehler geistvoller Italiener. Ein französischer Soldat mit dem gleichen oder selbst geringerem Mut hätte die Brücke sofort und unverzüglich überschritten und vorher an keinerlei Schwierigkeit gedacht, aber er hätte dabei auch seine ganze Kaltblütigkeit bewahrt. Fäbrizzio war weit davon entfernt, kalten Blutes zu sein, als ihn am Ausgang der Brücke ein Männchen in grauer Uniform anredete: »Verfügen Sie sich in die Polizeikanzlei wegen Ihres Passes!«

Diese Kanzlei hatte verräucherte Wände mit einer Reihe Haken, an denen die Tabakspfeifen und die schmutzigen Käppis der Grenzbeamten hingen. Das große Schreibpult aus Fichtenholz, hinter dem sie verschanzt saßen, war voller Tinten- und Weinspuren. Zwei oder drei dicke Folianten mit grünen Ledereinbänden zeigten Flecke in allen Farben, und der Schnitt ihrer Seiten war schwarz von Fingerabdrücken. Auf einem Haufen übereinandergeschichteter Eintragebücher lagen drei mächtige Lorbeerkränze, die zwei Tage vorher zu Kaisers Geburtstag ihren Dienst verrichtet hatten.

Fabrizzio war von all diesen Einzelheiten betroffen; sie schnürten ihm das Herz zusammen. Das war das Sühnegeld für die Sauberkeit und den Prunk, die seine hübsche Wohnung im Palazzo Sanseverina zierten. Er war gezwungen, diese schmutzige Kanzlei zu betreten und hier als Individuum niederen Standes zu erscheinen, ja, er ging einem Verhör entgegen. . Der Beamte, der seine gelbe Hand zur Empfangnahme seines Passes ausstreckte, war klein und schwarz; er trug eine Schmucknadel aus Messing in der Krawatte. ›Ein mißlauniger Spießer!‹ sagte sich Fabrizzio. Der Mann sah im höchsten Maße überrascht aus, während er den Paß las, und dieses Lesen währte reichlich fünf Minuten.

»Sie haben einen Unfall erlitten?« sagte er zu dem Fremden mit einem Blick auf seine Backe.

»Der Kutscher hat uns am Po-Damm umgeworfen.«

Abermaliges Stillschweigen. Der Beamte sandte dem Reisenden ein paar grimmige Blicke zu.

›Ich bin hineingefallen‹, sagte sich Fabrizzio. ›Er wird mir gleich sagen, es tue ihm leid, mir eine unangenehme Mitteilung machen zu müssen: ich sei verhaftet.‹ Alle möglichen törichten Gedanken schossen unserem Helden, der in diesem Augenblick nicht besonders logisch war, durch den Kopf. Zum Beispiel hatte er den Einfall, durch die offen gebliebene Tür der Kanzlei zu entfliehen. ›Ich entledige mich meines Rockes, springe in den Po und komme ohne Zweifel schwimmend hinüber. Nichts ist so schlimm wie der Spielberg!‹ Als er gerade erwog, ob ein derartiges Ausreißen gelingen könne, sah ihn der Zollbeamte scharf an. Das gab zwei seltene Gesichter, Die Gefahr macht einen vernünftigen Menschen genial; sie hebt ihn sozusagen über sich selbst empor. Dem Phantasiemenschen gibt sie Romane ein, die wohl kühn sind, aber zumeist unsinnig.

