Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

In der Zeit ihres Unglücks, ungefähr schon vor einem Jahre, hatte die Duchezza eine seltsame Bekanntschaft gemacht. Eines Tages, als die Luna sie anwandelte, wie man dortzulande zu sagen pflegt, war sie von ihrem Schlosse Sacca, das hinter Colorno auf einem Hügel über dem Po liegt, aufs Geratewohl hinausgewandert. Es machte ihr Freude, dieses Landgut zu verschönern; sie liebte den endlosen Wald, der das Hügelland krönte und bis an ihr Schloß reichte. Sie beschäftigte sich damit, Pfade nach den malerischsten Punkten anzulegen.

»Sie werden noch einmal von Räubern entführt werden, schöne Duchezza!« sagte Serenissimus eines Tages zu ihr. »Es ist unmöglich, daß ein Wald einsam bleibt, von dem man weiß, Sie gehen darin spazieren.« Der Fürst warf einen Seitenblick auf den Grafen Mosca, dessen Eifersucht anzustacheln er erpicht war.

»Ich habe keine Furcht, Serenissimus,« erwiderte die Duchezza in treuherzigem Ton, »wenn ich durch meine Wälder gehe. Mich macht der Gedanke sicher: ich tue niemandem etwas zuleide, wer sollte mich hassen?« Diese Antwort fand man kühn; sie erinnerte an gewisse hämische Bemerkungen im Munde der Liberalen des Landes, also unverschämter Leute.

An jenem Abendspaziergang im Walde kam der Duchezza die Warnung des Fürsten wieder in den Sinn, als sie bemerkte, daß ihr ein schlecht gekleideter Mensch von weitem folgte. Bei einer unerwarteten Wegbiegung näherte sich der Unbekannte derart, daß sie in Angst geriet. Im ersten Schreck rief sie nach ihrem Gärtner, den sie tausend Schritt entfernt im Blumengarten des Schlosses wußte. Der Fremdling trat inzwischen dicht an sie heran und fiel vor ihr auf die Kniee. Es war ein auffällig schöner junger Mann, der nur abscheulich angezogen war. Seine Kleider hatten fußlange Risse, aber seine Augen atmeten das Feuer einer glühenden Seele.

»Ich bin zum Tode verurteilt. Ich bin der Doktor Ferrante Palla. Ich komme samt meinen fünf Kindern vor Hunger um.«

Die Duchezza sah, daß er gräßlich mager war, aber seine Augen waren so schön und so voll zärtlicher Schwärmerei, daß man ihm kein Verbrechen zutrauen konnte. ›Solche Augen‹, dachte sie, ›hätte PalagiPalagio Palagi (1775-1860), ein Schüler Appianis, war Direktor der Akademie in Rom, später Professor in Mailand. seinem jüngst in der Kathedrale aufgehängten ›Johannes in der Wüste‹ verleihen sollen.‹ Auf den Gedanken an Johannes den Täufer hatte sie die unglaubliche Magerkeit Ferrantes gebracht. Die Duchezza gab ihm die drei Zechinen, die sie bei sich hatte, wobei sie sich entschuldigte, daß sie ihm so wenig darreiche; sie habe gerade ihrem Gärtner eine Rechnung bezahlt. Ferrante bedankte sich überschwenglich.

»Ach,« sagte er zu ihr, »ehedem wohnte ich in der Stadt und verkehrte mit vornehmen Frauen. Seitdem ich wegen der Erfüllung meiner Bürgerpflicht zum Tode verurteilt bin, lebe ich in den Wäldern, und ich bin Ihnen gefolgt, nicht um ein Almosen von Ihnen zu erflehen oder Sie zu berauben, sondern wie ein Wilder, den eine himmlische Schönheit bezaubert hat. Es ist so lange her, daß ich zwei so schöne weiße Hände gesehen habe!«

»Stehen Sie doch auf!« sagte die Duchezza zu ihm, denn er lag noch immer auf den Knieen.

»Erlauben Sie mir, daß ich so verharre«, entgegnete Ferrante. »Diese Stellung beweist mir, daß ich im Augenblick das Räuberhandwerk nicht betreibe, und das beruhigt mich. Denn Sie sollen wissen, ich räubere, um zu leben, seit man mich hindert, meinen Beruf auszuüben. Aber jetzt bin ich nichts als ein schlichter Mensch in Anbetung vor erhabener Schönheit!«

Die Duchezza begriff, daß er ein wenig verrückt war, aber sie empfand nicht im geringsten Furcht; sie sah an den Augen dieses Mannes, daß er eine gütige Feuerseele hatte, und überdies liebte sie außergewöhnliche Gesichter.

»Ich bin Arzt, und ich machte der Frau des Apothekers Sarazina in Parma den Hof. Er ertappte uns und jagte sie aus dem Hause samt drei Kindern, von denen er mit Fug und Recht argwöhnte, sie seien von mir und nicht von ihm. Jetzt haben wir ihrer noch zwei dazu. Die Mutter und die fünf Kinder leben im äußersten Elend in einer Art Hütte, die ich eigenhändig erbaut habe, eine Stunde von hier im Walde. Ich muß mich nämlich vor den Gendarmen in acht nehmen, und die arme Frau will sich von mir nicht trennen. Ich bin zum Tode verurteilt, durchaus nicht unschuldig, denn ich bin ein Verschwörer. Ich hasse den Fürsten; er ist ein Tyrann. Nur aus Mangel an Geld bin ich nicht geflohen. Mein Unglück ist noch viel größer; ich hätte mich schon tausendmal töten sollen. Ich liebe die unglückliche Frau nicht mehr, die mir fünf Kinder geschenkt und sich um meinetwillen ins Verderben gestürzt hat. Ich liebe eine andere. Aber wenn ich mich töte, dann stürben die fünf Kinder samt der Mutter buchstäblich vor Hunger.«

Der Mann sprach im Tone der Aufrichtigkeit.

»Aber wie leben Sie denn?« fragte die Duchezza gerührt.

