Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Zwanzigstes Kapitel

Einmal nachts gegen ein Uhr steckte Fabrizzio, der unter dem Fenster schlief, seinen Kopf durch das Guckloch im Fensterschirm und betrachtete die Sterne und den unermeßlichen Horizont. Seine Blicke schweiften über die Ebene nach der Po-Niederung und nach Ferrara hin; da gewahrte er durch Zufall ein äußerst kleines, aber sehr helles Licht, das anscheinend auf der Zinne eines Turmes leuchtete. »Dieses Licht kann man von der Ebene aus nicht wahrnehmen«, dachte Fabrizzio. »Bei der Dicke des Turmes ist das unmöglich. Es muß ein Lichtzeichen nach einem hochgelegenen Punkte sein.«

Mit einem Male sah er, daß dieses Licht in sehr kurzen Unterbrechungen verschwand und wieder aufleuchtete. »Da unterhält sich irgendein junges Mädel mit ihrem Geliebten im benachbarten Städtchen.« Er zählte ein neunmaliges Aufleuchten hintereinander. »Das bedeutet I«, sagte er sich. »Natürlich! I ist der neunte Buchstabe im Alphabet.« Nach einer Pause erfolgte ein dreizehnmaliges Aufleuchten. »Das ist ein N!« Dann nach einer Pause ein einmaliges Erscheinen. »Das ist ein A! Das Wort heißt: INA.«

Wie groß war seine Freude und seine Überraschung, als die einander folgenden und immer durch Pausen getrennten Lichtzeichen die Worte ergaben:

INA PENSA A TE.

»Offenbar heißt das: Gina pensa a te! (Gina denkt an dich)«

Er gab unverzüglich durch Vorhalten und Wegnehmen seiner Lampe vor dem ausgesägten Guckloch zur Antwort:

FABRIZZIO LIEBT DICH.

Diese Verständigung währte, bis es tagte. Es war die einhundertdreiundsiebzigste Nacht von Fabrizzios Gefangenschaft. Er erfuhr, daß man diese Lichtzeichen Nacht für Nacht seit vier Monaten gegeben hatte. Aber jedermann konnte sie sehen und verstehen. Folglich begann man bereits in dieser ersten Nacht Abkürzungen zu vereinbaren. Drei sehr schnell aufeinanderfolgende Lichtzeichen sollten die Duchezza bedeuten, vier Serenissimus, zwei Graf Mosca. Zwei blitzschnell gegebene und hinterher zwei langsame sollten »Flucht« heißen. Man kam überein, fortan das altmodische Alphabet alla Monaca anzuwenden, das, unverständlich für Uneingeweihte, nicht die gewöhnliche Reihenfolge der Buchstaben hat, sondern sie willkürlich ändert. A trägt zum Beispiel die Nummer 10, B die Nummer 3. So bedeutet ein dreimaliges Aufleuchten hintereinander B, ein zehnmaliges A, und so weiter. Ein Augenblick Dunkelheit gibt das Wortende an. Man verabredete sich für den anderen Tag auf ein Uhr nachts.

An diesem Abend kam die Duchezza selbst auf den Turm, der eine Viertelstunde vor der Stadt lag. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie die Zeichen sah, die Fabrizzio gab, der so viele Male Totgewähnte. Sie meldete ihm eigenhändig:

ICH LIEBE DICH. GUTEN MUT, GESUNDHEIT, GLÜCKLICHE HOFFNUNG! ÜBE DEINE KRÄFTE IN DER ZELLE, DU WIRST DIE KRAFT DEINER ARME NÖTIG HABEN.

»Ich habe ihn seit dem Konzert von Fausta nicht gesehen,« sagte sich die Duchezza, »wo er als Jäger verkleidet an der Tür meines Salons erschien. Wer hätte mir damals das Schicksal vorausgesagt, das unser harrte!«

Die Duchezza ließ an Fabrizzio melden, daß er bald befreit werden würde:

DURCH DIE GNADE DES FÜRSTEN.

Diese letzten fünf Wörter sollten von jedem verstanden werden. Dann sagte sie ihm von neuem Zärtlichkeiten. Sie vermochte sich von ihm nicht loszureißen. Nur die Vorstellungen Ludovicos, der, weil er Fabrizzio nützlich gewesen, ihre rechte Hand geworden war, bestimmten sie kurz vor Tagesanbruch endlich zum Einstellen der Lichtzeichen, die einem Übelwollenden hätten auffallen können.

