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Der jüdische Hauswirt hatte einen verschwiegenen Wundarzt holen lassen, der ebenfalls erkannte, daß hier Geld zu verdienen war. Er sagte zu Ludovico, sein Gewissen verpflichte ihn, der Polizei von der Verwundung des jungen Mannes, den Ludovico für seinen Bruder ausgab, Anzeige zu machen.
»Die Vorschriften verlangen es«, fügte er hinzu. »Augenscheinlich hat sich Ihr Bruder nicht selber verletzt, wie er erzählt, beim Sturz von einer Leiter, gerade als er ein blankes Messer in der Hand hielt.«
Ludovico entgegnete diesem Ehrenmann von einem Arzt gelassen, wenn dieser sich einfallen ließe, seinem Gewissen zu gehorchen, würde er vor seinem Weggang von Ferrara die Ehre haben, mit einem blanken Messer in der Hand ausgerechnet auf ihn zu fallen.
Als er Fabrizzio von diesem Vorgang berichtete, tadelte dieser ihn sehr, aber es war zur Flucht kein Augenblick mehr zu verlieren. Ludovico sagte zu dem Juden, er wolle versuchen, seinen Bruder an die frische Luft zu führen. Er holte einen Wagen, und unsere Freunde verließen das Haus auf Nimmerwiederkehr.
Zweifellos findet der Leser die Erzählung aller dieser Maßregeln, die das Fehlen des Passes notwendig machte, recht weitschweifig. Eine derartige Überwachung gibt es in Frankreich nicht mehr; aber in Italien, zumal in der Po-Gegend, dreht sich alles um den Paß.
Als sie ohne Zwischenfall aus Ferrara hinaus waren, schickte Ludovico den Wagen zurück, als ob sie einen Spaziergang machen wollten; dann ging er durch ein anderes Tor allein wieder in die Stadt und holte Fabrizzio mit einer Kutsche ab, die er auf zwölf Meilen gemietet hatte.
In der Nähe von Bologna ließen sich unsere Freunde querfeldein nach der großen Straße fahren, die von Bologna nach Florenz führt. Sie verbrachten die Nacht in der elendesten Herberge, die sie entdecken konnten. Da sich Fabrizzio am anderen Morgen kräftig genug fühlte, ein Stück zu laufen, betraten sie Bologna wie Spaziergänger. Gilettis Paß war verbrannt worden. Der Tod des Komödianten mußte bekannt geworden sein, und so war weniger Gefahr dabei, ohne Paß festgenommen zu werden, als mit dem Paß des Getöteten.
In Bologna kannte Ludovico zwei oder drei Diener in herrschaftlichen Häusern. Es wurde verabredet, er solle ihnen ein Märchen aufbinden. Er erzählte ihnen, er käme aus Florenz und sei mit seinem jüngeren Bruder gewandert. Jener sei ermüdet zurückgeblieben, während er allein weitergegangen wäre, eine Stunde vor Sonnenaufgang. In der Stadt hätten sie sich wieder treffen wollen. Als der Bruder aber nicht nachkam, sei er, Ludovico, umgekehrt und habe den anderen am Wege gefunden, verwundet durch einen Steinwurf und etliche Messerstiche, überdies ausgeplündert. Dieser Bruder sei ein hübscher Bursche, der reiten und fahren, schreiben und lesen könne; er suche eine Stellung in einem guten Hause. Falls sich die Gelegenheit böte, wollte Ludovico hinzufügen, die Räuber hätten dem am Boden Liegenden den Reisesack mit seiner Wäsche und seinen Paß abgenommen.
Bei seiner Ankunft in Bologna fühlte sich Fabrizzio sehr ermüdet. Aber da er sich ohne Paß in kein Wirtshaus wagte, so trat er in die riesenhafte Kirche von San Petronio ein. Drinnen herrschte eine köstliche Kühle; bald fühlte er sich wieder ganz frisch.