»Die Mutter der Kinder spinnt. Die älteste Tochter wird in einem Gehöft von liberalen Leuten ernährt; da hütet sie die Schafe. Ich bin Räuber auf der Landstraße von Piacenza nach Genua.«

»Wie verträgt sich der Raub mit Ihren liberalen Grundsätzen?«

»Ich führe Buch über die Leute, die ich ausplündere, und wenn ich je wieder etwas besitze, erstatte ich ihnen die geraubten Summen zurück. Ein Volksvertreter meines Schlages, meine ich, darf in Anbetracht der Gefahr, in der er schwebt, doch wohl eine kleine Zwangsanleihe von hundert Franken im Monat aufnehmen. In der Tat, ich begnüge mich, nicht mehr zu nehmen als zwölfhundert Franken im Jahre. Das heißt, ich raube eine Kleinigkeit darüber, um die Druckkosten meiner Werke zu decken.«

»Welcher Werke?«

»›Wird Italien je eine Volksvertretung und einen Haushaltplan haben?‹«

»Wie,« rief die Duchezza, »das sind Sie, einer der größten Dichter des Jahrhunderts, der berühmte Ferrante Palla?«

»Berühmt vielleicht, aber sehr unglücklich, das ist sicher!«

»Und ein Mann mit solchem Talent muß räubern, um sein Leben zu fristen?«

»Vielleicht gerade, weil ich etwas Talent habe. Bis auf den heutigen Tag sind alle unsere Autoren, die sich einen Namen gemacht haben, dem Solde der Regierung oder der Religion verfallen, die sie bekämpfen wollten. Ich aber, ich setze zum ersten mein Leben aufs Spiel. Zum zweiten: gnädige Frau, denken Sie an die Gefühle, die ich habe, wenn ich auf Raub ausgehe. ›Bin ich auf dem rechten Wege?‹ So frage ich mich. Leistet hier ein Volksvertreter wirklich Dienste, die hundert Franken im Monat wert sind? Ich besitze zwei Hemden, den Rock, den ich trage, ein paar schlechte Waffen, und ich ende sicherlich am Galgen. Gleichwohl wage ich zu glauben, daß ich uneigennützig bin. Ich wäre glücklich ohne die verhängnisvolle Leidenschaft, die mich in der Nähe der Mutter meiner Kinder nur noch unglücklich sein läßt. Die Armut drückt mich nieder wie die Häßlichkeit. Ich liebe schöne Kleider, weiße Hände...«

Er blickte so auf die Hände der Duchezza, daß sie Angst bekam.

»Leben Sie wohl, mein Herr!« sagte sie zu ihm. »Kann ich Ihnen in Parma irgendwie nützlich sein?«

»Legen Sie sich bisweilen folgende Frage vor: ›Sein Beruf ist es, die Herzen zu erwecken und sie zu hindern, daß sie in jenem unwahren, rein materiellen Glück einschlummern, das die Monarchieen gewähren. Ist der Dienst, den er seinen Mitbürgern leistet, nicht hundert Franken im Monat wert?‹ – Mein Unglück ist meine Liebe«, fuhr er in sehr weichem Tone fort. »Seit fast zwei Jahren ist meine Seele nur von Ihnen erfüllt, aber bis zu dieser Stunde habe ich Sie gesehen, ohne Ihnen Furcht einzuflößen.«

Damit verschwand er mit fabelhafter Schnelligkeit, die die Duchezza in Staunen versetzte und sie beruhigte. ›Die Gendarmen werden Mühe haben, ihn zu erwischen‹, dachte sie. ›Bei Gott, er ist ein Narr!‹

»Er ist ein Narr«, bestätigten ihre Leute. »Wir wissen lange, daß der arme Mensch in die gnädige Frau verliebt ist. Wenn die gnädige Frau hier weilt, sehen wir ihn in den entlegensten Winkeln der Wälder umherirren, aber wenn die gnädige Frau abreist, dann kommt er dreist und setzt sich auf Ihre Lieblingsplätze. Eifrig sammelt er die Blumen, die einem Strauß der gnädigen Frau entfallen sein könnten, und trägt sie lange an seinem schäbigen Hute.«

»Und ihr habt mir nie von diesen Verrücktheiten erzählt?« fragte die Duchezza beinahe vorwurfsvoll.

»Wir fürchteten, die gnädige Frau würde es dem Minister Mosca erzählen. Der arme Ferrante ist ein so guter Kerl! Der tut keinem Menschen etwas zuleide, und nur weil er unsern Napoleon liebt, hat man ihn zum Tode verurteilt.«

Die Duchezza erwähnte vor dem Minister keine Silbe von dieser Zusammenkunft, und da das seit vier Jahren ihr erstes Geheimnis vor ihm war, so mußte sie oft mitten im Satz abbrechen. Als sie wieder nach Sacca ging, nahm sie Gold mit; aber Ferrante erschien nicht. Vierzehn Tage darauf kam sie abermals. Ferrante war ihr eine Weile hundert Schritt seitwärts durch den Wald nachgegangen, schoß dann blitzschnell wie ein Sperber auf sie los und warf sich ihr wie das erste Mal zu Füßen.

»Wo haben Sie vor vierzehn Tagen gesteckt?«

»In den Bergen jenseits Novi, um Maultiertreiber auf ihrem Rückweg von Mailand zu überfallen, wo sie Öl verkauft hatten.«

»Nehmen Sie diese Börse!«

Ferrante öffnete sie, nahm eine Zechine heraus, die er küßte und an seinem Busen verbarg, und gab die Börse zurück.

»Sie geben mir diese Börse wieder, und Sie sind Räuber!«

»Kein Zweifel. Mein Grundsatz ist der: Nie darf ich mehr als hundert Franken besitzen. Nun hat die Mutter meiner Kinder augenblicklich achtzig Franken, und ich habe ihrer fünfundzwanzig, also besitze ich zu Unrecht fünf Franken. Wenn man mich zur Stunde aufhängte, würde ich Gewissensbisse haben. Ich nehme diese Zechine, weil sie von Ihnen kommt und weil ich Sie liebe.«

Der Tonfall dieser schlichten Worte war unvergleichlich. ›Er liebt wirklich‹, sagte sich die Duchezza. An diesem Tage hatte er ein ganz verstörtes Aussehen. Er erklärte, es gäbe in Parma Leute, die ihm sechshundert Franken schuldeten. Mit dieser Summe könnte er seine Hütte ausbessern, in der seine Kinder sich jetzt erkälteten.

»Ich werde Ihnen diese sechshundert Franken vorschießen«, sagte die Duchezza tief bewegt.

»Aber dann könnten meine Gegner mich, eine öffentliche Persönlichkeit, verleumden und mir nachsagen, ich hätte mich verkauft.«

Die Duchezza bot ihm gerührt einen Schlupfwinkel in Parma an, wenn er ihr schwören wolle, daß er vorderhand ganz und gar nichts als Richter und Rächer unternähme. Vor allem dürfe er keines der Todesurteile vollstrecken, die er, wie er sagte, in petto habe.