Die mehrfach wiederholte Botschaft von seiner nahen Befreiung versetzte Fabrizzio in tiefe Trauer. Clelia merkte das am Tage darauf und beging die Unbesonnenheit, ihn nach der Ursache zu fragen.

»Ich bin im Begriff, der Duchezza Grund zu großer Unzufriedenheit mit mir zu geben.«

»Was könnte sie von Ihnen verlangen, das Sie ihr verweigern?« entgegnete Clelia, von der regsten Neugier ergriffen.

»Sie will, ich soll von hier fliehen,« gab er ihr zur Antwort, »aber ich bin damit nun und nimmer einverstanden.«

Clelia vermochte nicht zu antworten; sie sah ihn an und brach in Tränen aus. Wenn er unmittelbar mit ihr hätte sprechen können, so hätte er das Geständnis eines Gefühls errungen, dessen Ungewißheit ihn so oft tief entmutigt hatte. Lebhaft verspürte er, daß das Leben ohne Clelias Liebe für ihn nichts wäre als ewiges bitteres Leid oder unerträgliche Langeweile. Es dünkte ihn, daß es sich nicht lohne, zu leben, um nichts als das Glück wiederzufinden, das ihn ehedem gelockt hatte, als er die Liebe noch nicht kannte; und wenn auch der Selbstmord in Italien noch nicht Mode war, so dachte er doch daran wie an eine Zuflucht, sobald ihn das Schicksal von Clelia trennen sollte.

Am nächsten Tag empfing er einen langen Brief von ihr:

»Lieber Freund! Sie müssen die Wahrheit erfahren. Seit Sie hier sind, hat man in Parma schon oft geglaubt, Ihr letztes Stündlein sei gekommen. Allerdings sind Sie nur zu zwölf Jahren Festung verurteilt, aber unglücklicherweise besteht kein Zweifel, daß der Haß eines Allmächtigen Ihnen unaufhörlich nachstellt. Zwanzigmal habe ich gezittert, Gift könne Ihrem Dasein ein Ende setzen. Ergreifen Sie also jede Möglichkeit, von hier zu fliehen. Sie sehen, daß ich Ihretwegen gegen die heiligsten Pflichten verstoße. Ermessen Sie die Größe der Gefahr an dem, was ich mir zu sagen erdreiste und was Sie aus meinem Munde nicht vernehmen dürften. Wenn es unbedingt sein muß, wenn es kein anderes Mittel zur Rettung gibt, so fliehen Sie! Jeder Augenblick, den Sie hier in der Zitadelle verbringen, kann Ihr Leben aufs höchste gefährden. Bedenken Sie, daß es am Hofe eine Partei gibt, die vor keinem Verbrechen zurückschreckt, um ihre Pläne durchzusetzen. Und wissen Sie nicht, daß alle Pläne dieser Partei nur immer durch die überlegene Geschicklichkeit des Grafen Mosca vereitelt worden sind? Nun hat man ein unfehlbares Mittel gefunden, ihn aus Parma zu vertreiben. Das ist die Verzweiflung der Duchezza. Und kann man diese Verzweiflung sicherer herbeiführen als durch den Tod eines gewissen jungen Gefangenen? Allein dieses Wort, auf das es keinen Einwand gibt, muß Ihnen Ihre Lage klar machen. Sie sagen, Sie fühlten Freundschaft zu mir. Bedenken Sie zunächst, daß unüberwindliche Hindernisse dem entgegenstehen, daß dieses Gefühl zwischen uns je feste Formen annehmen könnte. Wir sind uns in unserer Jugend begegnet, wir haben uns in Unglückszeiten die helfende Hand geboten. Die Schikkung hat mich an diesen Ort des Grauens gestellt, um Ihr Leid zu mildern; aber ich müßte mir ewige Vorwürfe machen, wenn Trugschlüsse, die durch nichts gerechtfertigt sind und niemals gerechtfertigt werden, Sie dazu verleiten sollten, nicht jede mögliche Gelegenheit zu erfassen, um Ihr Leben einer so schrecklichen Gefahr zu entreißen. Ich habe den Frieden meiner Seele durch die grausame Unbesonnenheit verloren, daß ich mit Ihnen ein paar Freundschaftszeichen gewechselt habe. Wenn unser kindliches Spiel mit den Buchstaben Sie zu Illusionen verführt hat, die so wenig berechtigt sind und Ihnen verhängnisvoll werden können, so würde mich selbst die Berufung auf Barbones Mordversuch nicht freisprechen. Ich hätte Sie nur in eine viel gräßlichere und gewissere Gefahr gestürzt, während ich glaubte, Sie aus einer augenblicklichen Gefahr zu retten, und meine Torheiten wären ewig unverzeihlich, wenn sie Gefühle erweckt hätten, die Sie verführen könnten, sich den Ratschlägen der Duchezza zu widersetzen. Sehen Sie ein, was Ihnen zu wiederholen Sie mich zwingen! Retten Sie sich! Ich befehle es Ihnen...«