›Wie undankbar ich bin!‹ fiel ihm plötzlich ein. ›Ich gehe in eine Kirche, und zwar um mich auszuruhen wie in einem Kaffeehaus!‹
Er warf sich auf die Kniee und dankte Gott inbrünstig für den sichtlichen Schutz, den er ihm habe angedeihen lassen, seit er das Unglück gehabt, Giletti zu töten. Noch in der Erinnerung schauderte ihn vor der überstandenen Gefahr bei den Polizisten von Casalmaggiore. ›Warum hat der Beamte,‹ sagte er sich, ›dessen Blicke mich so argwöhnisch musterten und der meinen Paß wohl dreimal durchgelesen hat, nicht bemerkt, daß ich nicht fünf Fuß zehn Zoll groß bin, daß ich keine achtunddreißig Jahre alt bin, daß ich keine Blatternarben habe? Wieviel Dank schulde ich dir, du mein Gott! Und ich vermochte bis zu diesem Augenblick zu zögern, dir mein Nichts zu Füßen zu legen! Mein Stolz wollte mich zu dem Wahn verleiten, nichtige irdische Vorsicht sei es gewesen, der ich das Glück verdanke, dem Spielberg entronnen zu sein, der sich schon öffnete, mich zu verschlingen.‹
Mehr als eine Stunde verbrachte Fabrizzio in dieser äußerst gerührten Stimmung über die ewige Güte Gottes. Ludovico näherte sich Fabrizzio, der sein Wiederkommen nicht hörte, und blieb vor ihm stehen. Fabrizzio, der die Stirn mit seinen Händen bedeckt hatte, blickte auf, und sein treuer Begleiter sah die Tränen, die von seinen Wangen rannen.
»Kommen Sie in einer Stunde wieder!« sagte Fabrizzio ziemlich barsch zu ihm.
Ludovico verzieh ihm diesen Ton aus Frömmigkeit. Fabrizzio sagte mehrere Male die sieben Bußpsalmen her, die er auswendig wußte; lange verweilte er bei den Versen, die zu seiner gegenwärtigen Lage in Beziehung standen.
Er bat Gott für vielerlei um Vergebung, aber sonderbarerweise kam ihm nicht in den Sinn, unter seine Sünden auch seine Absicht zu rechnen, Erzbischof lediglich deshalb werden zu wollen, weil der Graf Mosca Premierminister war und diese Stelle und die damit verknüpfte hohe Würde für den Neffen der Duchezza passend fand. Er hatte leidenschaftslos danach gestrebt, das ist wahr, aber doch daran gedacht wie an eine Minister- oder Generalsstelle. Nie war ihm der Gedanke gekommen, daß sein Gewissen durch diesen Plan der Duchezza mit betroffen werde. Das ist ein bemerkenswerter Zug der Religionsauffassung, die er der Erziehung bei den Jesuiten in Mailand verdankte. Ihre Lehre unterdrückt den Mut, über ungewöhnliche Dinge nachzudenken, und verbietet ganz besonders die Selbstbetrachtung als die gröblichste aller Sünden, als eine Neigung zum Protestantismus. Um seine Schuld zu erfahren, muß man seinen Beichtvater befragen oder das Sündenverzeichnis nachlesen, so wie es in den Büchern mit dem Titel ›Vorbereitung zum Sakrament der Buße‹ gedruckt steht. Fabrizzio wußte das in lateinischer Sprache abgefaßte Sündenverzeichnis auswendig, das er auf der geistlichen Akademie in Neapel gelernt hatte. Indem er also dieses Verzeichnis durchging und an den Punkt vom Töten kam, klagte er sich vor Gott allerdings an, einen Menschen getötet zu haben, aber es war ja aus Notwehr geschehen. Rasch und ohne jede Aufmerksamkeit ging er über die verschiedenen die Simonie betreffenden Punkte hinweg. Darunter versteht man, sich geistliche Würden für Geld zu verschaffen. Hätte man ihm vorgeschlagen, hundert Louis zu zahlen, um Erster Großvikar des Erzbischofs von Parma zu werden, so hätte er solches Ansinnen mit Abscheu von sich gewiesen. Obgleich es ihm nicht an Geist gebrach noch gar an Logik, war es ihm dennoch kein einziges Mal in den Sinn gekommen, daß die zu seinen Gunsten verwendete Macht des Grafen Mosca Simonie sei. Es ist der Triumph der jesuitischen Erziehung, sich gewohnheitsmäßig über Dinge hinwegzusetzen, die klarer sind als das Sonnenlicht. Ein Franzose, der im Pariser Dunstkreis der Eigenliebe und der Ironie erzogen ist, hätte, ohne ungerecht zu sein, Fabrizzio der Heuchelei gerade in dem Augenblick bezichtigen können, da unser Held seine Seele mit der größten Aufrichtigkeit und der tiefsten Ergriffenheit vor Gott auftat.
Ehe Fabrizzio die Kirche verließ, bereitete er sich auf die Beichte vor, zu der er am nächsten Tage zu gehen sich vornahm. Er fand Ludovico auf den Stufen der großen steinernen Säulenhalle sitzen, die sich über dem großen Platz vor der Fassade von San Petronio erhebt. Wie nach einem Gewittersturm die Luft reiner ist, so war Fabrizzios Seele ruhig, glücklich und wie aufgefrischt.