»Wenn man mich aber infolge meiner Unvorsichtigkeit aufhängt,« sagte Ferrante feierlich, »dann werden alle die Schurken, die das Volk so schädigen, noch lange Jahre leben. Und wer ist schuld daran? Was wird mir mein Vater sagen, wenn er mich da droben wiedertrifft?«

Die Duchezza erinnerte ihn an seine kleinen Kinder, die in der feuchten Hütte todkrank würden. Schließlich nahm er den angebotenen Schlupfwinkel in Parma an.

Der Duca di Sanseverina hatte an dem einzigen halben Tage, den er nach seiner Verheiratung in Parma zugebracht hatte, der Duchezza ein höchst merkwürdiges Versteck gezeigt, das die Südecke des Palazzos Sanseverina barg. Die aus dem Mittelalter herrührende Mauer der Straßenseite war acht Fuß stark; man hatte sie im Inneren ausgehöhlt, und so befand sich in ihr ein Versteck, das zwanzig Fuß hoch, aber nur zwei Fuß breit war. Daneben lag jener viel bewunderte Wasserbehälter, der in allen Reisewerken angeführt ist, ein berühmtes Bauwerk des dreizehnten Jahrhunderts. Er hatte zur Zeit der Belagerung von Parma durch Kaiser Sigismund eine Rolle gespielt und war später in den Palazzo Sanseverina eingegliedert worden. In diesen Schlupfwinkel gelangt man, wenn man einen Riesenquader um seine eiserne Achse dreht.

Die Duchezza war von dem närrischen Wesen Ferrantes und dem Schicksal seiner Kinder, für die er jedes Geschenk von Wert halsstarrig zurückwies, so innig gerührt, daß sie ihm die Benutzung jenes Versteckes auf längere Zeit gestattete. Vier Wochen später sah sie ihn wieder. Er hauste noch immer in den Wäldern von Sacca, war aber ein wenig ruhiger als früher. Er trug ihr eines seiner Sonette vor, das sie allem ebenbürtig dünkte, wenn nicht erhabener als alles, was man seit zwei Jahrhunderten in Italien Schönes gedichtet hatte. Ferrante brachte noch mehrere Zusammenkünfte zuwege, aber seine Liebe verwirrte ihm den Kopf; er ward zudringlich, und die Duchezza erkannte, daß seine Leidenschaft sich entwickelte wie eben jede Liebe, der man ein Fünkchen Hoffnung läßt. Sie schickte ihn in seine Wälder zurück und verbot ihm, sie anzusprechen. Er gehorchte ohne weiteres und mit größter Willfährigkeit.

So standen die Dinge, als Fabrizzio in Gefangenschaft geriet. Drei Tage darauf erschien bei Anbruch der Nacht ein Kapuziner am Tore des Palazzos Sanseverina. Er sagte, er habe der Herrin des Hauses ein wichtiges Geheimnis mitzuteilen. Sie fühlte sich so unglücklich, daß sie ihn vorließ; es war Ferrante.

»Es ist hier eine neue Freveltat im Gange,« sagte der verliebte Kauz zur Duchezza, »wovon der Volksvertreter Kenntnis nehmen muß. Freilich bin ich nur ein einfacher Privatmann; ich kann der Duchezza di Sanseverina nichts geben als mein Leben, und das weihe ich ihr.«

Die so aufrichtige Ergebenheit eines Räubers und Narren rührte die Duchezza tief. Lange redete sie mit diesem Menschen, der für den größten Dichter Oberitaliens galt, und weinte heftig. ›Das ist einer,‹ sagte sie sich, ›der mein Herz versteht!‹

Am anderen Tage erschien er um das Ave-Maria wieder, als Diener in Livree verkleidet.

»Ich habe Parma gar nicht verlassen. Ich habe etwas Entsetzliches gehört, das meine Lippen nicht wiederholen können. Aber hier bin ich. Gnädige Frau, bedenken Sie, was Sie abschlagen! Das Wesen, das vor Ihnen steht, ist kein Hofschranze; es ist ein Mann!« Er lag auf den Knieen und brachte diese Worte in einem Tone heraus, der sie feierlich machte. »Gestern habe ich mir gesagt,« fuhr er fort, »sie hat in meiner Gegenwart geweint, also ist sie nicht mehr ganz unglücklich!«

»Aber bedenken Sie doch, was für Gefahren Sie umgeben! Man wird Sie hier in der Stadt festnehmen!«

»Der Volksvertreter wird Ihnen sagen: Gnädige Frau, was gilt das Leben, wenn die Pflicht ruft? Und der Unglückliche, der zu seinem Schmerz kein leidenschaftliches Gefühl mehr für die Tugend hat, seit er in Liebe entflammt ist, wird hinzufügen: Frau Duchezza, Fabrizzio, ein beherzter Mann, ist von Gefahr bedroht. Stoßen Sie einen anderen beherzten Mann nicht zurück, der sich Ihnen zur Verfügung stellt! Hier ist ein Körper von Eisen und eine Seele, die nichts in der Welt fürchtet als Ihre Ungnade.«

»Wenn Sie mir weiter von Ihren Gefühlen sprechen, verschließe ich Ihnen meine Tür auf immer!«

Die Duchezza hatte zwar die Absicht, Ferrante an jenem Abend zu eröffnen, daß sie seinen Kindern ein kleines Jahresgeld aussetzen wolle, aber sie hatte Angst, daß er dann von hinnen gehe, um sich zu töten.

Kaum war er fort, als sie sich, von trüben Vorahnungen erfüllt, sagte: ›Auch ich kann sterben, und, so Gott will, bald. O, daß ich einen Mann fände, der dieses Namens wert ist und dem ich meinen armen Fabrizzio anvertrauen könnte!‹

Ein Gedanke durchfuhr die Duchezza. Sie nahm ein Blatt Papier und schrieb darauf eine Bescheinigung, in die sie die wenigen ihr geläufigen Rechtsausdrücke einflocht, daß sie von Herrn Ferrante Palla die Summe von fünfundzwanzigtausend Franken erhalten habe unter der ausdrücklichen Bedingung, dafür eine lebenslängliche Rente von jährlich fünfzehnhundert Franken an Frau Sarazina und deren fünf Kinder auszuzahlen. Die Duchezza fügte hinzu: ›Dazu setze ich jedem Kinde eine lebenslängliche Rente von jährlich dreihundert Franken aus, unter der Bedingung, daß Herr Ferrante Palla meinem Neffen Fabrizzio del Dongo seinen ärztlichen Rat gewährt und an ihm Bruderstelle vertritt. Darum bitte ich ihn.‹ Sie unterzeichnete die Urkunde, datierte sie ein Jahr zurück und faltete sie zusammen.

