Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Vierzehntes Kapitel

Während Fabrizzio in einem Dörfchen bei Parma auf der Jagd nach der Liebe war, hatte der Großfiskal Rassi, der nicht ahnte, wie nahe er ihm war, seinen Prozeß weitergeführt, als ob er ein Liberaler sei. Er behauptete, die Entlastungszeugen wären unauffindbar,und schüchterte sie ein. Nach einer höchst spitzfindigen Arbeit, die fast ein Jahr in Anspruch genommen hatte, etwa zwei Monate nach Fabrizzios zweiter Einkehr in Bologna, verkündete endlich die Marchesa Raversi eines Freitags freudestrahlend jedem, der ihre Gemächer betrat, morgen werde das Urteil, das seit einer Stunde zuungunsten des kleinen del Dongo gefällt sei, Serenissimus zur Unterschrift vorgelegt und von ihm bestätigt werden. Wenige Augenblicke darauf erhielt die Duchezza Kunde von diesem Sieg ihrer Feindin.

›Der Graf muß von seinen Spitzeln recht schlecht bedient werden‹, sagte sie sich. ›Noch heute morgen glaubte er, das Urteil könne nicht eher als in acht Tagen gefällt werden. Am Ende ist er gar nicht betrübt, wenn mein kleiner Großvikar von Parma fernbleibt. Aber‹, fuhr sie siegesgewiß fort, ›wir erleben schon seine Wiederkehr, und eines Tages wird er auch Bischof!‹

Die Duchezza klingelte.

»Rufen Sie die gesamte Dienerschaft in den großen Saal zusammen,« befahl sie ihrem Kammerdiener, »auch das Küchenpersonal! Dann gehen Sie in die Kommandantur und holen einen vorschriftsmäßigen Erlaubnisschein zur Bestellung von vier Postpferden. Diese vier Pferde sollen binnen einer halben Stunde vor meinen Reisewagen gespannt bereit stehen!«

Alle weiblichen Hände im Hause machten sich ans Kofferpacken. Die Duchezza zog hastig ein Reisekleid an. Dem Grafen teilte sie nichts mit. Der Gedanke, ihm einen kleinen Streich zu spielen, versetzte sie in Entzücken.

»Meine Freunde,« sagte sie zu der versammelten Dienerschaft, »ich habe erfahren, daß mein armer Neffe soeben in contumaciam verurteilt worden ist, weil er den Mut gehabt hat, sein Leben gegen einen Wüterich zu verteidigen. Giletti wollte ihn ermorden. Jeder von euch hat mit eigenen Augen sehen können, wie gütig und verträglich Fabrizzio ist. Mit vollem Recht empört über diese gräßliche Ungerechtigkeit, reise ich nach Florenz. Ich zahle jedem von euch seinen Lohn auf zehn Jahre aus. Wenn es euch einmal schlecht gehen sollte, dann schreibt mir, und solange ich noch eine Zechine besitze, werde ich immer für euch etwas übrig haben.«

Die Duchezza dachte genau so, wie sie sprach. Bei ihren letzten Worten begannen die Diener zu schluchzen. Sie bekam selber feuchte Augen. Mit bewegter Stimme fuhr sie fort: »Betet zu Gott für mich und Monsignore Fabrizzio del Dongo, den Großvikar der Diözese, der morgen zur Galeere verurteilt wird oder, was viel gescheiter wäre, zum Tode.«

Die Tränen der Dienerschaft flossen noch reichlicher, verwandelten sich aber allmählich in geradezu aufrührerische Rufe. Die Duchezza bestieg ihren Wagen und befahl, nach dem fürstlichen Schlosse zu fahren. Trotz der ungebührlichen Stunde ließ sie sich durch den General Fontana, den diensttuenden Flügeladjutanten, einen Empfang auswirken. Sie war freilich nichts weniger als hoffähig gekleidet, was den Flügeladjutanten arg verblüffte. Serenissimus war jedoch keineswegs verwundert oder gar irgendwie ungnädig über ihre nachgesuchte Unterredung.

›Da werden wir wohl nicht zu knapp Tränen aus schönen Augen zu sehen kriegen!‹ sagte er sich und rieb sich schmunzelnd die Hände. ›Sie kommt, um Gnade zu erflehen. Endlich duckt sich diese stolze Schönheit! Sie war auch nachgerade unerträglich mit ihrem überlegenen Gehabe. Ihre Augen kamen mir immer vor, als wollten sie mir beim geringsten Anlaß, wenn ihr etwas nicht paßte, sagen: ›Neapel oder Mailand sind doch viel nettere Orte zum Leben als dies kleinstädtische Parma!‹ Über Neapel und Mailand regiere ich nun einmal nicht. Aber die hohe Dame kommt doch schließlich, mich um etwas zu bitten, was lediglich von mir abhängt und worauf sie brennt. Ich habe immer gemeint, irgendeinen Vorteil wird mir die Ankunft ihres Neffen doch bringen.‹

Während Serenissimus bei diesen Gedanken lächelte und sich in angenehme Aussichten verlor, schritt er in seinem Arbeitszimmer auf und ab, an dessen Tür der General Fontana immer noch kerzengerade und steif wie ein Soldat im Glied stand. Als er die Augen des Fürsten leuchten sah und sich dabei die Reisekleidung der Duchezza vergegenwärtigte, glaubte er, die Monarchie sei am Untergehen. Seine Verwunderung steigerte sich ins Grenzenlose, als er hörte, wie Serenissimus zu ihm sagte: »Bitten Sie die Frau Duchezza, sich ein Viertelstündchen zu gedulden!«

Der diensttuende General machte Kehrt wie ein Soldat bei der Parade. Der Fürst lächelte ihm nach. ›Der ist auch nicht gewöhnt,‹ sagte er sich, ›die stolze Duchezza warten zu sehen! Das verdutzte Gesicht, mit dem er ihr sagen wird, sie solle ein Viertelstündchen warten, ist das Vorspiel zu der rührenden Tränenszene, die dieses Gemach alsbald erleben wird.‹

Dieses Viertelstündchen war für Serenissimus köstlich. Er lief mit festen, gleichmäßigen Schritten hin und her: er war Herrscher.

›Hier handelt es sich darum, nichts zu sagen, was nicht unbedingt angebracht ist. Welcher Art auch meine Gefühle der Duchezza gegenüber sein mögen, ich darf auf keinen Fall vergessen, daß sie eine der ersten Damen meines Hofes ist. Wie hat Ludwig XIV. die Prinzessinnen –Töchter empfangen, wenn er Anlaß hatte, über sie ungehalten zu sein!‹ Seine Blicke blieben an dem Bildnis des großen Königs haften.