»Ich fühle mich sehr wohl; ich spüre meine Wunden fast nicht mehr;« redete er Ludovico an, »aber zunächst muß ich dich um Verzeihung bitten. Ich habe dir unwirsch geantwortet, als du in der Kirche mit mir reden wolltest. Ich hielt gerade Zwiesprache mit mir. – Nun, wie steht es mit unserer Sache?«
»Vortrefflich steht sie. Ich habe eine Wohnung, die allerdings Eurer Exzellenz nicht ganz würdig ist, bei der Frau eines meiner Freunde gemietet. Ein bildhübsches Weib, überdies in engen Beziehungen zu einem der ersten Polizeibeamten. Morgen werde ich melden, wie uns unsere Pässe gestohlen worden sind. Dieses Märchen wird gefällige Ohren finden, aber ich werde das Porto für den Brief bezahlen, den die Polizei nach Casalmaggiore schreiben wird, um festzustellen, ob es in jener Gemeinde einen gewissen Ludovico San Micheli gebe und ob er einen Bruder namens Fabrizzio habe, der im Dienst der Frau Duchezza Sanseverina in Parma stehe. Die Sache ist gemacht. Wir sind gerettet!«
Fabrizzio nahm plötzlich eine sehr ernste Miene an. Er bat Ludovico, einen Augenblick zu warten, ging abermals, beinahe eilig, in die Kirche und sank, kaum drinnen, wiederum in die Kniee. Demütig küßte er die Steinfliesen.
»Herr, das ist ein Wunder!« rief er aus, Tränen in den Augen. »Da du meine Seele bereit sahst, zu ihrer Pflicht zurückzukehren, hast du mich gerettet. Großer Gott, es ist möglich, daß ich bei irgendwelcher Gelegenheit getötet werde: gedenke in meiner Todesstunde des Zustandes, in dem sich meine Seele in diesem Augenblick befindet!«
Voll innigster Freude sagte Fabrizzio nochmals die sieben Bußpsalmen her. Ehe er hinausging, trat er an eine alte Frau heran, die unter einem großen Madonnenbilde saß, neben einem eisernen Triangel auf einem Gestell aus gleichem Metall. Auf dem Rande hatte der Triangel eine Menge kleine Stacheln, um die Kerzen festzuhalten, die fromme Gläubige vor der berühmten Madonna von Cimabue anzündeten. Nur sieben Kerzen brannten, als Fabrizzio herantrat. Er prägte diesen Umstand seinem Gedächtnis ein in der Absicht, später mit Muße darüber nachzudenken.
»Was kosten die Lichte?« fragte er die Frau.
»Zwei Bajokkos das Stück.«
Sie waren tatsächlich nicht stärker als ein Federkiel und keinen Fuß lang.
»Wieviel Lichte kann man noch auf Eueren Triangel stecken?«
»Dreiundsechzig, weil schon sieben daraufbrennen.«
›Aha,‹ sagte sich Fabrizzio, ›dreiundsechzig und sieben macht siebzig. Das muß ich mir ebenfalls merken.‹
Er bezahlte die Kerzen, steckte sie auf und brannte die ersten sieben selber an, dann kniete er nieder, um zu beten. Als er wieder aufstand, meinte er zu der Alten: »Das ist für empfangene Gnade!«
Als er wieder zu Ludovico trat, sagte er: »Ich sterbe vor Hunger.«
»In eine Kneipe können wir auf keinen Fall gehen. Gehen wir in die Wohnung! Die Wirtin wird Ihnen das Frühstück holen. Sie wird Sie um ein paar Groschen prellen, dafür aber dem neuen Mieter um so geneigter sein.«
»Das heißt mit anderen Worten, daß ich eine volle Stunde länger hungern soll«, sagte Fabrizzio und lachte heiter wie ein Kind. Er trat in eine Kneipe neben San Petronio. Zu seinem höchsten Erstaunen bemerkte er am Nebentisch Peppo, den ersten Kammerdiener seiner Tante, denselben, der ihm einst bis Genf entgegengekommen war. Fabrizzio machte ihm ein Zeichen, zu schweigen. Dann, nach einem hastigen Frühstück, bei dem ihm das Lächeln des Glücks um die Lippen spielte, stand er auf. Peppo folgte ihm, und zum dritten Male betrat unser Held die Kirche San Petronio. Taktvoll blieb Ludovico draußen und wandelte auf dem Platz auf und ab.