Zwei Tage darauf ließ sich Ferrante wieder blicken. Es war gerade zu einem Zeitpunkt, da die ganze Stadt durch das Gerücht von der bevorstehenden Hinrichtung Fabrizzios in Aufregung war. Würde diese traurige Zeremonie in der Zitadelle oder unter den Bäumen der öffentlichen Promenade stattfinden? Eine große Volksmenge lief an jenem Abend vor dem Tor der Zitadelle spazieren, um nachzusehen, ob man das Schafott errichte. Dieses Schauspiel hatte Ferrante tief bewegt. Er fand die Duchezza in Tränen aufgelöst und nicht imstande, zu sprechen. Sie grüßte ihn mit der Hand und wies ihm einen Sessel an. Ferrante, an diesem Tage als Kapuziner verkleidet, war großartig. Statt sich zu setzen, fiel er auf die Kniee und betete mit flüsternder Stimme inbrünstig zu Gott. Sobald die Duchezza etwas ruhiger zu werden schien, unterbrach er sein Gebet, ohne seine Stellung zu verändern, und sagte: »Wiederum bietet er sein Leben an.«

»Bedenken Sie, was Sie sagen!« rief die Duchezza mit jenem verstörten Blick, der, wenn man geweint hat, anzeigt, daß die Rührung in Zorn übergeht.

»Er bietet sein Leben an, um das Schicksal Fabrizzios zu wenden oder ihn zu rächen.«

»Es gäbe einen Fall, in dem ich das Opfer Ihres Lebens annehmen könnte.«

Sie blickte ihn mit strenger Aufmerksamkeit an. Helle Freude strahlte aus seinem Antlitz. Blitzschnell stand er auf und hob die Arme gen Himmel. Die Duchezza holte ein Schriftstück herbei, das im Geheimfach eines großen Nußbaumschrankes verborgen war.

»Lesen Sie!« sagte sie zu Ferrante. Es war die Schenkungsurkunde für seine Kinder.

Vor Tränen und Schluchzen vermochte Ferrante nicht zu Ende zu lesen. Er sank wieder auf die Kniee.

»Geben Sie mir das Papier zurück!« sagte die Duchezza und verbrannte es vor seinen Augen an der Kerze. »Es ist nicht nötig, daß mein Name genannt wird, wenn Sie ergriffen und hingerichtet werden. Denn es gilt Ihren Kopf.«

»Ich gehe mit Freuden in den Tod, wenn ich dem Tyrannen schade, und mit viel größerer Freude, wenn ich für Sie sterbe. Da das so ist und Sie mich verstehen, geruhen Sie die kleine Geldfrage nicht wieder zu erwähnen. Ich würde darin einen kränkenden Zweifel erblicken.«

»Wenn Sie in Verdacht geraten,« erwiderte die Duchezza, »könnte mir das gleiche widerfahren und nach mir Fabrizzio. Darum, und nicht, weil ich Ihren Mut bezweifelte, fordere ich, daß der Mann, der mir mein Herz durchbohrt, vergiftet wird und nicht erdolcht. Aus dem nämlichen für mich wichtigen Grunde befehle ich Ihnen, alles mögliche zu Ihrer Rettung zu tun.«

»Ich werde gehorsam, gewissenhaft und vorsichtig ans Werk gehen. Frau Duchezza, ich ahne, daß meine Rache gleichzeitig die Ihrige sein wird. Wie dem auch sei, ich werde treulich, gewissenhaft und vorsichtig gehorchen. Es ist möglich, daß ich keinen Erfolg habe, aber ich werde meine ganze Manneskraft einsetzen.«

»Es handelt sich darum, den Mörder Fabrizzios zu vergiften.«

»Das hatte ich vermutet, und seit den siebenundzwanzig Monaten, solange ich dieses gräßliche Wanderleben führe, habe ich oft an die gleiche Tat auf eigene Rechnung gedacht.«

»Wenn ich entdeckt und als Mitschuldige verurteilt werde,« fuhr die Duchezza stolz fort, »so will ich keineswegs, daß man mich bezichtigen könne, ich sei Ihre Verführerin. Ich befehle Ihnen: Trachten Sie nicht mehr danach, mich zu sehen, bis die Zeit unserer Rache kommt. Er soll nicht eher sterben, als bis ich Ihnen das Zeichen dazu gebe. Wenn er zum Beispiel jetzt stürbe, so wäre das, statt nützlich, im Gegenteil nur unheilvoll. Wahrscheinlich darf sein Tod erst nach mehreren Monaten erfolgen; aber er wird erfolgen. Ich will, daß er an Gift stirbt, und ich ließe ihn lieber am Leben, als daß ich sehen müßte, wie ihn eine Kugel tötet. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht auseinandersetzen will, verlange ich, daß Ihr Leben gerettet wird.«

Ferrante war über diesen gebieterischen Ton der Duchezza entzückt; seine Augen funkelten vor tiefer Freude. Wie schon gesagt, war er schrecklich mager, aber man sah, daß er in seiner Jugend sehr schön gewesen war. Er glaubte, er sei noch so wie einst. ›Bin ich ein Narr,‹ sagte er zu sich, ›oder wird die Duchezza mich eines Tages wohl zum glücklichsten Mann machen, wenn ich ihr meine Ergebenheit bewiesen habe? Und warum auch nicht? Wiege ich denn nicht diesen Harlekin auf, den Grafen Mosca, der es nicht einmal fertiggebracht hat, Monsignore Fabrizzio entwischen zu lassen?‹

»Ich kann seinen Tod schon morgen wollen«, fuhr die Duchezza in demselben gebieterischen Ton fort. »Sie kennen den riesigen Wasserbehälter an der Ecke des Palazzos, neben dem Versteck, das Sie zuweilen benutzt haben. Es gibt eine geheime Vorrichtung, durch die man sein ganzes Wasser auf die Straße fließen lassen kann. Nun, das soll mein Zeichen zur Rache sein! Wenn Sie in Parma sind, sehen Sie es selbst; sind Sie im Walde, dann werden Sie davon erzählen hören, daß der große Wasserbehälter im Palazzo Sanseverina ausgelaufen ist. Handeln Sie alsdann, aber durch Gift, und bringen Sie vor allem Ihr Leben so wenig wie möglich in Gefahr! Niemand soll wissen, daß ich bei dieser Sache die Hand im Spiel habe.«

»Worte sind unnötig«, antwortete Ferrante mit schlecht verhehltem Feuer. »Ich bin mir bereits über die Mittel klar, die ich anwenden will. Das Leben dieses Mannes wird mir verhaßter denn je sein, da ich nicht wagen darf, Sie wiederzusehen, solange er am Leben ist. Ich harre des Zeichens, daß der Wasserbehälter über die Straße ausläuft.«

Er empfahl sich ungestüm und ging. Die Duchezza schaute ihm nach. Als er im Nebenzimmer war, rief sie ihn zurück.