Das Spaßige an der Geschichte war, daß sich der Fürst gar nicht die Frage vorlegte, ob und inwiefern er Fabrizzio Gnade angedeihen lassen wolle. Nach zwanzig Minuten erschien endlich der getreue Fontana abermals in der Tür, doch ohne ein Wort zu sagen.

»Die Duchezza kann eintreten!« rief Serenissimus mit theatralischer Miene. ›Die Tränen gehen los!‹ dachte er und zog, wie um sich auf dieses Schauspiel vorzubereiten, sein Taschentuch heraus.

Die Duchezza war schöner und anmutiger denn je. Man sah ihr keine fünfundzwanzig Jahre an. Beim Anblick ihres leichten, flinken Schrittes, mit dem sie über die Teppiche hinschwebte, war der Flügeladjutant nahe daran, seinen Verstand gänzlich zu verlieren.

»Ich habe Serenissimus um Verzeihung zu bitten,« begann die Duchezza mit unbeschwerter und heiterer Flüsterstimme, »daß ich mir die Freiheit genommen habe, vor Eurer Hoheit in einem Kleid zu erscheinen, das nicht ganz der Hofordnung entspricht, aber Serenissimus haben mich dermaßen mit Allerhöchstdero Güte verwöhnt, daß ich zu hoffen wage, Eure Hoheit werden mir auch noch diese letzte Gnade erweisen.«

Die Duchezza setzte ihre Worte recht langsam, um einen ausgiebigeren Genuß am Mienenspiel des Fürsten zu haben. Es war köstlich durch die Mischung von tiefem Erstaunen und einem Rest von hoheitsvollem Ausdruck, der aus der Kopf- und Armhaltung sprach. Der Fürst stand lange wie vom Blitz erstarrt. Mit seiner leisen, schrillen Stimme, die ganz verwirrt klang, stieß er ab und zu nur mühsam ein »Wieso? Wieso?« hervor.

Die Duchezza heuchelte Ehrfurcht und ließ Serenissimus nach einer Verbeugung volle Zeit zur Antwort. Schließlich begann sie von neuem:

»Ich wage zu hoffen, daß Serenissimus mir mein ungebührliches Kostüm allergnädigst verzeihen.«

Während sie das sagte, schimmerten ihre Spötteraugen in so lebhaftem Feuer, daß es dem Fürsten unerträglich ward. Er blickte zur Decke empor. Das war an Serenissimus immer das Kennzeichen der äußersten Hilflosigkeit.

»Wieso? Wieso?« wiederholte er. Dann fand er zum Glück eine Redensart: »Frau Duchezza, nehmen Sie doch Platz!«

Er rückte ihr höchst eigenhändig und leidlich gewandt einen Lehnsessel zurecht. Die Duchezza war für diese Artigkeit keineswegs unempfänglich; sie mäßigte das Ungestüm ihrer Blicke.

»Wieso? Wieso?« wiederholte Serenissimus abermals, indem er sich in seinem Lehnsessel rekelte, als ob er den richtigen Fleck zum Sitzen nicht finden könne.

»Ich will die Nachtkühle zur Postfahrt benutzen,« entgegnete ihm die Duchezza, »und da meine Abwesenheit vielleicht von einiger Dauer sein wird, so habe ich das Land Eurer Hoheit auf keinen Fall verlassen wollen, ohne für all die Gnade und das Gute untertänigst zu danken, mit denen Serenissimus mich seit fünf Jahren allergnädigst ausgezeichnet haben.«

Bei diesen Worten begriff der Fürst endlich. Er wurde fahl. Er war just einer, den es im höchsten Grade schmerzte, wenn er sich in seinen Voraussetzungen getäuscht sah. Dann nahm er eine ungemein hoheitsvolle Miene an, deren sich Ludwig XIV. droben in seinem Rahmen nicht hätte zu schämen brauchen.

›Ausgezeichnet!‹ sagte sich die Duchezza. ›Das ist ein Mann!‹

»Und was ist die Veranlassung zu dieser plötzlichen Abreise?« fragte Serenissimus ziemlich scharf.

»Ich hegte diese Absicht schon lange,« erwiderte die Duchezza, »aber eine kleine Unbill, die man Monsignore del Dongo angetan hat, der morgen zum Tode oder zur Galeere verurteilt wird, hat meine Abreise beschleunigt.«

»Und in welche Stadt gehen Sie?«

»Ich denke, nach Neapel.« Und indem sie sich erhob, fügte sie hinzu: »Es bleibt mir nichts mehr übrig, als von Eurer Hoheit Abschied zu nehmen. Ich danke Serenissimus alleruntertänigst für die frühere Huld und Gnade.«

Die Duchezza hatte in so festem Tone gesprochen, daß der Fürst wohl erkannte, in zwei Minuten sei alles vorbei. Ward diese verblüffende Abreise einmal zur Tatsache, dann war ein Ausgleich ein Ding der Unmöglichkeit. Sie war keine Frau, die einen einmal getanen Schritt zurückging. Serenissimus lief ihr nach.

»Sie wissen sehr wohl, Frau Duchezza,« sagte er zu ihr und ergriff ihre Hand, »daß ich Sie immer geliebt habe, und zwar aus einer Freundschaft, der einen anderen Namen zu geben nur an Ihnen gelegen hat. Es ist ein Mord begangen worden; das läßt sich nicht leugnen. Ich habe die Untersuchung in die Hände meiner besten Richter gelegt.«

Bei diesen Worten stand die Duchezza in ihrer vollen Hoheit da. Jede Spur von Untertänigkeit und selbst von Höflichkeit wich mit einem Schlage von ihr. Das empörte Weib kam zutage, das empörte Weib, das sich einem Manne entgegenstellt, von dessen Unredlichkeit es überzeugt ist. Mit dem Ausdruck des leidenschaftlichsten Zornes, ja der Verachtung sagte die Duchezza, jedes einzelne Wort betonend: »Ich verlasse die Lande Eurer Hoheit für immer. Ich will nie wieder vom Großfiskal Rassi und den übrigen niederträchtigen Mordgesellen sprechen hören, die meinen Neffen wie manchen anderen zum Tode verurteilt haben. Wollen Serenissimus nicht Bitternis in diese letzten Augenblicke träufeln, die ich bei einem Fürsten verbringe, der liebenswürdig und geistvoll ist, wofern er nicht hintergangen wird, so bitte ich alleruntertänigst, mich nicht an jene elenden Richter erinnern zu wollen, die sich für tausend Taler oder um ein Ordenskreuz verkaufen.«

Vor der bewundernswerten und vor allem überzeugten Kraft, mit der diese Worte ausgesprochen wurden, erschrak der Fürst. Einen Augenblick fürchtete er, zu erleben, daß seine Würde durch eine noch unmittelbarere Anklage bloßgestellt werde, aber im großen ganzen schlug seine Stimmung rasch in ein Behagen um: er bewunderte die Duchezza; in diesem Augenblick trug ihre Persönlichkeit den Stempel erhabener Schönheit.