»O mein Gott, Monsignore! Was machen Ihre Wunden? Die Frau Duchezza ist in fürchterlicher Unruhe. Einen ganzen Tag hat sie geglaubt, Sie seien tot, umgekommen auf irgendeiner Po-Insel. Ich will gleich einen Eilboten absenden. Ich suche Sie seit sechs Tagen. Drei war ich in Ferrara, wo ich alle Gasthäuser abgesucht habe.«
»Haben Sie einen Paß für mich?«
»Drei verschiedene: einen mit dem vollen Namen und allen Titeln Eurer Exzellenz, einen nur mit dem Namen und den dritten mit einem falschen Namen, Giuseppe Bossi. Alle drei sind so ausgestellt, daß Eccellenza nach Belieben von Florenz oder Modena her eintreffen können. Sie brauchen nur einen Ausflug in die Umgebung der Stadt zu machen. Der Herr Graf sähe es gern, wenn Sie im Albergo del Pellegrino absteigen wollten. Der Wirt ist sein Freund.«
Fabrizzio tat, als ginge er aufs Geratewohl, und schritt im rechten Seitenschiff bis an die Stelle, wo seine Kerzen brannten. Seine Blicke hefteten sich auf die Madonna von Cimabue. Indem er niederkniete, sagte er zu Peppo: »Ich muß schnell ein Dankgebet sprechen.«
Peppo tat desgleichen. Beim Verlassen der Kirche bemerkte er, daß Fabrizzio dem ersten Armen, der ihn anbettelte, ein Zwanzigfrankenstück gab. Der Bettler stieß vor Überraschung einen Schrei aus, was dem mildtätigen Geber Schwärme von Bettlern aller Art, wie sie gewöhnlich die Piazza San Petronio zieren, auf den Hals hetzte. Alle wollten ihr Teil an dem Napoleon haben. Die Weiber, die keine Aussicht hatten, sich durchzudrängen, stürzten auf Fabrizzio zu und schrieen auf ihn ein, ob er wirklich nicht gewollt habe, daß sein Napoleon unter sämtliche Arme des lieben Gottes verteilt werde. Peppo schwang seinen Rohrstock mit goldenem Knauf und gebot ihnen, Seine Exzellenz in Ruhe zu lassen.
»Ah, Eccellenza,« fingen alle diese Weiber in noch gellenderer Tonart an, »Eccellenza, geben Sie auch für die armen Frauen einen Napoleondor!«
Fabrizzio verdoppelte seine Schritte; die Weiber folgten ihm schreiend. Dazu kam eine Menge Bettler, die aus allen Straßen herbeieilten. Es entstand ein Auflauf. Dieser ganze entsetzlich schmutzige und hartnäckige Volkshaufe schrie in einem fort: »Eccellenza!« Fabrizzio hatte viel Mühe, die Rotte los zu werden. Der Vorfall rief seine Phantasie zur Erde zurück. ›Ich verdiene es nicht anders‹, sagte er sich. ›Ich habe mich mit der Canaille abgegeben.‹
Zwei Weiber verfolgten ihn bis zur Porta di Saragozza, durch die er die Stadt verließ. Peppo hielt sie zurück, indem er ihnen ernstlich mit seinem Stock drohte und ihnen ein paar Münzen hinwarf. Fabrizzio erstieg den reizenden Hügel von San Michele in Bosco, umwanderte einen Teil der Stadt außerhalb der Umwallung, schlug einen Fußweg ein und erreichte fünfhundert Schritt vor der Stadt die große Straße nach Florenz. Auf ihr ging er dann nach Bologna zurück. Feierlich übergab er dem Polizeibeamten den einen Paß, auf dem er in genauester Weise beschrieben war. Dieser Paß nannte ihn Giuseppe Bossi, Student der Theologie. Unten in der rechten Ecke des Papiers entdeckte Fabrizzio einen winzigen roten Tintenklecks, wie zufällig daraufgespritzt. Zwei Stunden später folgte ihm auf Schritt und Tritt ein Spitzel. Daran war der Titel Eccellenza schuld, mit dem ihn sein Gefährte vor den Bettlern von San Petronio angeredet hatte, wo doch sein Paß keinen Stand angab, der ihm die Berechtigung gegeben hätte, sich von seiner Dienerschaft mit Eccellenza anreden zu lassen.
Fabrizzio bemerkte den Spitzel und belustigte sich höchlichst darüber. Er dachte nicht mehr an Pässe und Polizei und ergötzte sich an allem wie ein Kind. Peppo, der Befehl hatte, um ihn zu bleiben, sah, wie zufrieden er mit Ludovico war, und zog es vor, der Duchezza so gute Nachrichten persönlich zu bringen. Fabrizzio schrieb zwei ellenlange Briefe an die beiden Menschen, die ihm teuer waren; dann hatte er den Einfall, einen dritten an den hochwürdigen Erzbischof Landriani zu schreiben. Dieser Brief hatte eine wunderbare Wirkung. Er enthielt einen ziemlich genauen Bericht seines Kampfes mit Giletti. Der treffliche Erzbischof war ganz gerührt und verfehlte nicht, den Brief dem Fürsten vorzulesen, der ihn mit Behagen anhörte, da er reichlich neugierig war, zu erfahren, wie dieser junge Monsignore es wohl anfinge, einen so abscheulichen Totschlag zu beschönigen. Dank den zahlreichen Freunden der Raversi war der Fürst und nicht minder die ganze Stadt Parma der Meinung, Fabrizzio habe mit Hilfe von zwanzig bis dreißig Bauern einen elenden Komödianten umgebracht, weil dieser die Frechheit gehabt hatte, ihm die kleine Marietta streitig zu machen. An Despotenhöfen verfügt der erste geschickte Ränkeschmied über die Wahrheit wie in Paris die Mode.