»Ferrante!« rief sie. »Erhabener Mann!«

Er kehrte um, fast unwillig darüber, daß er zurückgehalten wurde. Sein Gesicht war in diesem Augenblick herrlich.

»Und Ihre Kinder?«

»Gnädige Frau, sie werden reicher sein als ich. Vielleicht setzen Sie ihnen ein kleines Jahresgeld aus.«

»Halt!« sagte die Duchezza zu ihm und händigte ihm ein Kästchen aus Olivenholz ein. »Hier sind alle meine Diamanten, die ich noch habe. Sie sind fünfzigtausend Franken wert.«

»Ach, gnädige Frau, Sie demütigen mich!« sagte Ferrante mit einer Geste des Grauens. Sein Gesicht hatte sich völlig verändert.

»Ich werde Sie vor der Tat nicht wiedersehen. Nehmen Sie! Ich will es!« fuhr die Duchezza mit einer hoheitsvollen Stimme fort, die Ferrante verstummen ließ. Er steckte das Kästchen in seine Tasche und ging.

Er hatte die Tür bereits geschlossen, als die Duchezza ihn von neuem zurückrief. Mit ärgerlicher Miene kehrte er abermals um. Die Duchezza stand mitten im Saal. Sie warf sich ihm in die Arme. Einen Atemzug lang verging Ferrante beinahe vor Glück. Die Duchezza entwand sich seiner Umarmung und deutete mit den Augen nach der Tür.

›Das ist der einzige Mensch, der mich verstanden hat!‹ dachte sie. ›Geradeso hätte sich Fabrizzio benommen, wenn er mich hätte hören können.‹

Dem Charakter der Duchezza war zweierlei eigentümlich. Was sie einmal wollte, dabei blieb sie; was einmal entschieden war, darüber gab sie sich nie Grübeleien hin. In diesem Sinne pflegte sie ein Wort ihres ersten Gatten, des liebenswürdigen Generals Pietranera, zu wiederholen: ›Was für eine Beleidigung gegen mich selber! Warum soll ich mir einbilden, ich hätte heute mehr Verstand als damals, als ich mich dazu entschlossen habe?‹

Von diesem Augenblick an gewann eine Art Heiterkeit im Wesen der Duchezza wieder die Oberhand. Vor dem verhängnisvollen Entschluß hatte sie bei jedem Schritte, den ihr Geist vorwärts dachte, bei jeder Neuigkeit, die sie erfuhr, das Gefühl gehabt, Serenissimus unterlegen zu sein, ein Gefühl von Schwäche und Betrogensein. Sie bildete sich ein, der Fürst habe sie feig hintergangen und Graf Mosca habe ihm durch seine Höflingsnatur, also unschuldigerweise, dabei geholfen. Seitdem ihre Rache beschlossen war, fühlte sie ihre Kraft; jede Regung ihres Geistes gewährte ihr Befriedigung. Das unmoralische Glück, das man in Italien in der Rache findet, wurzelt in der Einbildung dieses Volkes; die Menschen anderer Länder verzeihen nicht (im Grunde betrachtet), sie vergessen.

Die Duchezza sah Ferrante Palla erst gegen Ende der Gefangenschaft Fabrizzios wieder. Wie man wohl erraten hat, war er der Urheber des Fluchtplanes. Im Walde, zwei Meilen von Sacca entfernt, stand ein halb verfallener mittelalterlicher Turm, der höher als hundert Fuß war. Ehe Ferrante die Flucht zum zweiten Male mit der Duchezza besprach, bat er sie, ihm Ludovico zu schicken und durch sichere Leute eine Anzahl Leitern in die Nähe dieses Turmes zu schaffen. In Gegenwart der Duchezza erkletterte er mit Leitern den Turm und ließ sich mit einem einfachen Seil wieder herab. Dreimal wiederholte er diesen Versuch. Acht Tage darauf wollte Ludovico ebenfalls an einem Seil von dem alten Turm herabklettern. Das war um die Zeit, als die Duchezza Fabrizzio den Fluchtplan vorschlug.

In den letzten Tagen, die diesem Anschlag vorausgingen, dessen Ausführung den Tod des Gefangenen zur Folge haben konnte, vermochte die Duchezza keinen Augenblick Ruhe zu finden, außer wenn sie Ferrante um sich hatte. Der Mut dieses Mannes feuerte den ihren an. Aber selbstverständlich mußte sie diesen seltsamen Umgang dem Grafen Mosca verheimlichen. Sie hatte Angst, nicht, daß er darüber empört sein könne, vielmehr, daß ihr seine Einwände wehe tun und ihre Unruhe vermehren würden. Wie, als vertrauten Ratgeber einen anerkannten und zum Tode verurteilten Narren nehmen? ›Einen Menschen,‹ fügte die Duchezza im Selbstgespräch hinzu, ›von dem man die absonderlichsten Dinge zu erwarten hatte!‹

Ferrante befand sich gerade im Hause der Duchezza, als der Graf ihr die Unterhaltung des Fürsten mit Rassi mitteilte. Als Mosca wieder weg war, hatte sie die größte Mühe, Ferrante davon abzubringen, sein gräßliches Vorhaben auf der Stelle auszuführen.

»Jetzt bin ich stark!« rief er. »Jetzt bin ich von dem Recht zur Tat durchdrungen!«

»Aber in der Wut, die unausbleiblich darauf folgt, wird Fabrizzio hingerichtet!«

»Aber damit würde ihm die gefährliche Flucht erspart. Sie kann gelingen, sogar leicht, aber dem jungen Manne fehlt die Übung«, entgegnete er.

Die Hochzeit der Schwester des Marchese Crescenzi ward gefeiert. Auf diesem Feste traf die Duchezza mit Clelia zusammen und konnte sich mit ihr unterhalten, ohne bei den Beobachtern der Hofgesellschaft Argwohn zu erwecken. Als die beiden Damen eine Weile im Garten waren, um sich abzukühlen, übergab die Duchezza Clelia das Paket mit den Seilen. Diese waren mit der größten Sorgfalt halb aus Hanf, halb aus Seide hergestellt, mit Knoten, sehr dünn und geschmeidig. Ludovico hatte ihre Haltbarkeit erprobt; sie hielten in allen ihren Teilen eine Last von acht Zentnern aus, ohne zu reißen. Man hatte sie derartig zusammengepreßt, daß sie mehrere Pakete in der Größe von Foliobänden bildeten. Clelia nahm sie zu sich und versprach der Duchezza, alles, was menschenmöglich sei, zu tun, um diese Pakete in die Torre Farnese einzuschmuggeln.