›Großer Gott, wie ist sie schön!‹ sagte sich Serenissimus. ›Man muß wohl etwas nachgiebig sein vor einem solchen Prachtweib, das es in ganz Italien kein zweites Mal gibt. Nun, mit ein wenig Geschick wird es mir vielleicht gelingen, sie eines Tages zu meiner Montespan zu machen. Welch ein himmelweiter Unterschied zwischen ihr und dieser Zierpuppe, der Marchesa Balbi, die obendrein meinen armen Untertanen jedes Jahr mindestens dreimalhunderttausend Franken stiehlt. – Habe ich aber recht gehört?‹ fiel ihm plötzlich ein. ›Sie hat gesagt: ›meinen Neffen wie manchen anderen zum Tode verurteilt‹?‹

Nun gewann der Zorn in ihm die Oberhand, und mit einer des höchsten Thrones würdigen Hoheit sagte er nach einigem Stillschweigen: »Und was müßte geschehen, damit die gnädige Frau nicht abreist?«

»Eine Tat, deren Hoheit nicht fähig sind!« erwiderte die Duchezza im Tone bittersten Spottes und unverhohlener Verachtung.

Serenissimus war außer sich, aber sein selbstbewußtes Herrscheramt hatte ihm die Kraft anerzogen, dem ersten Eindruck nicht nachzugeben.

›Ich muß dieses Weib haben!‹ sagte er sich. ›Das bin ich mir schuldig. Hinterher lasse ich sie in Verachtung sterben. – Wenn sie so aus diesem Gemach geht, sehe ich sie niemals wieder!‹

Aber wie sollte er jetzt, berauscht von Zorn und Haß, das rechte Wort finden, um der Pflicht gegen sich selbst zu genügen und die Duchezza davon abzubringen, seinen Hof auf der Stelle zu verlassen? ›Eine Geste läßt sich weder berichtigen noch lächerlich machen‹, sagte er sich und trat zwischen die Duchezza und die Tür seines Arbeitszimmers. Da vernahm er ein leises Klopfen an dieser Tür.

»Was für ein Hanswurst,« fluchte er mit Donnerstimme, »was für ein Hanswurst will mich mit seiner albernen Gegenwart belästigen?«

Der arme General Fontana tauchte mit entfärbtem und gänzlich verstörtem Gesicht auf. Wie ein zum Tode Verurteilter stammelte er mühselig die Worte: »Seine Exzellenz der Graf Mosca bittet alleruntertänigst, vorgelassen zu werden.«

»Er soll eintreten!« schrie Serenissimus, und als sich Mosca verbeugte, sagte er zu ihm: »Die Frau Duchezza di Sanseverina hier ist im Begriff, Parma zu verlassen und nach Neapel überzusiedeln. Obendrein sagt sie mir Grobheiten.«

»Ich verstehe nicht«, erwiderte Mosca bleich.

»Was? Sie wissen nichts von diesem Reiseplan?«

»Nicht ein Sterbenswort! Als ich die gnädige Frau um sechs Uhr verließ, war sie lustig und guter Dinge.«

Die Wirkung dieser Worte auf den Fürsten war unbeschreiblich. Zunächst blickte er Mosca an; dessen Blaßwerden bewies ihm, daß er die Wahrheit gesprochen und an dem tollen Streich der Duchezza keinen Anteil hatte. ›Dann verliere ich sie auf immer‹, sagte er sich. Vergnügen und Rachgier waren mit einem Male völlig von ihm gewichen. ›In Neapel wird sie zusammen mit ihrem Neffen Fabrizzio Epigramme auf den Riesengrimm des Zwergfürsten von Parma schmieden.‹ Er sah die Duchezza an. Die heftigste Verachtung stritt sich in ihrem Herzen mit dem Zorn; ihre Augen hafteten gerade auf dem Grafen Mosca, und die so feinen Linien ihres schönen Mundes verrieten die bitterste Geringschätzung. Ihr ganzes Gesicht sagte: ›Elender Höfling!‹

›Somit entgeht mir dieses Mittel, sie in meinem Lande zurückzuhalten‹, sagte sich der Fürst nach einem prüfenden Blick auf die Duchezza. ›Noch in dieser Stunde, wenn sie dieses Zimmer verläßt, ist sie für mich verloren. Gott weiß, was sie in Neapel über meine Justiz erzählen wird. Mit ihrem Witz und der göttlichen Überzeugungskraft, die ihr der Himmel verliehen hat, wird sie es fertig bringen, daß ihr alle Welt glaubt. Ich werde ihr den Ruf eines lächerlichen Tyrannen verdanken, der nachts aufsteht und unter sein Bett guckt.‹

Durch eine geschickte Bewegung, als ob er hin und her liefe, um seine Bewegung zu dämpfen, nahm Serenissimus wiederum an der Tür seines Zimmers Aufstellung. Der Graf stand zu seiner Rechten, drei Schritt von ihm, totenblaß, entstellt und dermaßen aufgeregt, daß er sich auf die Rückenlehne des Sessels stützen mußte, auf dem die Duchezza bei Beginn der Unterredung gesessen und den der Fürst in einer Zorneswallung weit weggestoßen hatte. ›Wenn die Herzogin abreist,‹ sagte er sich, ›folge ich ihr; wird sie aber meine Begleitung haben wollen? Das ist die Frage!‹

Zur Linken des Fürsten stand die Duchezza. Hoch aufgerichtet, die Arme gekreuzt und gegen ihre Brust gedrückt, blickte sie ihn mit bewundernswürdiger Dreistigkeit an. Blutlose Blässe hatte die lebhaften Farben völlig verdrängt, die sonst ihr stolzes Antlitz belebten.

Im Gegensatz zu den beiden hatte der Fürst einen roten Kopf und unruhige Mienen. Seine linke Hand spielte nervös mit dem Stern an dem großen Bande seines Hausordens, den er unterm Rocke trug; mit der rechten strich er sich das Kinn.

»Was muß geschehen?« fragte er den Grafen, ohne recht zu wissen, was er tat, nur von der Gewohnheit geleitet, ihn in allen Dingen zu befragen.

»Ich weiß es wirklich nicht, Serenissimus!« erwiderte der Graf im Ton eines Sterbenden. Er brachte seine Entgegnung nur mühsam hervor. Der Klang seiner Stimme war für den Fürsten der erste Balsam während dieser Unterredung, die seinen Stolz verletzte, und dieses bescheidene Glück gab ihm ein paar Worte ein, die seiner Eigenliebe schmeichelten.