Die gespannte Miene unseres Helden vor dem prüfenden Blick des Polizeibeamten mit der kupfernen Schmucknadel war sehenswert. ›Wenn ich ihn umbrächte,‹ sagte sich Fabrizzio, ›so würde ich wegen Mordes zu zwanzig Jahren Galeere oder zum Tode verurteilt. Der ist weniger gräßlich als der Spielberg mit einer hundertzwanzigpfündigen Kette an jedem Fuß und einem halben Pfund Brot als einziger Kost. Und das zwanzig Jahre lang; also käme ich erst im Alter von vierundvierzig Jahren wieder frei.‹ Fabrizzio vergaß bei seiner Logik, daß er seinen Paß verbrannt hatte, daß der Polizeibeamte keinesfalls wissen konnte, daß er der Rebell Fabrizzio del Dongo war. Man sieht, unser Held war hinlänglich verängstigt. Er wäre es noch viel mehr gewesen, wenn er gewußt hätte, was für Gedanken den Polizeibeamten beschäftigten. Dieser Mann war ein guter Bekannter Gilettis. Man kann sich sein Erstaunen vorstellen, als er dessen Paß in den Händen eines Fremden sah. Sein erster Gedanke war, den Fremdling festnehmen zu lassen; dann fiel ihm ein, Giletti könne seinen Paß diesem schönen jungen Mann verkauft haben, der augenscheinlich jüngst irgendwelchen üblen Streich in Parma vollführt hatte. ›Wenn ich ihn festnehme,‹ sagte er sich, ›fällt Giletti auch hinein. Man wird mit Leichtigkeit herausbekommen, daß er seinen Paß verkauft hat. Anderseits, was werden meine Vorgesetzten sagen, wenn es ruchbar wird, daß ich, Gilettis Freund, seinen Paß in den Händen eines anderen visiert habe?‹

Der Beamte stand gähnend auf und sagte zu Fabrizzio: »Warten Sie, mein Herr!« Dann fügte er mit Amtsmiene hinzu: »So schnell geht das nicht!« .

Fabrizzio sagte bei sich: ›Es wird wohl bei der Flucht bleiben.‹

In der Tat verließ der Beamte die Kanzlei und ließ die Tür offen. Der Paß blieb auf dem fichtenen Schreibpult liegen. ›Die Gefahr ist offensichtlich‹, dachte Fabrizzio. ›Ich werde meinen Paß nehmen und langsam über die Brücke zurückgehen. Dem Gendarmen werde ich sagen, falls er mich fragt, ich hätte vergessen, meinen Paß im letzten Ort im parmesanischen Gebiete vom Polizeibeamten visieren zu lassen.‹ Fabrizzio hatte bereits seinen Paß in der Hand, als er zu seinem unbeschreiblichen Erstaunen hörte, wie der Mann mit der Nadel sagte: »Bei Gott, ich kann nicht mehr! Die Hitze bringt mich um. Ich werde im Kaffeehaus ein Täßchen genehmigen. Gehen Sie in die Kanzlei, wenn Sie mit Ihrer Pfeife fertig sind! Es ist ein Paß zu visieren. Der Fremde steht drin.«

Fabrizzio, der sich an die Tür geschlichen hatte, sah sich einem hübschen jungen Mann gegenüber, der trällernd vor sich hin sagte: »Na, visieren wir den Paß! Geben wir unsere Unterschrift! – Wohin will der Herr?«

»Nach Mantua, Venedig, Ferrara.«

»Ferrara, gut!« antwortete der Beamte und pfiff vor sich hin. Er nahm einen Stempel, drückte das Visum in blauer Farbe auf den Paß, schrieb rasch die Worte: ›Mantua, Venedig und Ferrara› in den vom Stempel umrahmten Raum, holte mehrfach mit der Hand hoch in der Luft aus, unterschrieb und tauchte die Feder nochmals ein für seinen Schnörkel, den er langsam und mit unendlicher Sorgfalt hinmalte. Fabrizzio folgte allen Bewegungen seiner Feder. Der Unterbeamte liebäugelte selbstzufrieden mit seinem Werk, fügte ihm fünf oder sechs Tüpfelchen hinzu und händigte endlich Fabrizzio den Paß wieder ein, indem er leichthin sagte: »Glückliche Reise, mein Herr!«

Fabrizzio entfernte sich in einer Gangart, deren Hast er nach Kräften zu verbergen suchte, als er sich am linken Ärmel festgehalten fühlte. Unwillkürlich fuhr er mit der Hand nach dem Griff seines Hirschfängers. Wenn er sich nicht zwischen Häusern gewußt hätte, so hätte er vielleicht eine Unbesonnenheit begangen. Der Mann, der ihn am linken Ärmel gefaßt hatte, sah ein ganz erschrockenes Gesicht und sagte im Ton der Entschuldigung: »Ich habe den Herrn doch dreimal angerufen, habe aber keine Antwort bekommen. Hat der Herr irgend etwas, was auf dem Zollamt verzollt werden muß?«