Der Brief war noch viel länger. Gewisse Stellen wie die: »Ich befehle es Ihnen«, gewährten Fabrizzios Liebe Blitze köstlicher Hoffnung. Es kam ihm vor, als sei ihre Anteilnahme im Kern Zärtlichkeit, wenn sie sich auch merklich vorsichtig ausgedrückt hatte. Daneben büßte er wiederum für seine Unwissenheit in dieser Art Kriegskunst; er sah in Clelias Brief nichts als bloße Freundschaft, ja ganz gewöhnliche Nächstenliebe.

Im übrigen vermochte ihn keine ihrer Mitteilungen einen Augenblick von seinem Vorsatz abzubringen. Selbst wenn die Gefahren, die sie ihm schilderte, wirklich bestanden, war denn das Glück, sie alle Tage zu sehen, durch augenblickliche Gefahren zu teuer erkauft? Was für ein Leben harrte seiner, wenn er wiederum nach Bologna oder Florenz floh? Denn wenn er der Zitadelle entrann, konnte er kaum auf die Erlaubnis hoffen, in Parma leben zu dürfen. Und auch wenn sich Serenissimus dazu entschließen sollte, ihm die Freiheit zu lassen (was wenig wahrscheinlich war, seitdem eine mächtige Partei in ihm ihr Mittel sah, den Grafen Mosca zu stürzen), was für ein Leben sollte er in Parma führen, geschieden von Clelia durch all den Haß, der die Parteien trennte? Ein- oder zweimal im Monat würden sie vielleicht durch Zufall in irgendeinem Salon zusammentreffen. Aber wie sollten sie dann miteinander sprechen? Wie konnte die völlige Vertrautheit wiederkehren, die er jetzt täglich stundenlang genoß? Ließ sich eine Salonplauderei mit der vergleichen, die sie sich mit den Buchstaben verschafften? ›Und wenn ich dieses köstliche Dasein und diese einzigartige Aussicht auf Glück mit etlichen kleinen Gefahren erkaufe, wo ist das Übel? Und ist das nicht auch Glück, daß ich damit eine schwache Gelegenheit finde, ihr einen Beweis meiner Liebe zu geben?‹

Fabrizzio sah in Clelias Brief nichts als einen Anlaß, sie um eine Zusammenkunft zu bitten; das war das einzige, fortwährende Ziel seiner Wünsche. Er hatte erst einmal mit ihr gesprochen, noch dazu nur einen Augenblick lang, bei seiner Einkerkerung, und das war vor mehr als zweihundert Tagen gewesen.

Ein bequemes Mittel bot sich, mit Clelia zusammenzukommen. Der ehrwürdige Abbate Don Cesare hatte Fabrizzio einen halbstündigen Spaziergang auf der Terrasse der Torre Farnese zugestanden, und zwar donnerstags bei Tage; an den anderen Tagen fand dieser Ausgang, der von allen Bewohnern der Stadt Parma und ihrer Umgegend beobachtet werden und somit den Kommandanten leicht verdächtigen konnte, erst bei Anbruch der Nacht statt. Um zur Terrasse der Torre Farnese zu gelangen, gab es keine andere Treppe als die zum kleinen Glockenturm der so trübselig in schwarzem und weißem Marmor ausgeschmückten Kapelle, deren sich der Leser vielleicht entsinnt. Grillo führte Fabrizzio zu dieser Kapelle und öffnete ihm das Treppchen zum Glockenturm. Es wäre seine Pflicht gewesen, ihn dahin zu begleiten, aber da die Abende anfingen, frisch zu werden, ließ ihn der Aufseher allein hinaufsteigen, schloß den Glockenturm, der mit der Terrasse in Verbindung stand, ab und kehrte in seine warme Stube zurück. Konnte sich da Clelia in Begleitung ihrer Kammerzofe nicht eines Abends in der schwarzen Marmorkapelle einstellen?