»Ich habe nur Angst, daß Sie zaghaft sind,« sagte die Duchezza, »und dann,« fügte sie höflich hinzu, »wie können Sie für einen Unbekannten Teilnahme fühlen?«

»Monsignore del Dongo ist unglücklich. Ich verspreche Ihnen, er soll durch mich gerettet werden!«

Aber die Duchezza, die von der Geistesgegenwart einer Zwanzigjährigen nicht allzuviel hielt, hatte andere Vorsichtsmaßregeln getroffen, die der Tochter des Kommandanten mitzuteilen sie sich wohlweislich hütete. Wie sich von selbst versteht, nahm der General an diesem Hochzeitsfest teil. Die Duchezza sagte sich: ›Wenn man ihm einen tüchtigen Schlaftrunk verabreicht, kann man im ersten Augenblick wohl annehmen, es handle sich um einen Schlaganfall, und mit einigem Geschick veranlassen, daß er statt in seinem Wagen in einer Tragbahre nach der Zitadelle zurückgebracht wird.‹ Wie zufällig sollte sich in dem Palast, wo das Fest abgehalten ward, eine solche vorfinden. Ebenso sollten sich brauchbare Leute, als Arbeiter verkleidet, einstellen, die bei dem Fest zu tun hatten, und sich in der allgemeinen Verwirrung höflich erbieten, den Kranken bis in seinen hochgelegenen Palazzo zu tragen. Diese Leute, von Ludovico geführt, sollten eine genügende Anzahl weiterer Seile geschickt unter ihren Kleidern verborgen tragen. Man sieht, der Verstand der Duchezza war, seit sie sich ernstlich mit Fabrizzios Flucht abgab, vollkommen überspannt. Der Gefahr, in der dieses geliebte Wesen schwebte, war ihr Geist nicht gewachsen; sie dauerte auch allzu lange. Wie man sehen wird, hätte ihre übertriebene Vorsicht beinahe die Flucht vereitelt.

Alles vollzog sich wie geplant, nur mit einer einzigen Ausnahme: das Schlafmittel wirkte zu kräftig. Alle Welt, selbst die Ärzte glaubten, den General hätte wirklich der Schlag gerührt.

Zum Glück hatte Clelia nicht die leiseste Ahnung von dem verbrecherischen Anschlag der Duchezza. In der Zitadelle herrschte in dem Augenblick, als die Tragbahre mit dem halbtoten General ankam, ein derartiger Wirrwarr, daß Ludovico und seine Leute ungehindert eingelassen wurden. Auf der Sklavenbrücke wurden sie nur oberflächlich durchsucht. Nachdem sie den General bis in sein Bett getragen hatten, führte man sie in die Bedientenstube, wo sie von den Lakaien aufs beste verpflegt wurden. Aber nach diesem Schmause, der erst sehr spät gegen Morgen endete, bedeutete man ihnen, die Gefängnisvorschrift erheische es, daß sie für den Rest der Nacht im Erdgeschoß der Kommandantur eingeschlossen würden. Sie würden am anderen Morgen durch den Stellvertreter des Kommandanten wieder freigelassen werden. Diese Leute hatten es fertiggebracht, Ludovico die von ihnen eingeschmuggelten Seile zuzustecken; aber Ludovico erreichte es nur unter großen Schwierigkeiten, daß Clelia ihn einen Augenblick anhörte. Schließlich legte er, als sie gerade von einem Zimmer in ein anderes ging, die Pakete mit den Seilen in die dunkle Ecke eines Salons im ersten Stock, so daß sie es bemerken mußte. Clelia war über dieses seltsame Beginnen heftig betroffen und schöpfte sofort Verdacht.

»Wer sind Sie?« fragte sie Ludovico. Auf seine sehr unklare Antwort fuhr sie fort: »Ich müßte Sie festnehmen lassen, Sie und Ihre Helfershelfer! Sie haben meinen Vater vergiftet! Gestehen Sie auf der Stelle ein, was für ein Gift Sie verwendet haben, damit der Arzt der Zitadelle das richtige Gegengift verschreiben kann! Gestehen Sie das auf der Stelle ein, oder Sie und Ihre Spießgesellen kommen nie wieder aus der Zitadelle heraus!«

»Signorina beunruhigt sich zu Unrecht«, entgegnete Ludovico mit Anstand und Höflichkeit. »Es handelt sich durchaus nicht um Gift. Man hat dem Herrn General unklugerweise eine Dosis Laudanum beigebracht, und wahrscheinlich hat der mit diesem Frevel beauftragte Lakai ein paar Tropfen zuviel ins Glas gegossen. Wir werden uns deswegen ewig Vorwürfe machen. Aber Signorina können überzeugt sein, daß Gott sei Dank keine Gefahr besteht. Der Herr Kommandant muß so behandelt werden, als habe er aus Versehen etwas zuviel Laudanum eingenommen. Ich habe die Ehre, Signorina, zu wiederholen: Der mit dem Frevel beauftragte Lakai hat keinesfalls wirkliches Gift verwendet, – nicht wie Barbone, als er den Monsignore Fabrizzio vergiften wollte. Man hat durchaus nicht danach getrachtet, Monsignore Fabrizzio für die überstandenen Gefahren zu rächen; man hat dem betreffenden Diener nichts in die Hände gegeben als eine Phiole, in der Laudanum war. Das beschwöre ich, Signorina! Aber wohlgemerkt, sollte ich amtlich vernommen werden, so werde ich alles leugnen.

Wenn Signorina übrigens, zu wem es auch sei, und wenn es Seine Ehrwürden Don Cesare wären, von Laudanum und von Gift reden, dann stirbt Fabrizzio durch die Hand von Signorina. Dann machen Sie auf immer alle Fluchtversuche unmöglich. Signorina wissen ja besser als ich, daß es nicht harmloses Laudanum ist, mit dem man den Monsignore vergiften will. Sie wissen wohl auch, daß ein gewisser Jemand der Vergiftung nur einen Monat Aufschub gegeben hat und daß schon mehr als eine Woche verstrichen ist, seit dieser verhängnisvolle Befehl ergangen ist. Wenn Signorina mich verhaften lassen oder auch nur ein einziges Wort an Don Cesare oder sonst jemanden verraten, dann hemmen Sie alle unsere Unternehmungen auf wer weiß wie lange, und ich kann mit Recht sagen, Signorina morden Fabrizzio mit eigener Hand!«

Clelia war über Ludovicos unheimliche Ruhe erschrocken.