»Ich habe nichts als mein Taschentuch bei mir. Ich gehe nur ganz in der Nähe zu einem Verwandten auf die Jagd.«

Er wäre in arge Verlegenheit geraten, wenn man ihn um den Namen dieses Verwandten ersucht hätte. Infolge der großen Hitze, die herrschte, und in seiner Aufregung war Fabrizzio durch und durch naß, als ob er in den Po gefallen wäre. ›Komödianten gegenüber fehlt es mir nicht an Mut. Kleine Beamte aber mit Krawattennadeln aus Kupfer bringen mich außer Fassung. Diese Wahrnehmung werde ich zu einem Spottgedicht für die Duchezza verwenden.‹

Nach den ersten Häusern von Casalmaggiore bog Fabrizzio rechts in eine üble Gasse ein, die nach dem Po hinabführte. ›Ich spüre Verlangen nach der Hilfe von Bacchus und Ceres‹, sagte er sich und trat in eine kleine Kneipe ein, über der ein kleiner grauer Lappen an einer Stange hing; das Wort Trattoria stand darauf. Ein grobes Leinentuch, das über zwei dünne hölzerne Reifen gespannt war und bis drei Fuß über dem Boden hinabhing, schützte die Tür vor den senkrechten Sonnenstrahlen. Drinnen empfing eine halbnackte und recht hübsche Frau unseren Helden sehr ehrerbietig, was ihn höchlich belustigte. Er beeilte sich, ihr zu sagen, er käme vor Hunger um.

Während die Frau das Frühstück zurecht machte, kam ein Mann von ungefähr dreißig Jahren herein. Ohne zu grüßen, nahm er Platz. Mit einem Male erhob er sich wieder von der Bank, auf die er sich hingelümmelt hatte, und sagte zu Fabrizzio: »Eccellenza, la riverisco! « (Guten Tag, Exzellenz!)

Fabrizzio war gerade in heiterster Laune, und statt sich finstere Gedanken zu machen, antwortete er lachend: »Zum Teufel, woher weißt du, daß ich eine Eccellenza bin?«

»Wie, Eccellenza kennen Ludovico nicht mehr, den früheren Kutscher der Frau Duchezza Sanseverina? In Sacca, auf dem Landgut, wohin es alle Jahre ging, bekam ich jedesmal das Fieber. Ich bat die gnädige Frau um Entlassung und ging in den Ruhestand. Ich bin hier reich. Statt der Pension von zwölf Talern im Jahre, auf die ich höchstens Anspruch hatte, hat mir die gnädige Frau vierundzwanzig Taler ausgesetzt, damit ich Muße hätte, Sonette zu machen, wie sie mir sagte; ich bin nämlich Volksdichter. Und der Herr Graf hat mir gesagt, wenn es mir mal schlecht ginge, solle ich nur zu ihm kommen und es sagen. Ich hatte die Ehre, Monsignore eine Strecke Weges zu fahren, als Monsignore, wie es einem guten Christen geziemt, sein RetiroIn Italien herrscht noch heutigentags unter Weltgeistlichen und auch unter vornehmen Laien die Sitte, daß man sich dann und wann auf bestimmte Zeit in die Klosterzucht zurückzieht, gleichsam als selbst auferlegte Buße für seine Sünden. Das nennt man Retiro. (Stendhal.) in der Kartause von Velleia abhielt.«

Fabrizzio sah sich den Mann genauer an und erkannte ihn halbwegs wieder. Er war einer der schmucksten Kutscher der Casa Sanseverina gewesen. Jetzt, da er reich war, wie er sagte, bestand seine ganze Kleidung aus einem groben, zerrissenen Hemd und einer ehedem schwarz gewesenen Kattunhose, die ihm kaum bis an die Kniee reichte.

Ein Paar Schuhe und ein schäbiger Hut vervollständigten den Anzug. Dazu hatte er sich seit vierzehn Tagen nicht rasieren lassen.