Der ganze lange Brief, mit dem Fabrizzio auf den Clelias antwortete, war darauf berechnet, eine solche Zusammenkunft zu erreichen. Dabei gestand er mit vollendeter Aufrichtigkeit und als ob es sich um eine fremde Person handle, alle Gründe, die ihn dazu bestimmten, die Zitadelle nicht zu verlassen.

›Ich würde mich Tag für Tag tausendfältigem Tod aussetzen, um das Glück zu haben, mit Ihnen durch unsere Buchstaben zu plaudern, die uns jetzt keinen Augenblick trennen. Und Sie wollen, ich solle die Narrheit begehen, mich nach Parma zu verbannen oder vielleicht nach Bologna oder gar nach Florenz! Sie wollen, ich solle fliehen, um mich von Ihnen zu entfernen! Wissen Sie, daß ich unmöglich die Kraft dazu habe? Ich würde Ihnen umsonst mein Wort geben, ich könnte es nicht halten.‹

Das Ergebnis dieser Bitte um ein Stelldichein war Clelias Ausbleiben, das nicht weniger als fünf Tage dauerte. Fünf Tage lang kam sie in die Vogelstube nur in solchen Augenblicken, da sie wußte, daß Fabrizzio von dem kleinen Guckloch im Fensterschirm keinen Gebrauch machen konnte. Fabrizzio war in Verzweiflung; er schloß aus ihrem Fernbleiben, daß er trotz gewissen Blicken, durch die er zu den törichtsten Hoffnungen verleitet worden war, in Clelia niemals andere Gefühle erweckt hatte als bloße Freundschaft. ›Wenn dem so ist,‹ sagte sich Fabrizzio, ›was liegt mir dann am Leben? Mag Serenissimus es mir nehmen, mir soll es recht sein. Ein Grund mehr, die Zitadelle nicht zu verlassen!‹

So antwortete er alle Nächte mit tiefem Widerwillen auf die Lichtzeichen. Die Duchezza hielt ihn für völlig verrückt, wenn sie in den Berichten, die ihr Ludovico jeden Morgen brachte, die befremdenden Worte las: ›Ich will mich nicht retten; ich will hier sterben!‹

Während dieser für Fabrizzio so bitteren fünf Tage war Clelia unglücklicher als er. Ein für ihre hochgemute Seele schrecklicher Gedanke kam ihr: ›Es ist meine Pflicht, in ein Kloster zu fliehen, weit weg von der Zitadelle. Wenn Fabrizzio erfahren wird, daß ich nicht mehr hier bin, und ich es ihm durch Grillo und alle Aufseher sagen lasse, dann wird er sich zu einem Fluchtversuch entschließen.‹ Aber ins Kloster gehen, das hieße ja darauf verzichten, Fabrizzio jemals wiederzusehen, und zwar verzichten, nachdem er deutlich den Beweis gegeben, daß die Gefühle, die ihn wohl ehedem an die Duchezza gefesselt hatten, jetzt nicht mehr die seinen waren! Konnte ein junger Mann seine Liebe rührender bekräftigen? Nach einer Haft von sieben Monaten, die seine Gesundheit zerrüttet hatte, schlug er die Wiedererlangung der Freiheit aus. Ein Mensch, der so leichtsinnig war, wie der Hofklatsch ihn Clelia schilderte, hätte zwanzig Geliebte geopfert, um nur einen Tag früher aus der Zitadelle zu entkommen, selbst wenn es sich nicht um ein Gefängnis gehandelt hätte, wo seinem Leben tagtäglich durch Gift ein Ende gesetzt werden konnte!

Clelia gebrach es an Mut; sie beging den außerordentlichen Fehler, ihre Zuflucht nicht in einem Kloster zu suchen, was doch gleichzeitig den Bruch mit dem Marchese auf ganz natürliche Weise herbeigeführt hätte. Nachdem dieser Fehler einmal begangen war, wie konnte sie da dem so liebenswürdigen, so natürlichen, so zärtlichen jungen Manne widerstehen, der sein Leben gräßlichen Gefahren aussetzte, nur um das schlichte Glück zu haben, sie von Fenster zu Fenster zu sehen?

Nach fünf Tagen schrecklicher Kämpfe, die von Augenblicken der Selbstverachtung durchsetzt waren, entschloß sich Clelia, auf den Brief zu antworten, in dem Fabrizzio um das Glück gebeten hatte, mit ihr in der schwarzen Marmorkapelle zu sprechen. Zwar schlug sie ihm diese Bitte mit recht harten Worten ab, aber von Stund an war all ihr Frieden dahin; alle Augenblicke führte ihr die Phantasie Fabrizzios Vergiftung vor Augen. Sieben- bis achtmal am Tage kam sie in die Vogelstube, vom leidenschaftlichen Bedürfnis getrieben, sich mit eigenen Augen zu überzeugen, daß Fabrizzio am Leben sei.