»Wie dem auch sei,« sagte« er, »ich bin von uns dreien der Vernünftigste. Ich muß wohl von meiner Stellung in der Welt gänzlich absehen. Ich will als Freund sprechen.« Ein huldvolles Lächeln begleitete diese Worte, das den glückseligen Zeiten Ludwigs XIV. ganz prächtig abgeschaut war. »Jawohl, als Freund zu Freunden! Frau Duchezza, was muß geschehen, damit Sie einen überstürzten Entschluß wieder rückgängig machen?«

»Wahrlich, ich weiß es nicht!« antwortete die Duchezza mit einem tiefen Seufzer. »Wahrlich, ich weiß es nicht, so sehr ist mir Parma zuwider geworden!« Sie hatte dieser Antwort keineswegs eine Spitze geben wollen; man sah es ihr an, daß ihr Mund die Wahrheit sprach. Der Graf drehte sich jäh nach ihr um. Seine Höflingsseele bäumte sich auf. Er warf dem Fürsten einen flehentlichen Blick zu. Mit viel Würde und Kaltblütigkeit ließ Serenissimus einen Augenblick verstreichen; dann wandte er sich an den Grafen.

»Ich sehe,« sagte er, »Ihre reizende Freundin ist völlig außer Fassung. Sehr einfach: sie betet ihren Neffen an.« Dann wandte er sich zur Duchezza und fuhr mit schmeichelndem Blick und in einem Tone fort, der die Komödie streifte: »Was muß geschehen, um diesen schönen Augen zu gefallen?«

Die Duchezza hatte Zeit zur Überlegung gehabt; langsam und bestimmt, gleichsam als diktiere sie ihr Ultimatum, erwiderte sie: »Serenissimus müßten mir einen huldvollen Brief schreiben, wie Eure Hoheit das vortrefflich verstehen. Der Inhalt müßte sein, daß Serenissimus von der Schuld des Fabrizzio del Dongo, Ersten Großvikars des Erzbischofs, keineswegs überzeugt seien und deshalb das Urteil nicht bestätigen wollen, wenn es Eurer Hoheit unterbreitet wird, und daß dieser ungerechte Prozeß keinerlei Folgen für die Zukunft haben soll ...«

»Wie? Ungerecht?« rief der Fürst, bis in die Haarwurzeln errötend und von neuem aufbrausend.

»Das ist nicht alles!« erwiderte die Duchezza mit dem Stolz einer Römerin. »Noch heute nacht,« sagte sie mit einem Blick auf die Wanduhr, »– und es ist bereits ein Viertel auf zwölf –, noch heute nacht müßten Serenissimus der Marchesa Raversi den Rat erteilen lassen, sich auf ihrem Landgut von den Anstrengungen zu erholen, die sie ein gewisser Prozeß kostete, von dem sie bei Beginn ihrer heutigen Abendgesellschaft geredet hat.«

Der Fürst lief in seinem Arbeitszimmer umher wie ein wütender Löwe.

»Hat man je so ein Weib erblickt?« rief er aus. »Sie vergißt allen Respekt vor mir!«

Die Duchezza antwortete mit vollendetem Liebreiz: »Nie in meinem Leben ist es mir in den Sinn gekommen, vor Serenissimus den Respekt zu vergessen. Eure Hoheit hatten aber die außerordentliche Gnade, zu sagen, Hoheit sprächen als Freund zu Freunden. Übrigens verspüre ich gar keine Lust, in Parma zu bleiben.«

Bei diesen letzten Worten sah sie den Grafen voll unsäglicher Verachtung an. Dieser Blick brachte den Fürsten zum Entschluß. Bis dahin hatte er sehr geschwankt, wenn er auch seinen Worten nach zu einem Entgegenkommen geneigt erschienen war. Er spottete gern aller Worte.

Nach etlichem Hinundherreden gab er dem Grafen schließlich doch den Befehl, einen Brief aufzusetzen, wie ihn die Duchezza mit Anmut ertrotzt hatte. Der Graf ließ den Satz, der ungerechte Prozeß solle keinerlei Folgen für die Zukunft haben, aus. ›Es genügt,‹ sagte er sich, ›daß Serenissimus verspricht, das Urteil nicht zu unterschreiben, wenn es ihm vorgelegt wird.‹ Der Fürst dankte ihm mit einem Blick, als er den Brief unterzeichnete.

Damit hatte der Graf einen großen Fehler begangen. Der Fürst war müde und hätte alles unterschrieben. Er glaubte, er habe sich gut aus der Verlegenheit gezogen, und während der ganzen Komödie hatte ihn nur der eine Gedanke beherrscht: ›Wenn die Duchezza meinen Hof verläßt, ist er in acht Tagen verödet.‹

Der Graf beobachtete, wie der Monarch das Datum durchstrich und das des nächsten Tages dafür hinschrieb. Er schaute auf die Wanduhr: Der Zeiger stand kurz vor Mitternacht. Der Minister sah in dieser Berichtigung des Datums nur den kleinlichen Eifer des Fürsten, seine Peinlichkeit und fürsorgliche Regierung zu zeigen. Gegen die Verbannung der Marchesa Raversi wandte Serenissimus keine Silbe ein. Ernst IV. machte es besonderen Spaß, Leute in die Verbannung zu schicken.

»General Fontana!« befahl er, indem er die Tür ein wenig öffnete.

Der General erschien mit so verdutztem und so neugierigem Gesichte, daß die Duchezza und der Graf deswegen einen belustigten Blick wechselten. Dieser Blick war ihr Friedensschluß.

»General Fontana,« sagte der Fürst, »nehmen Sie meinen Wagen, der in der Halle bereit steht, und fahren Sie zur Marchesa Raversi! Lassen Sie sich bei ihr anmelden! Ist sie zu Bett, dann fügen Sie hinzu, Sie kämen von mir. Wenn Sie in ihrem Zimmer sind, dann sagen Sie ihr buchstäblich folgende Worte und nichts weiter: ›Frau Marchesa Raversi, Serenissimus ersucht Sie, morgen vor acht Uhr vormittags nach Ihrem Schloß Velleia abzureisen. Serenissimus wird Ihnen anzeigen lassen, wann Sie nach Parma zurückzukehren haben.‹«

Die Augen des Fürsten suchten die der Duchezza. Ohne ihm Dank zu sagen, wie er es eigentlich erwartet hatte, machte sie ihm eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung und ging rasch hinaus.

»Das ist ein Weib!« sagte Serenissimus und wandte sich zu Mosca.