Während Fabrizzio seinen Eierkuchen verzehrte, unterhielt er sich mit Ludovico ganz wie mit seinesgleichen. Es kam ihm vor, als wäre Ludovico der Schatz der Wirtin. Er beendete sein Frühstück hastig und flüsterte dann Ludovico zu: »Ich habe dir ein Wort zu sagen!«

»Eccellenza können vor der da getrost reden. Das ist ein kreuzbraves Weib!« sagte Ludovico zärtlich.

»Nun gut, meine Freunde,« entgegnete Fabrizzio ohne Zögern, »ich bin in Not und bedarf eurer Hilfe! Zunächst: Politisches ist nichts dabei. Ich habe ganz einfach einen Mann erstochen, der mich ermorden wollte, weil ich mit seiner Liebsten geredet habe.«

»Armer junger Mann!« sagte die Wirtsfrau.

»Eccellenza können auf mich rechnen!« rief der Kutscher laut, und seine Augen flammten vor leidenschaftlicher Treue. »Wohin wollen Eccellenza?«

»Nach Ferrara. Ich habe einen Paß; aber am liebsten möchte ich mit keinem Gendarmen zu tun haben. Die könnten von dem Vorfall schon Kenntnis haben.«

»Wann haben Sie den anderen ins Jenseits befördert?«

»Heute früh um sechs.«

»Haben Eccellenza gar keine Blutflecke an den Kleidern?«

»Daran habe ich auch schon gedacht,« meinte der Kutscher, »und überdies ist der Stoff dieser Kleider viel zu fein. So etwas kriegt man in hiesiger Gegend selten zu sehen. Das fällt auf. Ich will beim Juden einen Anzug kaufen. Eccellenza haben ungefähr meine Gestalt, ein klein wenig schmächtiger.«

»Bitte, nennt mich nicht mehr Eccellenza! Es könnte auffallen.«

»Zu Befehl, Eccellenza!« erwiderte der Kutscher und verließ die Kneipe.

»Hehe,« rief ihm Fabrizzio nach, »das Geld! Komm noch mal rein!«

»Wieso Geld?« sagte die Wirtsfrau. »Er besitzt siebenundsechzig Taler, die zu Ihrer Verfügung stehen. Ich selber,« fügte sie mit verhaltener Stimme hinzu, »ich habe Stücker vierzig Taler, die ich Ihnen herzlich gern anbiete. Man hat gewöhnlich kein Geld bei sich, wenn einem derlei zustößt.«

Fabrizzio hatte beim Eintritt in die Trattoria wegen der Hitze seinen Rock ausgezogen.

»Sie tragen da eine Weste, die uns Unannehmlichkeiten machen könnte, wenn irgend jemand käme. Der schöne englische Pikee würde auffallen.«

Sie holte unserem Flüchtling eine schwarze Kattunweste, die ihrem Mann gehörte. Ein großer junger Mensch kam durch eine Hintertür in die Kneipe; er war mit einer gewissen Vornehmheit gekleidet.

»Das ist mein Mann!« erklärte die Wirtin. »Du, Pietr' Antonio,« sagte sie zu ihrem Gatten, »der Herr ist ein Freund von Ludovico. Ihm ist heute früh ein Unglück zugestoßen, drüben auf dem anderen Ufer. Er möchte nach Ferrara flüchten.«

»Schön! Wir werden ihn hinüberschaffen«, sagte der Mann äußerst höflich. »Wir nehmen Carlo Giuseppes Kahn.«

Eine neue Schwäche unseres Helden, die wir ebenso freimütig bekennen wollen, wie wir seine Angst in der Polizeiwache an der Brücke erzählt haben, trieb ihm die Tränen in die Augen. Die grenzenlose Ergebenheit, die ihm diese Leute erwiesen, rührte ihn tief. Dabei fiel ihm die Güte seiner Tante ein. Er hätte diese Leute gern glücklich gemacht.

Ludovico kam mit einem Bündel zurück.