›Wenn er noch in der Zitadelle ist,‹ sagte sie sich, ›wenn er sich all den Scheußlichkeiten preisgibt, die die Partei der Raversi gewiß gegen ihn anstiftet, um den Grafen Mosca zu stürzen, so geschieht das einzig und allein, weil ich zu feige war, in ein Kloster zu fliehen! Er hätte keinen Vorwand, hier zu bleiben, wenn er bestimmt wüßte, daß ich für immer fortgegangen bin.‹

Das so furchtsame und zugleich so hochmütige Mädchen setzte sich der Schande aus, von dem Gefängnisaufseher Grillo eine Weigerung zu erhalten; mehr noch, sie setzte sich all den Glossen aus, die sich dieser Mensch bei der Absonderlichkeit ihres Betragens erlauben konnte. Sie erniedrigte sich so tief, daß sie ihn zu sich kommen ließ und mit zitternder Stimme, die ihr ganzes Geheimnis verriet, zu ihm sagte, Fabrizzio werde binnen kurzem wieder freigelassen; die Duchezza di Sanseverina wende in der Hoffnung darauf alle Mittel an, und es sei nötig, die Antwort des Gefangenen auf gewisse Vorschläge, die man gemacht, bald zu haben. Sie ersuchte Grillo, Fabrizzio zu gestatten, in dem Schirm, der seine Fenster verbaue, eine Öffnung herzustellen, damit sie ihm durch Zeichen die Pläne mitteilen könne, die sie täglich mehrere Male von der Duchezza di Sanseverina empfange.

Grillo lächelte und versicherte ihr seine Ehrfurcht und Ergebenheit. Clelia war ihm sehr dankbar, daß er nichts weiter dazu sagte. Offenbar wußte er recht gut alles, was sich seit mehreren Monaten zugetragen hatte.

Kaum war Grillo aus dem Zimmer, als sie das Zeichen gab, das sie mit Fabrizzio vereinbart hatte, um wichtige Dinge anzukündigen. Sie gestand ihm alles, was sie soeben getan hatte. »Sie wollen durch Gift zugrunde gehen«, fügte sie hinzu. »Hoffentlich habe ich den Mut, dieser Tage meinen Vater zu verlassen und in irgendein fernes Kloster zu fliehen. Das bin ich Ihnen schuldig. Dann widerstreben Sie hoffentlich nicht mehr den Plänen, die Ihnen vielleicht vorgeschlagen werden, um Sie zu befreien. Solange Sie hier sind, habe ich schreckliche, unvernünftige Augenblicke. Nie in meinem Leben habe ich zum Unglück irgendeines Menschen beigetragen, aber es scheint mir, als ob ich schuld daran wäre, wenn Sie stürben. Dieser Gedanke würde mich schon eines mir gänzlich Fremden wegen in Verzweiflung stürzen; stellen Sie sich vor, was ich leiden müßte, wenn ein Freund, dessen Unvernunft mir viel Anlaß zu Klagen gibt, den ich aber seit so langer Zeit tagtäglich sehe, eine Beute des Todes würde. Zuweilen fühle ich das Bedürfnis, von Ihnen persönlich zu erfahren, daß Sie am Leben sind. Um diesen gräßlichen Schmerz von mir zu nehmen, habe ich mich so weit erniedrigt, die Gnade eines Unterbeamten anzuflehen, der mich hätte abweisen können und der mich möglicherweise noch verraten wird. Übrigens wäre ich vielleicht glücklich, wenn er meinem Vater alles hinterbrächte; Ich würde auf der Stelle in ein Kloster gehen, ich wäre nicht mehr der recht unfreiwillige Mitschuldige Ihrer peinigenden Torheit. Aber, glauben Sie mir, so kann es nicht mehr lange weitergehen. Sie werden den Befehlen der Duchezza gehorchen! – Sind Sie nun zufriedengestellt, grausamer Freund? Ich selbst reize Sie auf, meinen Vater zu hintergehen! Rufen Sie Grillo und geben Sie ihm eine Belohnung!«

Fabrizzio war dermaßen verliebt, die einfachste Willensäußerung Clelias brachte ihn so in Angst, daß ihm selbst diese sonderbare Mitteilung nicht die Gewähr ihrer Liebe gab. Er rief Grillo, belohnte ihn für die früheren wie künftigen Gefälligkeiten und versprach ihm eine Zechine für jeden Tag, an dem er ihm erlaube, von dem im Fensterschirm eingesägten Guckloch Gebrauch zu machen. Grillo war über diese Vereinbarung entzückt.