Entzückt über die Verbannung der Marchesa Raversi, die allen seinen Handlungen als Minister entgegenarbeitete, sprach der Graf eine reichliche halbe Stunde als waschechter Höfling. Er wollte die Eigenliebe des Monarchen trösten und verließ ihn nicht eher, als bis er ihn durch und durch überzeugt sah, daß die anekdotenreiche Lebensgeschichte Ludwigs XIV. keine so herrliche Episode enthalte wie die, die er seinem künftigen Biographen soeben geliefert hatte.

In ihren Palazzo zurückgekehrt, schloß sich die Duchezza ein und befahl, niemanden vorzulassen, sogar den Grafen nicht. Sie wollte allein mit sich selbst sein und sich über den soeben erlebten Auftritt klar werden. Sie hatte blindlings drauflos gehandelt, so, wie es ihr im Augenblick Freude machte. Aber nach welcher Richtung sie sich hätte hinreißen lassen, sie hätte sie unwandelbar weiterverfolgt. Sie hätte sich keinerlei Vorwürfe gemacht, sobald sie wieder bei kaltem Blute war, noch weniger hätte sie etwas bereut. So war ihr Charakter, kraft dessen sie noch mit sechsunddreißig Jahren die ansehnlichste Frau am Hofe zu sein vermochte.

Sie grübelte nun nach, was ihr Parma Angenehmes bieten könne, als ob sie von einer langen Reise zurückgekommen sei, so sicher war sie in der Zeit von neun bis elf Uhr abends gewesen, diesem Land auf immer den Rücken zu kehren.

›Der arme Graf sah spaßig aus, als er bei Serenissimus meine Abreise erfuhr! Tatsächlich, er ist ein liebenswürdiger Mann mit einem recht seltenen Herzen. Er hätte seinen Ministerposten im Stich gelassen, um mir zu folgen ... Aber er hat mir auch ganze fünf Jahre lang keine Untreue vorzuwerfen gehabt. Wieviel verheiratete Frauen können ihrem Herrn und Gebieter das gleiche sagen? Man muß gestehen, er macht sich gar nicht wichtig, ist gar nicht heikel; er reizt einen nie dazu, ihn zu hintergehen. Vor mir scheint er sich immer seiner Macht zu schämen ... Er zog ein drolliges Gesicht vorhin bei seinem Herrn und Meister. Wäre er hier, ich fiele ihm um den Hals ... Aber um nichts in der Welt möchte ich dazu da sein, einen Minister, der seinen Posten verloren hat, aufzuheitern; das ist ein Übel, das nur der Tod heilt und das – zum Sterben wäre. Welch ein Unglück mag es sein, in jungen Jahren Minister zu werden! Ich muß ihm schreiben. Das muß er in aller Form erfahren, ehe er sich mit seinem Fürsten überwirft. – Aber ich habe meine brave Dienerschaft vergessen.‹

Die Duchezza klingelte. Die weiblichen Dienstboten waren immer noch mit dem Kofferpacken beschäftigt. Der Reisewagen war unter dem Torweg vorgefahren, und man belud ihn. Alle Diener, die keine Arbeit hatten, umstanden den Wagen, Tränen in den Augen. Cechina, die allein bei wichtigen Anlässen zu ihr kommen durfte, berichtete ihr davon.

»Ruf sie herauf!« befahl die Duchezza. Kurz danach betrat sie den großen Empfangssaal.

»Man hat mir versprochen,« sagte sie zu den Leuten, »daß das Urteil gegen meinen Neffen vom Fürsten nicht unterzeichnet wird. Ich gebe vorläufig meine Abreise auf. Wir wollen abwarten, ob meine Feinde so mächtig sind, diesen Entschluß umzustoßen.«

Nach einem kurzen Stillschweigen begannen die Dienstboten zu rufen: »Die Frau Duchezza lebe hoch!« Dazu klatschten sie wie rasend Beifall. Die Duchezza, die schon im Nebenzimmer war, erschien wie eine herausgerufene Schauspielerin von neuem, machte ihren Leuten eine leichte, gelungene Verbeugung und sagte zu ihnen: »Ich danke euch, meine Freunde!« Sie hätte in diesem Augenblick nur ein Wort zu sagen brauchen, und die ganze Schar wäre nach dem Schloß marschiert und hätte es gestürmt.

Sie winkte einem Kutscher, der früher Schmuggler gewesen war, einem zuverlässigen Menschen. Er folgte ihr.

»Du wirst dich sogleich als wohlhabender Bauer verkleiden und auf irgendeine Weise Parma verlassen. Du mietest eine Kutsche und fährst so rasch wie möglich nach Bologna. Dort gehst du wie ein Spaziergänger in die Stadt hinein, und zwar durch das Florenzer Tor, und stellst Fabrizzio, der im Pellegrino wohnt, ein Paket zu, das dir Cechina einhändigen wird. Fabrizzio hält sich verborgen, und zwar unter dem Namen Signor Giuseppe Bossi. Verrate ihn ja nicht durch eine Unbesonnenheit! Laß dir auch nicht anmerken, daß du ihn kennst. Meine Feinde schicken dir vielleicht Aufpasser nach. Nach ein paar Stunden oder etlichen Tagen wird dich Fabrizzio wieder zurückschicken. Ganz besonders mußt du auf dem Heimweg vorsichtig sein, damit du ihn nicht verrätst.«

»Aha,« schmunzelte der Kutscher, »die Leute der Marchesa Raversi! Wir werden aufpassen, und wenn die gnädige Frau nur wollte, so sollte sie bald von der Bildfläche verschwunden sein!«

»Vielleicht später einmal! Du haftest mir mit deinem Kopf, daß nichts gegen meinen Befehl geschieht.«

Es war eine Abschrift des Briefes von Serenissimus, die die Duchezza an Fabrizzio senden wollte; sie konnte sich das Vergnügen nicht versagen, ihn damit aufzuheitern. Sie fügte auch ein paar Worte über den Vorfall hinzu, dem sie den Brief verdankte. Diese paar Worte wurden zu zehn Seiten. Dann rief sie den Kutscher zum zweiten Male.

»Du kannst nicht vor früh vier Uhr aufbrechen,« sagte sie zu ihm, »erst wenn das Tor geöffnet ist.«

»Ich hatte die Absicht, mich durch die große Schleuse hinauszuschmuggeln. Das Wasser geht einem bis zum Kinn, aber ich komme schon durch.«

»Nein,« sagte die Duchezza, »ich dulde nicht, daß sich einer meiner treuesten Diener der Malaria aussetzt. Hast du irgendeinen Freund unter den Leuten Seiner Hochwürden des Erzbischofs ?«

»Der zweite Kutscher ist mein Freund.«

»Hier ist ein Brief an Monsignore. Begib dich lautlos in seinen Palazzo und laß dich zu seinem Kammerdiener führen! Ich möchte nicht, daß man Seine Hochwürden stört. Hat er sich bereits in sein Schlafzimmer eingeschlossen, dann bleibst du die Nacht über im Palazzo und läßt dich früh um vier Uhr als von mir gesandt anmelden. Monsignore hat die Gewohnheit, mit Tagesanbruch aufzustehen. Erbitte dir von Seiner Hochwürden den Segen, überreiche ihm meinen Brief und nimm etwaige Briefschaften in Empfang, die er dir für Bologna einhändigt.«

Dem Erzbischof sandte die Duchezza die Urschrift des fürstlichen Briefes. Da sich dieses Schreiben auf seinen Großvikar bezöge, bäte sie ihn, es dem erzbischöflichen Archiv einzuverleiben. Sie hoffe insgeheim, die Herren Großvikare und Kanoniker, die Amtsbrüder ihres Neffen, würden davon Kenntnis erhalten. Alles natürlich unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit.