»Aber zum Teufel,« sagte der Fürst zum Erzbischof, »dergleichen läßt man doch durch andere abmachen! Selbst Hand anlegen ist nicht Brauch. Und dann bringt man einen solchen Komödianten wie Giletti nicht um; man erkauft ihn.«
Fabrizzio hatte keine Ahnung von dem, was in Parma vorging. In der Tat handelte es sich um die Frage: Wird der Tod dieses Komödianten, der zu Lebzeiten zweiunddreißig Lire im Monat verdient hat, den Sturz des konservativen Ministeriums und seines obersten Leiters, des Grafen Mosca, nach sich ziehen?
Als Serenissimus den Tod Gilettis erfuhr, hatte er, aufgebracht über das herrische Gebaren der Duchezza, dem Großfiskal Rassi Befehl erteilt, den ganzen Prozeß so zu führen, als handle es sich um einen Liberalen. Fabrizzio dagegen glaubte, ein Mann seines Ranges stehe jenseits der Gesetze; er zog nicht in Betracht, daß in Ländern, wo Träger großer Namen niemals bestraft werden, die Intrige alles vermag, selbst gegen sie. Des öfteren sprach er mit Ludovico von seiner völligen Schuldlosigkeit, die sehr bald offenbar werden müsse. Sein Hauptbeweis war, daß er nicht schuldig sei. Darauf sagte Ludovico eines Tages zu ihm: »Ich begreife nicht, daß Eure Exzellenz bei aller Klugheit und Gelehrsamkeit sich die Mühe nimmt, solche Dinge mir zu sagen, mir, der ich Ihr untertäniger Diener bin. Eccellenza gebrauchen allzuviel Vorsicht. Derlei ist in der Öffentlichkeit oder vor Gericht angebracht.«
›Dieser Mensch hält mich für einen Mörder‹, sagte sich Fabrizzio, ›und liebt mich trotzdem.‹ Er war wie aus den Wolken gefallen.
Drei Tage nach Peppos Abreise empfing er zu seinem höchsten Erstaunen ein Riesenschreiben, das mit einer Seidenschnur umschlungen war wie zu Ludwigs XIV. Zeiten und die Aufschrift trug: ›Seiner Exzellenz, Hochwürden, Monsignore Fabrizzio del Dongo, Erstem Großvikar der Diözese von Parma, Kanonikus etc.‹
›Bin ich denn das alles noch?‹ sagte er sich lachend.
Dieses Schreiben des Erzbischofs Landriani war ein Meisterstück von Logik und Klarheit. Es enthielt auf nicht weniger als neunzehn Quartseiten einen ganz genauen Bericht über alles, was sich seit Gilettis Tode in Parma zugetragen hatte.