›So bin ich in regelrechter Unterhaltung mit dem Giftmörder meines Vaters!‹ sagte sie sich. ›Und was verführt mich zu allen diesen Verbrechen? Die Liebe! –‹

Vor Reue hatte sie kaum die Kraft, zu sprechen. Sie sagte zu Ludovico: »Ich werde Sie in diesen Salon einschließen und schnell zum Arzt laufen und ihm mitteilen, daß es sich nur um Laudanum handelt. Aber, großer Gott, was soll ich ihm sagen, woher ich das selber weiß? Dann komme ich zurück und entlasse Sie.«

»Sagen Sie,« fragte Clelia, sich an der Tür noch einmal eiligst umwendend, »weiß Fabrizzio etwas von der Laudanumgeschichte?«

»Mein Gott, Signorina, nein! Nie hätte er das zugegeben. Und wozu sollten wir ihn unnützerweise ins Geheimnis ziehen? Wir sind mit der peinlichsten Überlegung zu Werke gegangen. Es handelt sich darum, Monsignore das Leben zu retten. In drei Wochen soll er vergiftet werden. Der Befehl dazu ist durch jemanden erlassen worden, der gewohnt ist, daß seinem Willen keine Schranken entgegenstehen. Und, wenn ich es Signorina sagen darf, man behauptet, der schreckliche Großfiskal, der Rassi, habe diesen Auftrag übernommen.«

Clelia lief erschrocken hinweg. Sie hegte so viel Vertrauen zur vollkommenen Ehrlichkeit Don Cesares, daß sie ihm unter gewissem Vorbehalt zu sagen wagte, daß man ihrem Vater weiter nichts als etwas Laudanum beigebracht habe. Ohne etwas zu erwidern und ohne zu forschen, eilte Don Cesare zum Arzt.

Clelia ging nach dem Salon zurück, wo sie Ludovico in der Absicht eingeschlossen hatte, ihn noch etwas wegen des Laudanums ins Gebet zu nehmen. Sie traf ihn nicht mehr an; er hatte zu entwischen gewußt. Auf dem Tische fand sie eine Börse voller Zechinen und eine kleine Schachtel mit verschiedenen Sorten Gift darin. Beim Anblick dieser Gifte erbebte sie. ›Wer sagt mir,‹ dachte sie, ›daß man meinem Vater nur Laudanum eingegeben hat und daß sich die Duchezza nicht für Barbones Attentat rächen wollte?‹ »Mein Gott,« rief sie laut aus, »ich stehe in Beziehungen zu den Giftmördern meines Vaters! Ich lasse sie entwischen! Wer weiß, ob dieser Mensch nicht ganz andere Dinge auf dem Gewissen hat!«

In Tränen ausbrechend, sank Clelia in die Kniee und betete inbrünstig zur Madonna.

Unterdessen gab der Arzt der Zitadelle dem General die nötige Medizin ein. Die Mitteilung Don Cesares, daß es sich um nichts weiter als um Opium handle, hatte ihn höchlichst verwundert. Sehr bald zeigten sich beruhigende Anzeichen. Gegen Tagesanbruch hatte sich der General einigermaßen erholt. Kaum war er wieder bei vollem Bewußtsein, so war sein erstes, den stellvertretenden Kommandanten, einen Obersten, anzufahren, weil dieser sich herausgenommen hatte, während des Generals Bewußtlosigkeit ein paar harmlose Anordnungen zu treffen. Dann richtete sich sein grimmiger Zorn gegen ein Küchenmädchen, das beim Bringen von Fleischbrühe das Wort ›Schlaganfall‹ hatte fallen lassen.

»Bin ich ein Greis,« polterte er, »daß ich Schlaganfälle kriege? Nur meine ärgsten Feinde können ihren Spaß daran haben, solches Gewäsch in die Welt zu setzen! Hat man mich vielleicht gar zur Ader gelassen, damit die Verleumdung von einem Schlaganfall faseln kann?«

Fabrizzio, der von den Vorbereitungen zu seiner Flucht voll in Anspruch genommen war, konnte sich den sonderbaren Lärm nicht erklären, der in der Zitadelle herrschte, während man den Kommandanten halbtot wähnte. Er vermutete zunächst, man habe sein Urteil umgewandelt und wolle ihn hinrichten. Als er sodann merkte, daß kein Mensch nach seiner Zelle kam, glaubte er, Clelia sei verraten worden; man habe bei ihrer Rückkehr in die Zitadelle die Seile bei ihr entdeckt, die sie wahrscheinlich einschmuggeln wollte, und nun seien alle seine Fluchtpläne vereitelt.

Bei Tagesgrauen sah er einen ihm unbekannten Mann in seine Zelle treten, der, ohne ein Wort zu sagen, einen Korb mit Früchten niedersetzte. Unter den Früchten war folgender Brief verborgen:

›Gequält von den heftigsten Gewissensbissen über das, was man, dem Himmel sei Dank, ohne mein Wissen getan hat, woran aber ein Einfall von mir schuld war, habe ich der Heiligen Jungfrau gelobt, falls mein Vater durch Gottes Fügung gerettet wird, mich nie wieder seinen Befehlen zu widersetzen. Ich werde den Marchese heiraten, sobald es von mir verlangt wird, und niemals werde ich Sie wiedersehen. Gleichwohl halte ich es für meine Pflicht, das Begonnene zu vollenden. Nächsten Sonntag nach der Messe, in die man Sie auf meine Bitte führen wird (Denken Sie daran, Ihre Seele vorzubereiten! Sie können bei dem gefahrvollen Unternehmen den Tod finden!), nach der Messe also verzögern Sie die Rückkehr in Ihre Zelle so lange wie möglich. Sie werden dort vorfinden, was zur Ausführung Ihres Planes nötig ist. Wenn Sie dabei umkämen, wäre meine Seele tief betrübt. Werden Sie mir vorwerfen können, ich hätte zu ihrem Tode beigetragen? Hat mir die Duchezza nicht verschiedentlich wiederholt, die Partei der Raversi bliebe siegreich? Man will Serenissimus durch eine grausame Handlung binden, die ihn auf ewig mit dem Grafen Mosca entzweit. Die Duchezza hat mir unter Tränen geschworen, es bliebe keine andere Rettung als diese. Wenn Sie nichts wagen, sind Sie des Todes! Ich kann Sie nicht mehr sehen; ich habe ein Gelübde getan. Aber wenn Sie mich am Sonntag gegen Abend ganz schwarz gekleidet an dem gewohnten Fenster erblicken, so wird dies das Zeichen sein, daß für die folgende Nacht alles so vorbereitet sein wird, wie es meine schwachen Kräfte erlauben. Nach elf Uhr, vielleicht auch um Mitternacht oder um ein Uhr, wird eine kleine Lampe an meinem Fenster sichtbar werden. Das wird der entscheidende Augenblick sein. Empfehlen Sie sich dann Ihrem Schutzheiligen; ziehen Sie schnell den Priesterrock an, mit dem Sie versorgt werden, und machen Sie sich auf den Weg!