»Weg mit dem alten Adam!« sagte der Wirt zu Fabrizzio im Ton gemütlicher Freundschaft.

»Das ist jetzt nicht die Hauptsache«, erwiderte Ludovico mit erregter Stimme. »Man redet bereits von Ihnen. Man hat beobachtet, wie scheu Sie in unser Gäßchen eingebogen sind und die Hauptstraße verlassen haben gleich einem, der sich verdrücken will.«

»Gehen Sie schnell in die Oberstube hinauf!« sagte der Wirt.

Diese sehr große und sehr nette Stube hatte statt der Glasscheiben graue Leinwand vor den Fenstern. Vier Betten standen darin, jedes sechs Fuß breit und fünf lang.

»Nur schnell, nur schnell!« rief Ludovico. »Seit kurzem ist ein Laffe von Grenzer hier, der möchte mit der hübschen Frau da unten anbändeln. Ich habe ihm schon prophezeit, daß ihm auf der Landstraße leicht mal eine Flintenkugel in die Quere kommen könnte. Wenn dieser Schuft von Eurer Exzellenz reden hört, könnte er uns einen Streich spielen und Sie hier verhaften wollen, um die Trattoria der Theodolinda in Verruf zu bringen... Zum Teufel!« unterbrach sich Ludovico, als er Fabrizzios über und über mit Blut besudeltes Hemd und seine mit Taschentüchern verbundenen Wunden bemerkte. »Das Schwein hat sich also zur Wehr gesetzt? Das wäre hundertmal Anlaß zur Verhaftung! Ein Hemd habe ich nicht mitgebracht.«

Ohne Umstände öffnete er den Schrank des Wirtes und gab Fabrizzio eines von dessen Hemden. Der verwandelte sich alsbald in einen reichen Bauern. Ludovico nahm ein Netz, das an der Wand hing, steckte Fabrizzios Kleider in den Fischkorb, eilte dann hinunter und verließ das Haus schleunigst durch eine Hintertür. Fabrizzio folgte ihm.

»Theodolinda,« rief er im Vorbeigehen in die Gaststube hinein, »versteck den Kram oben! Wir werden an den Weiden warten! Du, Pietr' Antonio, schaff uns schnell einen Kahn! Er wird gut bezahlt!«

Ludovico führte Fabrizzio über mehr als zwanzig Gräben. Über den breiteren lagen sehr lange, schwippende Bretter, die als Brücken dienten. Sobald man hinüber war, zog Ludovico diese Bretter zurück. Nach dem letzten Wassergraben sagte er: »Jetzt wollen wir verschnaufen! – Dieser Hund von einem Grenzer liefe meilenweit, wenn er Eure Exzellenz erwischen könnte. – Sie sehen recht blaß aus. Ich habe das Schnapsfläschchen nicht vergessen.«

»Das kommt mir sehr gelegen. Die Wunde im Schenkel fängt an, sich bemerkbar zu machen. Übrigens habe ich in der Teufelsbude an der Brücke eine Mordsangst ausgestanden.«

»Das glaube ich gern,« meinte Ludovico, »mit einem Hemd voller Blut wie das Ihre! Ich begreife nur nicht, wie Sie gewagt haben, da hineinzugehen. Was die Wunden betrifft, so verstehe ich mich darauf. Ich werde Sie an einen recht kühlen Platz bringen, wo Sie eine Stunde schlafen können. Der Kahn wird uns dort abholen, wenn überhaupt einer aufzutreiben ist. Sonst gehen wir, sobald Sie sich ein wenig erholt haben, noch zwei Stündchen weiter, und ich geleite Sie zu einer Mühle, wo ich mir einen Kahn beschaffen werde. – Eccellenza sind viel klüger als ich. Aber die gnädige Frau wird außer sich sein, wenn sie von dem Unfall erfährt. Man wird ihr berichten, Sie seien zu Tode verwundet, vielleicht gar, Sie hätten den anderen meuchlings ermordet. Die Marchesa Raversi wird sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, allerlei böse Gerüchte in Umlauf zu setzen, um die gnädige Frau zu ärgern. Eccellenza könnten einen Brief schreiben.«