›Das Anrücken einer französischen Armee unter dem Befehl des Marschalls Ney‹, schrieb der gute Erzbischof, ›hätte nicht mehr Aufsehen erregen können. Mit Ausnahme der Duchezza und mir, mein lieber Sohn, glaubt jedermann, Sie hätten sich den Spaß gemacht, den Histrionen Giletti zu ermorden. Wäre Ihnen dieses Unglück zugestoßen, so ließe sich das mit zweihundert Louis und einer sechsmonatigen Abwesenheit in Vergessenheit bringen. Aber die Raversi will den Grafen Mosca mit Hilfe dieses Vorfalls stürzen. Es ist keineswegs die abscheuliche Sünde des Mordes, was die öffentliche Meinung Ihnen vorwirft, sondern allein die Ungeschicklichkeit oder, besser gesagt, die Dreistigkeit, die Sache nicht lieber einem Bulo, einem gedungenen Mörder, übertragen zu haben. Ich teile Ihnen in klaren Worten die Redereien mit, die überall im Schwange sind, denn seit dem bedauerlichen Unglück habe ich Tag für Tag in drei der angesehensten Häuser Besuche gemacht, um Gelegenheit zu finden, Sie zu rechtfertigen. Und wohl nie habe ich einen heiligeren Gebrauch von der geringen Beredsamkeit gemacht, die mir der Himmel zu verleihen die Gnade gehabt hat.‹
Wie Schuppen fiel es von Fabrizzios Augen. Die zahlreichen Briefe der Duchezza, übervoll von innigster Freundschaft, hatten davon kein Wort erwähnt. Die Duchezza schwor ihm, sie wolle Parma auf immer verlassen, wenn er nicht bald im Triumph wiederkehren könne. ›Der Graf will alles für Dich tun, was menschenmöglich ist‹, schrieb sie in dem Briefe, der gleichzeitig mit dem des Erzbischofs ankam. ›Was mich betrifft, so hast Du durch diesen schönen Streich meinen Charakter umgewandelt. Ich bin jetzt genau so geizig wie der Bankier Torlonia. Ich habe alle meine Arbeiter weggeschickt; mehr noch, ich habe dem Grafen eine Aufnahme meines Vermögens diktiert, wobei es sich herausgestellt hat, daß es viel unbedeutender ist, als ich gedacht hatte. Beim Tode des trefflichen Grafen Pietranera, den Du übrigens viel lieber hättest rächen sollen, als daß Du Dich eines Menschen vom Schlage Gilettis wegen in Gefahren stürztest, sind mir zwölfhundert Lire Pension und fünftausend Franken Schulden verblieben. Ich erinnere mich unter anderem, daß zweieinhalb Dutzend weiße Pariser Atlasschuhe da waren und nur ein einziges Paar Straßenstiefel. Ich habe große Lust, die dreihunderttausend Franken, die mir der Duca vermacht hat und die ich zur Errichtung eines großartigen Grabmals für ihn verwenden wollte, für mich zu nehmen. Übrigens ist die Marchesa Raversi Deine Erzfeindin, weil sie die meine ist. Wenn Du Dich in Bologna langweilst, brauchst Du nur ein Wort zu schreiben, und ich komme zu Dir. Anbei vier weitere Schecks‹, und so weiter.
Die Duchezza erwähnte mit keinem Wort, wie man seine Angelegenheit in Parma auffaßte; sie wollte ihn vor allem trösten, und überdies erschien ihr der Tod einer so lächerlichen Person wie Giletti zu geringfügig, einem del Dongo einen ernstlichen Vorwurf daraus zu machen. »Wieviel Gilettis haben unsere Vorfahren in das Jenseits befördert,« sagte sie einmal zum Grafen, »ohne daß ein Hahn danach gekräht hat!«
Fabrizzio, dem zum ersten Male eine Ahnung über den wahren Stand der Dinge aufging, war arg betroffen und vertiefte sich in den Brief des Erzbischofs. Unglücklicherweise hielt ihn der Prälat für besser im Bilde, als er es wirklich war. Fabrizzio begriff, daß die Marchesa Raversi besonders deshalb frohlockte, weil es unmöglich war, Augenzeugen jenes unseligen Zweikampfes aufzufinden. Die kleine Marietta und die alte Mammaccia waren spurlos verschwunden. Der Kutscher, der die drei gefahren hatte, war von der Marchesa bestochen worden und hatte daraufhin eine schändliche Aussage gemacht.