Die Duchezza schrieb an Monsignore Landriani mit einer Vertraulichkeit, die diesen Spießbürger entzücken mußte. Allein die Unterschrift betrug drei Zeilen. Der überaus freundschaftliche Brief schloß mit folgendem Wortschwall:

Angelina Cornelia Isotta Valserra del Dongo, Duchezza di Sanseverina.

›So umständlich‹, dachte sie und lachte dabei, ›habe ich mich seit meinem Ehevertrag mit dem armen Duca nicht unterzeichnet! Aber man gewinnt Leute dieses Schlages nur mit dergleichen. In den Augen von Spießbürgern ist Karikatur Schönheit.‹

Sie konnte ihr Tagewerk nicht beschließen, ohne der Versuchung nachzugeben, dem armen Grafen einen Brief voller Bosheit zu schreiben. Sie machte ihm die förmliche Anzeige ›zur Nachachtung in seinem Verkehr mit gekrönten Häuptern‹, daß sie sich nicht fähig fühle, einen in Ungnade gefallenen Minister aufzuheitern. ›Serenissimus jagt Ihnen Furcht ein‹, schrieb sie. ›Wenn Sie nicht mehr vor ihn treten dürfen, dann müßte ich Ihnen Furcht einjagen.‹ Diesen Brief ließ sie auf der Stelle besorgen.

Am anderen Morgen gegen sieben Uhr befahl Serenissimus den Grafen Zurla, den Minister des Inneren, zu sich.

»Erlassen Sie erneut die strengsten Verfügungen an alle Behörden, Herrn Fabrizzio del Dongo zu verhaften«, sagte er zu ihm. »Mir ist zur Kenntnis gekommen, daß er es vielleicht wagen wird, unsere Lande wieder zu betreten. Dieser Flüchtling hält sich in Bologna auf, wo er den Armen unserer Gerichtsbarkeit zu trotzen scheint. Schicken Sie Schergen, die ihn persönlich kennen:

erstens in alle Dörfer längs der großen Straße Bologna – Parma,

zweitens in die Umgebung des Schlosses der Duchezza di Sanseverina bei Sacca und ihrer Besitzung bei Castelnuovo,

drittens in die Nähe des Landgutes des Grafen Mosca.

Ich erwarte von Ihrer hohen Klugheit, Graf, daß diese Verfügungen Ihres Fürsten vor den Schnüffeleien des Grafen Mosca geheim bleiben. Sie wissen, ich will die Verhaftung des Herrn Fabrizzio del Dongo.«

Kaum war der Minister hinausgegangen, da trat durch eine verborgene Tür der Großfiskal Rassi in das Zimmer des Fürsten. Er sah aus wie ein halb zugeklapptes Taschenmesser und machte bei jedem Schritt eine Verbeugung. Die Gesichtszüge dieses Halunken waren zum Malen; sie stimmten vollkommen zu der niederträchtigen Rolle, die er am Hofe spielte. Der unstete und unsichere Blick seiner Augen verriet das Bewußtsein seiner Schlechtigkeit, aber der anmaßende und verzerrte Zug von Zuversicht um seinen Mund bewies, daß er der Verachtung zu trotzen wagte.

Da diese Persönlichkeit einen ziemlich bedeutenden Einfluß auf das Geschick Fabrizzios haben wird, so müssen wir ihr ein paar Worte widmen. Rassi war von hoher Gestalt, hatte schöne, überaus kluge Augen, aber ein von Blatternarben entstelltes Gesicht. Geistig war er äußerst begabt und durchtrieben; man schrieb ihm die vollste Beherrschung der Rechtswissenschaft zu. Worin er aber besonders hervorragte, das war, daß er stets eine Hintertür hatte. Wie ein Fall auch liegen mochte, er fand mühelos und binnen wenigen Augenblicken rechtliche Mittel und Wege, um eine Verurteilung oder Freisprechung durchzusetzen. Er war ein Meister in Advokatenschlichen.

Dieser Mensch, um den die größten Monarchieen Europas den Fürsten von Parma beneiden konnten, hatte nur eine Leidenschaft: mit hohen Persönlichkeiten auf vertrautem Fuße zu stehen und sich durch Narreteien bei ihnen beliebt zu machen. Einerlei, ob ein Mächtiger über das lachte, was er sagte, oder gar über seine Person oder empörend über Frau Rassi witzelte: wenn er nur überhaupt lachte und ihn vertraulich behandelte, dann war er zufrieden. Bisweilen hatte Serenissimus, wenn er nicht wußte, wie er diesen würdigen Oberrichter aufziehen sollte, ihm sogar Fußtritte gegeben, und der fing an zu heulen, wenn sie ihm weh taten. Sein angeborener Hang zu Harlekinaden war so stark, daß ihm der Salon eines Ministers, der ihn verhöhnte, lieber war als sein eigener, wo er das Zepter über alle schwarzen Talare des Landes schwang. Eine ganz besondere Stellung hatte sich Rassi dadurch geschaffen, daß es auch dem anmaßendsten Edelmann unmöglich war, ihn zu demütigen. Seine Rache für all die Unbill, die er täglich hinnahm, bestand darin, daß er sie dem Fürsten erzählte, bei dem er sich das Vorrecht erworben hatte, alles sagen zu dürfen. Allerdings war die Quittung dafür öfters eine wohlgezielte Ohrfeige, die ihn zwar schmerzte, aus der er sich aber im übrigen nichts machte. Die Gegenwart dieses Oberrichters zerstreute Serenissimus in Augenblicken übler Laune; dann belustigte er sich damit, ihn zu peinigen. Man sieht, Rassi war die vollendetste Hofschranze: ohne Ehrgefühl und immer guter Laune.

»Verschwiegenheit vor allen Dingen!« rief ihm der Fürst entgegen, ohne ihn zu begrüßen, als ob er einen Schuljungen vor sich hätte, er, der sonst gegen jedermann so höflich war.