»Aber wie soll der Brief hinkommen?«

»Die Burschen von der Mühle, zu der wir wollen, verdienen am Tag zwölf Soldi. In anderthalb Tagen ist einer in Parma. Also vier Lire für den Weg, zwei Lire für die Abnutzung der Stiefel. Wenn der Gang für einen armen Kerl wie mich wäre, so kostete er sechs Lire; da er für einen hohen Herrn ist, werde ich zwölf geben.«

Als sie an dem überaus schattigen und kühlen Rastort, einem Gebüsch von Erlen und Weiden, angelangt waren, ging Ludovico mehr als eine Stunde weit, um Tinte und Feder aufzutreiben.

»Großer Gott,« rief Fabrizzio aus, »wie wohl ist mir hier! Glück, fahr wohl! Ich werde nimmermehr Erzbischof!«

Als Ludovico wiederkam, fand er ihn in tiefem Schlummer und wollte ihn nicht wecken. Der Kahn traf erst gegen Sonnenuntergang ein. Sobald ihn Ludovico in der Ferne auftauchen sah, rief er Fabrizzio. Der Erwachte schrieb zwei Briefe.

»Eccellenza sind viel klüger als ich,« sagte Ludovico verlegen, »und ich fürchte sehr, Ihnen im Grunde des Herzens zu mißfallen, wenn ich trotz alledem auch etwas sage.«

»Ich bin nicht so albern, wie Sie denken,« entgegnete Fabrizzio, »und was Sie auch sagen mögen, Sie werden in meinen Augen immer ein treuer Diener meiner Tante sein und ein Mann, der alles mögliche getan hat, um mich aus einer recht schlimmen Geschichte herauszuziehen.«

Es bedurfte noch vieler anderer Beteuerungen, um Ludovico zum Sprechen zu bringen, und als er sich endlich dazu entschlossen hatte, begann er mit einer Vorrede, die reichlich fünf Minuten dauerte. Fabrizzio ward ungeduldig; dann sagte er sich: ›Was ist schuld daran? Unsere Eitelkeit, die dieser Mann von der Höhe seines Kutscherbockes herab sehr wohl beobachtet hat.‹

Schließlich bewog Ludovico seine Ergebenheit zu dem Wagnis, frei von der Leber weg zu reden: »Wieviel würde die Marchesa Raversi nicht dem Boten geben, den Sie nach Parma senden wollen, um die beiden Briefe in die Hand zu bekommen! Sie tragen Ihre Handschrift und sind infolgedessen rechtsgültige Beweise gegen Sie. Eccellenza werden mich für neugierig und aufdringlich halten. Vielleicht schämen Sie sich auch, den Augen der Frau Herzogin meine armselige Kutscherhandschrift zu unterbreiten; aber schließlich öffnet mir die Sorge um Ihre Sicherheit den Mund, wenn Sie auch glauben könnten, ich sei unverschämt. Wollen mir Eccellenza die beiden Briefe nicht diktieren ? Dann bin ich allein bloßgestellt und könnte schlimmstenfalls aussagen, Sie seien mir mitten auf einem Feld begegnet, ein Taschenschreibzeug in der einen, eine Pistole in der anderen Hand, und hätten mir befohlen, zu schreiben.«

»Gib mir die Hand, mein lieber Ludovico!« rief Fabrizzio aus. »Und um dir zu beweisen, daß ich nicht das geringste Geheimnis vor einem Freunde wie dir haben will, hier, schreib die Briefe ab, so, wie sie sind!«

Ludovico begriff die Tragweite solchen Vertrauens völlig und war dafür außerordentlich empfänglich. Aber nach ein paar Zeilen, als er sah, wie flott sich der Kahn auf dem Fluß näherte, sagte er zu Fabrizzio: »Die Briefe würden eher fertig, wenn sich Eccellenza die Mühe nehmen wollten, sie mir zu diktieren.«

Als die Briefe fertig waren, setzte Fabrizzio ein A und ein B unter beide und kritzelte auf einen kleinen Papierstreifen, den er dann zusammenknüllte, auf französisch: ›Glaube A und B!‹ Der Bote sollte dieses zusammengeknüllte Stück Papier in seinen Kleidern verstecken.