›Obgleich die gerichtliche Untersuchung in tiefster Heimlichkeit geführt wird‹, schrieb der gute Erzbischof in seinem ciceronianischen Stil, ›und in den Händen des Großfiskals Rassi liegt, über den Schlechtes zu sagen mich lediglich die christliche Nächstenliebe abhält, der aber sein Glück gemacht hat, indem er hinter unglücklichen Angeklagten her war wie ein Jagdhund hinter dem Hasen, obgleich dieser Rassi, sage ich, dessen Schändlichkeit und Bestechlichkeit Ihre Phantasie sich nicht schlimm genug ausmalen kann, durch den aufgebrachten Fürsten mit der Führung des Prozesses beauftragt ist, habe ich doch die drei Aussagen des Kutschers zu Gesicht bekommen. Zum größten Glück hat sich dieser Unselige widersprochen. Und ich will hinzufügen, weil ich zu meinem Großvikar spreche, zu dem, der nach mir der Oberhirt dieser Diözese werden soll, daß ich den Pfarrer des Sprengels, dem dieser verirrte Sünder angehört, ins Gebet genommen habe. Ich will Ihnen sagen, mein heißgeliebter Sohn, aber unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses, daß dieser Pfarrer durch die Frau des Kutschers bereits weiß, wieviel Taler er von der Marchesa Raversi erhalten hat. Ich wage nicht zu behaupten, die Marchesa habe von ihm verlangt, Sie zu verdächtigen, aber wahrscheinlich ist es so. Das Geld ist ihm durch einen unglücklichen Priester ausgehändigt worden, der bei dieser Marchesa eine wenig ehrenvolle Rolle spielt und dem ich bereits zum zweiten Male das Messelesen verbieten mußte. Ich will Sie nicht mit der Aufzählung einiger weiterer Schritte ermüden, die Sie von mir erwarten mußten und die überdies zu meinen Pflichten gehören. Ein Kanonikus, Ihr Amtsgenosse an der Kathedrale, der sich übrigens allzuoft des Einflusses erinnert, den ihm das Vermögen seiner Familie gewährt, deren einziger Erbe er durch Gottes Ratschluß geblieben ist, hat im Hause des Grafen Zurla, des Ministers des Inneren, zu äußern gewagt, er hielte diese ganze Belanglosigkeit als zu Ihren Ungunsten bewiesen und sprach von der ›Ermordung‹ des unglücklichen Giletti. Ich habe ihn zu mir kommen lassen und in Gegenwart meiner drei anderen Großvikare, meines Almoseniers und zweier Pfarrer, die gerade im Vorzimmer warteten, um die Erklärung ersucht, worauf sich seine Überzeugung von der Schuld seines Amtsgenossen an der Kathedrale stütze. Der Unselige vermochte nur wenig stichhaltige Gründe herzustammeln. Alle Anwesenden waren empört über ihn, und obwohl ich ihm nur ein paar kurze Worte sagen zu müssen glaubte, brach er in Tränen aus und legte vor uns ein volles Geständnis seines tiefen Irrtums ab. Darauf sicherte ich ihm in meinem wie in aller Anwesenden Namen Stillschweigen über diese Unterredung zu, aber unter der Bedingung, daß er alles aufböte, um die falschen Gerüchte zu entkräften, die seit vierzehn Tagen durch seine Äußerungen in Umlauf seien.
Ich will Ihnen, mein lieber Sohn, keineswegs wiederholen, was Sie sicherlich längst wissen, zum Beispiel, daß von den vierunddreißig Bauern, die vom Grafen Mosca bei den Ausgrabungen angestellt waren und von denen die Raversi behauptet, sie seien von Ihnen zur Beihilfe an einem Verbrechen besoldet worden, zweiunddreißig unten im Graben in ihre Arbeit vertieft waren, als Sie den Hirschfänger in die Hände bekamen und ihn aus Notwehr gegen den Menschen gebrauchten, der Sie so unversehens angegriffen hatte. Zwei Bauern, die gerade nicht im Graben waren, haben den anderen zugerufen: ›Man mordet den Monsignore!‹ Dieser Ruf allein beweist sonnenklar Ihre Schuldlosigkeit. Nun aber behauptet der Gerichtspräsident Rassi, diese beiden Männer seien verschwunden. Mehr noch, man hat acht von denen verhört, die im Graben gearbeitet haben. Von ihnen haben sechs beim ersten Verhör ausgesagt, sie hätten den Ruf: ›Man mordet den Monsignore!‹ gehört. Ich habe auf Umwegen festgestellt, daß sie beim fünften Verhör, das gestern abend stattgefunden hat, bis auf einen ausgesagt haben, sie könnten sich nicht besinnen, ob sie den Ruf selbst gehört hätten oder ob das nur von einem ihrer Kameraden erzählt worden wäre. Ich habe angeordnet, den Aufenthaltsort dieser Erdarbeiter zu ermitteln; ihre Beichtväter werden ihnen dann ins Gewissen reden, daß sie sich die Verdammnis zuziehen, wenn sie sich für ein paar Taler zu falschem Zeugnis verleiten lassen.‹