»Von wann ist das Urteil?«

»Serenissimus, von gestern vormittag.«

»Wie viele Richter haben es unterschrieben ?«

»Alle fünf.«

»Und wie lautet es ?«

»Zwanzig Jahre Festung, wie Eure Hoheit mir befohlen haben.«

»Die Todesstrafe hätte Entrüstung hervorgerufen«, sagte der Fürst wie im Selbstgespräch. »Eigentlich schade! Welchen Eindruck hatte das auf dieses Weib gemacht! Aber es ist ein del Dongo, und dieser Name steht in Parma in hohem Ansehen wegen der drei Erzbischöfe, die fast unmittelbar aufeinander gefolgt sind. Zwanzig Jahre Festung, sagten Sie ?«

»Jawohl, Serenissimus,« entgegnete der Großfiskal Rassi, immer noch in seiner Taschenmesserstellung, »nach vorhergegangener öffentlicher Abbitte vor dem Bildnis Eurer Hoheit, und überdies Fasten bei Wasser und Brot an allen Freitagen und an den Vorabenden aller hohen Feiertage wegen offenkundiger Gottlosigkeit. Dies, um ihm zugleich für alle Zukunft den Hals zu brechen.«

»Schreiben Sie!« sagte der Fürst. »Seine Hoheit haben sich bewogen gefühlt, infolge untertäniger Bitten der Marchesa del Dongo, Mutter des Schuldigen, sowie der Duchezza di Sanseverina, seiner Tante, die vorstellig geworden sind, daß ihr Sohn und Neffe zur Zeit seines Verbrechens noch sehr jung und überdies von einer wahnsinnigen Leidenschaft zu der Frau des unglücklichen Giletti beherrscht gewesen sei, besagte Strafe des Fabrizzio del Dongo, trotz dem Abscheu vor einem derartigen Mord, allergnädigst in zwölf Jahre Festungshaft auf der Zitadelle zu verwandeln.«

»Geben Sie her zur Unterschrift!«

Der Fürst unterzeichnete und datierte um einen Tag zurück. Dann gab er Rassi das Urteil wieder und sagte: »Schreiben Sie unmittelbar unter meine Unterschrift: ›Nachdem die Duchezza di Sanseverina abermals einen Fußfall vor Seiner Hoheit getan, haben Allerhöchstderselbe zu erlauben geruht, daß der Verurteilte jeden Donnerstag eine Stunde auf der Plattform des großen fünfeckigen Turmes, gewöhnlich Torre Farnese genannt, spazieren gehen darf.‹«

»Unterschreiben Sie das!« sagte der Fürst. »Und vor allen Dingen reinen Mund, was Ihnen auch in der Stadt zu Ohren kommen möge. Dem Signor dei Capitani, der für zwei Jahre Festung war und für dieses lächerliche Maß auch noch Stimmung gemacht hat, lasse ich sagen, er möge die Gesetze und Verfügungen besser studieren. Nochmals: Stillschweigen und guten Morgen!«

Der Gerichtspräsident machte höchst würdevoll drei tiefe Bücklinge, die Serenissimus nicht beachtete.

Das ereignete sich früh sieben Uhr. Etliche Stunden später verbreitete sich die Neuigkeit von der Verbannung der Marchesa Raversi in der Stadt und in den Kaffeehäusern. Alle Welt sprach alsbald von diesem großen Ereignis. Die Verbannung der Marchesa verjagte für eine Weile aus Parma die unerbittliche Feindin der Kleinstädte und Duodezhöfe, die Langeweile. Der General Fabio Conti, der sich im Geist als Minister gesehen hatte, schützte einen Gichtanfall vor und kam mehrere Tage lang nicht aus seiner Zitadelle heraus. Die Bürgerschaft und also auch die kleinen Leute folgerten aus diesen Geschehnissen, es sei klar, daß sich Serenissimus entschlossen habe, das Erzbistum von Parma dem Monsignore del Dongo zu übertragen. Schlaue Kaffeehauspolitiker verstiegen sich sogar zu der Behauptung, man habe dem Padre Landriani, dem jetzigen Erzbischof, nahegelegt, Krankheit vorzuschützen und um seine Entlassung einzukommen; man wolle ihm ein fettes Jahresgehalt aus dem Tabakmonopol bewilligen. Das sei sicher. Dieses Gerücht drang bis zum Erzbischof, der sich darüber arg beunruhigte und dessen Eifer für unseren Helden mehrere Tage lang an starker Abkühlung litt. Zwei Monate später tauchte diese hübsche Neuigkeit in den Pariser Tageszeitungen auf, nur mit der kleinen Änderung, Graf Mosca, der Neffe der Herzogin von Sanseverina, würde demnächst Erzbischof.

Die Marchesa Raversi auf ihrem Schlosse Velleia war wütend. Sie war keineswegs ein Weibchen von der Sorte, die sich zu rächen wähnt, wenn sie ein paar kränkende Äußerungen gegen ihre Feinde vom Stapel läßt. Bereits am Tage nach ihrer Kaltstellung meldeten sich der Cavaliere Riscara und drei andere ihrer Freunde auf ihr Geheiß zu einem Empfang bei Serenissimus und baten um die Erlaubnis, sie in ihrem Schloß besuchen zu dürfen. Serenissimus empfing diese Herren höchst huldvoll, und ihr Eintreffen in Velleia gab der Marchesa Rückgrat. Vor Ablauf der zweiten Woche hatte sie dreißig Personen in ihrem Schlosse, lauter Leute, denen der liberale Minister später Stellungen verschaffen sollte. Allabendlich hielt die Marchesa eine regelrechte Beratung mit ihren bestunterrichteten Freunden ab. Eines Tages, als sie mehrere Briefe aus Parma und Bologna erhalten hatte, zog sie sich zeitig zurück. Ihre Lieblingszofe berief zunächst den jetzigen Herzenskönig der Marchesa, den Grafen Baldi, einen schmucken, aber gänzlich unbedeutenden jungen Mann, und dann den Cavaliere Riscara, seinen Vorgänger. Das war ein Männchen mit schwarzem Haar und schwarzer Seele, das seine Laufbahn als Mathematiklehrer an der Ritterakademie zu Parma begonnen hatte und jetzt Staatsrat und Ritter mehrerer Orden war.