Als der Kahn in Hörweite gekommen war, rief Ludovico die Schiffer mit Namen an, die nicht die ihren waren. Sie antworteten gar nicht, legten fünfhundert Schritt weiter stromab an und spähten nach allen Seiten aus, ob sie auch nicht von irgendeinem Zollwächter beobachtet würden.

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung«, sagte Ludovico zu Fabrizzio. »Wollen Sie, daß ich die Briefe selber nach Parma bringe? Oder wollen Sie, daß ich Sie nach Ferrara begleite?«

»Mich nach Ferrara begleiten, das ist ein Dienst, um den ich dich kaum zu bitten gewagt hätte. Wir müssen vor der Stadt landen und hineinzukommen suchen, ohne den Paß zu zeigen. Ich gestehe dir, ich habe den größten Widerwillen dagegen, unter Gilettis Namen zu reisen, und nur du könntest mir einen anderen Paß kaufen.«

»Warum haben Sie das nicht in Casalmaggiore gesagt? Ich kenne da einen Spitzel, der mir einen vorzüglichen Paß verkauft hätte, und nicht zu teuer, für vierzig oder fünfzig Franken.«

Einer der beiden Schiffer, der vom rechten Po-Ufer gebürtig war und deshalb keinen Auslandspaß zur Reise nach Parma nötig hatte, übernahm die Bestellung der Briefe. Ludovico, der zu rudern verstand, machte sich mit dem anderen daran.

»Weiter stromab«, sagte er, »werden wir auf mehrere Kähne mit bewaffneten Zöllnern stoßen, aber ich werde ihnen schon ausweichen.«

Mehr als zehnmal war man genötigt, sich hinter kleinen Inseln mit Wasserblumen und Weidengestrüpp zu verstecken. Dreimal wurde ausgestiegen, um den Kahn leer an den Wachtbooten dahintreiben zu lassen. Ludovico benutzte diese langen Ruhepausen, um Fabrizzio etliche seiner Sonette vorzutragen. Sie waren leidlich wahr empfunden, aber überschwenglich im Ausdruck und des Aufschreibens nicht wert. Merkwürdig war es, daß dieser ehemalige Kutscher Leidenschaften und lebhafte Künstleraugen hatte. Nur was er zu Papier brachte, war kalt und gewöhnlich. ›Das ist der Gegensatz zu dem, was wir in der Gesellschaft sehen‹, sagte sich Fabrizzio. ›Man versteht jetzt, alles geschliffen auszudrücken, aber die Herzen haben nichts zu sagen.‹ Er begriff, daß er diesem treuen Diener kein größeres Vertrauen bereiten konnte, als ihm die Schnitzer in seinen Sonetten zu verbessern.

»Man lacht über mich, wenn ich mein Heft ausleihe,« sagte Ludovico, »aber wenn Eccellenza geruhten, mir die richtige Schreibweise meiner Worte Buchstaben für Buchstaben zu diktieren, könnten die Neider nichts mehr sagen. Die Rechtschreibung macht das Genie nicht aus!«

Erst in der übernächsten Nacht konnte Fabrizzio mit voller Sicherheit an einem Erlengebüsch ans Land gehen, eine Meile vor Ponte Lag'oscuro. Den ganzen Tag über hielt er sich in einem Hanffeld verborgen. Inzwischen ging Ludovico nach Ferrara voraus und mietete dort eine kleine Wohnung bei einem armen Juden, der auf der Stelle erfaßte, daß es Geld zu verdienen gäbe, wenn er zu schweigen verstünde.

Gegen Abend, als die Sonne sank, ritt Fabrizzio auf einem kleinen Pferd in Ferrara ein. Er hatte diese Erleichterung sehr nötig; die Hitze auf dem Strom hatte ihn arg mitgenommen. Die Messerwunde im Schenkel und die Wunde an der Schulter, die ihm Giletti zu Anfang des Kampfes mit dem Degen beigebracht hatte, waren entzündet, und Fabrizzio hatte Fieber.


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