Der gute Erzbischof verlor sich in endlose Einzelheiten, wie man aus dem Angeführten bereits ersehen kann. Dann fuhr er in lateinischer Sprache fort: ›Die ganze Geschichte ist nur ein Versuch, das Ministerium zu stürzen. Falls Sie verurteilt würden, könnte es nur zu Zuchthaus oder zum Tode sein. Ich würde von meinem bischöflichen Stuhl herab dagegen Einspruch erheben und erklären, ich wüßte, daß Sie unschuldig seien, daß Sie ganz einfach Ihr Leben gegen einen Briganten verteidigt hätten, und schließlich, daß ich Ihnen verboten hätte, nach Parma zurückzukehren, solange Ihre Feinde die Oberhand hätten. Ich bin sogar gewillt, den Großfiskal verdientermaßen an den Pranger zu stellen. Man haßt diesen Menschen allgemein; niemand schätzt seinen Charakter. Ferner würde am Tage, bevor der Großfiskal dieses so ungerechte Urteil ausspräche, die Duchezza Sanseverina die Stadt und vielleicht gar die Lande Parmas verlassen. Selbstverständlich reichte dann der Graf Mosca sofort seine Entlassung ein. Höchstwahrscheinlich käme dann der General Fabio in das Ministerium, und die Marchesa Raversi würde triumphieren. Das Schlimmste an Ihrer Sache ist, daß man keinen geeigneten Mann damit beauftragt hat, die nötigen Untersuchungen zum Beweise Ihrer Schuldlosigkeit anzustellen und die Bestechungsversuche an den Zeugen zu enthüllen. Graf Mosca denkt, er tue das, aber er ist viel zu sehr Grandseigneur, sich zu gewissen Kleinigkeiten herabzulassen. Zudem hat er in seiner Eigenschaft als Polizeiminister im ersten Augenblick die strengsten Maßregeln gegen Sie ergreifen müssen. Kurzum, – darf ich es sagen? Serenissimus hält Sie für schuldig, zum mindesten trägt er diesen Glauben zur Schau, wodurch sich die Sache noch mehr zuspitzt.‹
Die Worte von ›Serenissimus‹ bis ›zur Schau‹ waren in griechischen Buchstaben geschrieben, und Fabrizzio empfand eine grenzenlose Dankbarkeit, weil der Erzbischof sie zu schreiben gewagt hatte. Er schnitt diese Stelle mit einer Schere aus und vernichtete sie augenblicklich.
Zwanzigmal unterbrach sich Fabrizzio beim Lesen; Regungen innigster Dankbarkeit durchfluteten ihn. Ohne Verzug antwortete er mit einem acht Seiten langen Brief. Oft mußte er sich aufrichten, damit seine Tränen nicht auf das Papier tropften. Am anderen Morgen, als er eben den Brief siegeln wollte, fand er den Stil zu weltlich. ›Ich werde in lateinischer Sprache schreiben‹, sagte er sich. ›Das wird dem ehrwürdigen Erzbischof schicklicher erscheinen.‹ Als er aber nach recht schönen und fein gedrechselten lateinischen Redensarten in ciceronianischem Stil suchte, fiel ihm ein, daß der Erzbischof im Gespräch einmal Napoleon absichtlich Bonaparte genannt hatte; und im Nu war all die Rührung verschwunden, die ihn am Tage zuvor bis zu Tränen ergriffen hatte. »O König von Italien,« rief er aus, »die Treue, die dir bei Lebzeiten so viele andere gelobt haben, ich will sie dir nach deinem Tode halten! Der Erzbischof liebt mich, zweifellos aber, weil ich ein del Dongo bin und er der Sohn eines Spießbürgers ist.« Damit sein schöner italienischer Brief keine verlorene Sache sei, brachte er einige nötige Änderungen darin an und sandte ihn an den Grafen Mosca ab.
Am selben Tage begegnete Fabrizzio auf der Straße der kleinen Marietta. Sie wurde rot vor Glück und gab ihm ein Zeichen, ihr stumm zu folgen. Rasch lief sie in einen einsamen Säulengang. Dort zog sie den schwarzen Spitzenschleier, den sie nach landesüblicher Mode um den Kopf trug, noch dichter zusammen, so daß man sie nicht erkennen konnte. Dann wandte sie sich flink um.
»Wie kommt es,« sagte sie zu Fabrizzio, »daß Sie so frei auf der Straße gehen?«
Fabrizzio erzählte ihr seine Erlebnisse.
»Großer Gott! Sie waren in Ferrara! Und ich habe Sie dort so gesucht! Wissen Sie, ich habe mich mit der Alten überwerfen, weil sie mich nach Venedig schleppen wollte, wo ich doch wußte, daß Sie niemals dorthin gingen, da Sie auf der schwarzen Liste der Österreicher stehen. Ich habe meine goldene Halskette verkauft, um nach Bologna zu kommen. Eine Ahnung sagte mir, daß ich hier das Glück hätte, Sie wiederzusehen. Vor zwei Tagen ist mir die Alte nachgekommen. Ich möchte Sie also bitten, uns nicht zu besuchen; die Alte ginge Sie wieder mit ihren gemeinen Geldbetteleien an, deren ich mich so schäme. Wir haben seit jenem Unglückstag, wissen Sie, sehr anständig gelebt und doch nicht den vierten Teil von dem ausgegeben, was Sie uns geschenkt haben. Ich möchte Sie auch nicht im Albergo del Pellegrino besuchen. Das wäre zu öffentlich. Mieten Sie doch ein Stübchen in einer entlegenen Straße, und nach dem Ave- Maria werde ich mich wieder hier unter diesem Säulengang einfinden.«
Mit diesen Worten entschwand sie.