»Ich habe die gute Gewohnheit,« sagte die Marchesa zu den beiden Herren, »niemals irgendein Schriftstück zu vernichten, und das lohnt sich. Hier sind neun Briefe, die mir die Sanseverina bei verschiedenen Gelegenheiten geschrieben hat. Sie werden alle beide nach Genua reisen; dort suchen Sie unter den Galeerensträflingen einen ehemaligen Notar namens Buratti, einen Namensvetter des großen venezianischen Dichters, oder Duratti. Sie, Graf, Sie setzen sich an meinen Schreibtisch und schreiben, was ich Ihnen diktieren werde:

›Mir fällt eben etwas ein, und ich schreibe es Dir. Ich gehe auf mein Landgütchen bei Castelnuovo. Wenn Du zwölf Stunden mit mir verleben wolltest, so wäre ich sehr glücklich. Wie mir scheint, ist nach dem, was sich hier soeben zugetragen hat, keine große Gefahr dabei. Die Wolken verziehen sich. Mache jedoch einen Halt, ehe Du nach Castelnuovo hineingehst. Du wirst auf der Landstraße einen meiner Leute finden; sie lieben Dich alle wie närrisch. Wohlverstanden, behalte für diese kleine Reise Deinen Namen Bossi. Man hat mir erzählt, Du trügst einen Bart wie der allerschönste Kapuziner; in Parma hat man Dich ja nur mit dem glatten Gesicht eines Großvikars gesehen ...‹

Verstehst du, Riscara?«

»Vollkommen. Nur ist die Reise nach Genua überflüssiger Aufwand. Ich kenne in Parma jemand, der allerdings noch nicht auf der Galeere ist, aber todsicher einmal hinkommt. Der wird die Handschrift der Sanseverina ausgezeichnet nachmachen.«

Bei diesen Worten riß Graf Baldi seine schönen Augen gewaltig auf. Jetzt begriff er.

»Wenn du diesen werten Parmaer kennst, auf dessen Beförderung du dich spitzt,« sagte die Marchesa zu Riscara, »dann kennt er dich offenbar auch. Seine Geliebte, sein Beichtvater oder sein Freund könnten von der Sanseverina bestochen sein. Ich will dieses Späßchen lieber ein paar Tage hinausschieben, als mich irgendeinem dummen Zufall aussetzen. In zwei Stunden reist ihr ab wie brave Lämmer! Laßt euch in Genua von keiner Seele sehen und kommt schleunigst wieder!«

Der Cavaliere Riscara machte sich lachend auf und näselte wie Pulcinell, indem er mit tollen Sprüngen davonlief: »Ich muß die Koffer packen!« Er wollte Baldi mit der Marchesa allein lassen.

Fünf Tage später führte er der Marchesa ihren Grafen ganz zerschunden wieder vor. Um sechs Meilen abzuschneiden, hatte er ihn überredet, auf dem Rücken eines Maulesels über das Gebirge zu reiten. Baldi schwur, man werde ihn nicht wieder dazu bringen, eine große Reise zu machen.

Riscara brachte der Marchesa drei Exemplare des Briefes mit, den sie ihm diktiert hatte, sowie fünf bis sechs andere in derselben Handschrift, die er selbst abgefaßt hatte und deren man sich vielleicht später bedienen konnte. Der eine dieser Briefe enthielt sehr nette Scherze über die Angst, die Serenissimus nachts ausstünde, und über die klägliche Magerkeit der Marchesa Balbi, seiner Mätresse. Man sagte von ihr, sie hinterlasse auf dem Polster eines Sessels, auf dem sie einen Augenblick gesessen, Spuren wie von einer Zange. Man hätte schwören mögen, alle diese Briefe seien von der Hand der Duchezza di Sanseverina geschrieben.

»Inzwischen habe ich erfahren,« sagte die Marchesa, »daß ihr Herzensfreund Fabrizzio sich ohne jeden Zweifel in Bologna oder in der Umgegend aufhält.«

»Ich bin gar zu elend«, rief Graf Baldi dazwischen. »Ich bitte, mit dieser zweiten Reise gnädigst verschont zu werden. Zum mindesten möchte ich ein paar Tage Ruhe haben, um meine Gesundheit wieder herzustellen.«

»Ich werde die Sache übernehmen!« erklärte Riscara, stand auf und unterhielt sich leise mit der Marchesa.

»Gut! Ich bin damit einverstanden!« erwiderte sie lächelnd. »Beruhigen Sie sich! Sie brauchen keinesfalls zu reisen«, sagte sie dann ziemlich verächtlich zu Baldi.

»Ich danke!« erwiderte dieser dankbaren Herzens.

In der Tat stieg Riscara allein in die Postkutsche. Er war keine zwei Tage in Bologna, da entdeckte er in einer Kalesche Fabrizzio mit der kleinen Marietta.

›Zum Teufel,‹ sagte er sich, ›unser künftiger Erzbischof scheint sich nicht großen Zwang anzutun! Das muß der Duchezza hinterbracht werden; sie wird erbaut davon sein.‹

Riscara brauchte sich nur die Mühe zu machen, ihm zu folgen, um seine Wohnung zu erfahren. Am anderen Morgen empfing Fabrizzio durch einen Boten das Genueser Machwerk. Er fand die Briefe etwas trocken, schöpfte im übrigen aber keinerlei Verdacht. Der Gedanke, die Duchezza und den Grafen wiederzusehen, machte ihn ganz ausgelassen, und was auch Ludovico einwenden mochte, er nahm ein Postpferd und ritt im Galopp los. Ohne daß er eine Ahnung davon hatte, wurde er in geringem Abstand vom Cavaliere Riscara verfolgt. Als dieser sechs Meilen vor Parma an der Post von Castelnuovo anlangte, sah er mit Vergnügen einen großen Volksauflauf auf dem Platze vor dem Ortsgefängnis. Man hatte soeben unseren Helden dorthin gebracht. Er war in der Post von zwei Schergen des Grafen Zurla erkannt worden, als er sein Pferd wechseln wollte.

Die Äuglein des Cavaliere Riscara strahlten vor Freude. Er erkundigte sich in der Stadt mit beispielloser Geduld nach allen Einzelheiten des Vorfalls und fertigte alsdann einen Boten an die Marchesa Raversi ab. Nachher schlenderte er durch die Straßen und sah sich die sehr merkwürdige Kirche an. Als er schließlich nach einem Bilde des Parmigianino suchte, das es, wie man ihm berichtet hatte, dort geben sollte, traf er mit dem Podesta zusammen, der sich beeilte, dem Staatsrat seine Unterwürfigkeit zu zeigen. Riscara sprach seine Verwunderung darüber aus, daß er den Verschwörer, den er glücklich verhaftet hätte, nicht unverzüglich nach der Zitadelle von Parma befördert habe.

»Es wäre nicht unmöglich,« fügte Riscara kühl hinzu, »daß seine zahlreichen Freunde, die vorgestern seine Reise durch das Gebiet Seiner Hoheit decken wollten, die Gendarmen angriffen. Diese Rebellen waren ihrer zwölf bis fünfzehn zu Pferde.«

»Intelligenti pauca!« meinte der Podesta mit pfiffiger Miene.


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