Leben Sie wohl, Fabrizzio! Ich werde für Sie beten und die bittersten Tränen vergießen (das können Sie mir glauben!), während Sie in so großer Gefahr schweben. Wenn Sie umkämen, so überlebte ich Sie nicht. Mein Gott, was sage ich da? Wenn Sie aber Glück haben, werde ich Sie nie wieder sehen. Also am Sonntag, nach der Messe, werden Sie in Ihrer Zelle Geld, Gift und Seile vorfinden, von jener werten Frau gesandt, die Sie leidenschaftlich liebt und die mir dreimal wiederholt hat, es müsse sein.

Gott und die heilige Madonna mögen Ihnen beistehen!«

Fabio Conti war ein allezeit ruheloser, allezeit unglücklicher Kerkermeister, der in seinen Träumen immer einen seiner Gefangenen entkommen sah. Er war in der Zitadelle allgemein verhaßt; aber da das Unglück allen Menschen die gleichen Gedanken eingibt, so kamen die armen Gefangenen, sogar die, die in drei Fuß hohen Zellen in Ketten lagen und weder sitzen noch stehen konnten, kamen also alle Gefangenen auf den Einfall, auf ihre Kosten ein Tedeum singen zu lassen, als sie vernahmen, der Kommandant sei außer Gefahr. Zwei oder drei der Unglücklichen machten Fabio Conti zu Ehren Gedichte! So wirkt das Unglück auf die Menschen!

Clelia, die das Zimmer ihres Vaters nur verließ, um in der Kapelle zu beten, verkündete, der Kommandant habe bestimmt, daß die Genesungsfeier erst am Sonntag stattfinden solle. Am Morgen dieses Tages wohnte Fabrizzio der Messe und dem Tedeum bei. Der Abend brachte ein Feuerwerk, und im Erdgeschoß der Kommandantur hielten die Soldaten ein Festgelage ab, wobei sie viermal mehr Wein bekamen, als der Kommandant ihnen bewilligt hatte. Von unbekannter Seite waren sogar etliche Fäßchen Schnaps gestiftet worden, die von den Soldaten bis auf den letzten Tropfen geleert wurden. Aus edler Kameradschaft duldeten die berauschten Krieger nicht, daß die fünf Mann, die rings um die Kommandantur Posten standen, ihres Dienstes wegen das Nachsehen hätten. Allemal, wenn sie an ihre Schilderhäuschen kamen, gab ihnen ein bestochener Lakai Wein, und die, die um Mitternacht für den Rest der Nacht auf Posten zogen, kriegten von wer weiß wem auch ein Glas Schnaps, wobei man die Flasche am Schilderhaus stehen ließ, wie die spätere Untersuchung ergeben hat.

Die Unordnung hielt länger an, als Clelia gedacht hatte, und erst gegen ein Uhr begann Fabrizzio, der seit mehr als acht Tagen zwei Gitterstäbe des nicht nach der Vogelstube blickenden Fensters durchgefeilt hatte, den Fensterschirm zu beseitigen. Er arbeitete beinahe über den Köpfen der Wachtposten, die vor der Kommandantur standen; sie hörten nichts.

Nur am größten Seil, mit dem er die schreckliche Höhe von hundertachtzig Fuß hinunterklettern wollte, hatte er noch weitere Knoten gemacht; er wickelte es sich wie ein Bandelier um den Leib. Es hatte ein Riesengewicht und belästigte ihn sehr; wegen der Knoten ließ es sich nicht zusammendrücken und stand mehr als achtzehn Zoll vom Körper ab. ›Das hindert mich arg‹, sagte sich Fabrizzio. Nachdem er sich dieses Seil schlecht und recht umgetan hatte, nahm er das, mit dem er die fünfunddreißig Fuß von seinem Fenster bis zur Plattform hinunterklettern wollte.

Da Fabrizzio, so bezecht die Wache auch sein mochte, nicht gerade über ihren Köpfen hinunterklettern konnte, wählte er, wie bereits erwähnt, das zweite Fenster zur Flucht. Es lag über dem Dach eines großen Wachtraumes. Dank seinem närrischen Einfall hatte der kranke General, sobald er wieder sprechen konnte, eine Kompanie Grenadiere für diesen seit hundert Jahren nicht mehr benutzten Wachtraum angefordert. Er meinte, nachdem man versucht habe, ihn zu vergiften, wolle man ihn in seinem Bett ermorden, und diese zweihundert Soldaten sollten ihn bewachen. Man kann sich denken, welche Wirkung diese unerwartete Maßnahme in Clelias Herzen hervorrief. Das fromme Mädchen wußte sehr wohl, in wie hohem Maße es seinen Vater verriet, noch dazu, als er gerade zur Rettung des von ihr geliebten Gefangenen beinahe vergiftet worden war. Fast erblickte sie in der unerwarteten Ankunft der Kompanie einen Wink der Vorsehung, die ihr verbot, noch mehr zu wagen und Fabrizzio zur Flucht zu verhelfen.

Aber in Parma sprach jedermann von dem nahen Tode unseres Helden. Man hatte dieses traurige Thema sogar bei der Hochzeitsfeier der Giulia Crescenzi erörtert. Da ein Mann von Fabrizzios Herkunft wegen einer solchen lächerlichen Kleinigkeit wie einem ungeschickten Degenstoß nach einem Komödianten nach Ablauf von neun Monaten Gefängnis und bei der Fürsprache durch den Premierminister nicht begnadigt worden war, so mußten politische Gründe mitspielen. Dann sei es unnütz, sich weiterhin mit ihm zu beschäftigen, hatte man gemeint. Wenn es der Regierung nicht angängig erscheine, ihn öffentlich hinzurichten, so werde er alsbald an einer Krankheit sterben. Ein Schlossergeselle, der in der Kommandantur zu tun gehabt hatte, sagte von Fabrizzio, er sei längst ins Jenseits befördert; man verschweige seinen Tod nur aus politischen Gründen. Die Aussage dieses Menschen brachte Clelias Entschluß zur Reife.


 << zurück weiter >>