»Wenn ich offen reden darf, Monsignore, so wollen Sie gütigst nur immer kalt speisen. Das ist das allereinfachste Mittel, dem Gift aus dem Wege zu gehen. Nur bitte ich um strengstes Stillschweigen. Ein Gefängnisaufseher muß alles sehen, aber nichts merken. Wenn der Hund verreckt, gibts andere. Lassen Sie ihn von allen Schüsseln vorher kosten, von denen Sie essen wollen. Was den Wein anlangt, so will ich Ihnen von meinem geben; rühren Sie keinen an außer von den Flaschen, aus denen ich getrunken habe. Wenn mich Eccellenza auf ewig ins Unglück stürzen wollen, so genügt es schon, diese Einzelheiten Signorina Clelia mitzuteilen. Frauen bleiben Frauen. Wenn Sie sich morgen mit ihr entzweien, trägt sie übermorgen aus Rache die ganze Geschichte ihrem Vater zu, dem es einen Hauptspaß machen würde, mal einen Aufseher am Kragen zu kriegen. Abgesehen von Barbone ist er vielleicht der bösartigste Mensch in der ganzen Zitadelle. Von dem droht Ihnen die größte Gefahr. Er ist ein Meister im Giftmischen; davon können Sie überzeugt sein, und er würde mir den Einfall, drei oder vier kleine Hunde zu opfern, niemals verzeihen.«

Abermals fand eine Serenade statt. Jetzt antwortete Grillo auf alle Fragen Fabrizzios. Allerdings hatte er sich gelobt, vorsichtig zu sein und Clelia keineswegs zu verraten, die, obwohl sie seiner Meinung nach demnächst den Marchese Crescenzi, den reichsten Mann im Lande Parma, heiratete, nichtsdestoweniger, soweit es die Kerkermauern gestatteten, eine Liebelei mit dem liebenswürdigen Monsignore del Dongo hatte. Er gab auf dessen letzte Frage wegen der Serenade nun Bescheid und beging die Dummheit, hinzuzufügen: »Es heißt, er wird sie bald heiraten.«

Man kann sich die Wirkung dieser harmlosen Worte auf Fabrizzio vorstellen. Nachts antwortete er auf die Lichtzeichen nur mit der Meldung, er sei krank. Am anderen Morgen, als Clelia gegen zehn Uhr in der Vogelstube erschien, fragte er sie im Ton feierlicher Höflichkeit, der zwischen ihnen ganz ungewöhnlich war, warum sie ihm nicht einfach gesagt habe, daß sie den Marchese Crescenzi liebe und ihn demnächst heiraten werde.

»Nichts von alledem ist wahr!« entgegnete Clelia verwirrt. Der Rest ihrer Antwort war freilich weniger klar. Fabrizzio machte sie darauf aufmerksam und benutzte die Gelegenheit, seine Bitte um ein Stelldichein zu erneuern. Clelia erkannte, daß ihre Ehrlichkeit bezweifelt wurde, und bewilligte es ihm fast sofort, nicht ohne ihn darauf hinzuweisen, daß sie sich damit in Grillos Augen auf ewige Zeiten entwürdige.

Abends, als es völlig dunkel war, kam Clelia in Begleitung ihrer Kammerzofe in die Kapelle aus schwarzem Marmor. In der Mitte bei der Ewigen Lampe blieb sie stehen. Die Zofe und Grillo verharrten dreißig Schritt abseits, am Eingang. Clelia, die am ganzen Leibe bebte, hatte sich eine schöne Rede zurechtgelegt, in der Absicht, nichts einzugestehen, was sie bloßstellen könne. Aber die Logik der Leidenschaft ist unbesonnen; ihr heftiges Verlangen, die Wahrheit zu erfahren, läßt sie um so weniger die nötigen Rücksichten beachten, als gleichzeitig ihre innige Ergebenheit sie der Furcht überhebt, jene Rücksichten zu wenig zu wahren. Fabrizzio war zunächst von Clelias Schönheit geblendet; seit acht Monaten hatte er niemanden in der Nähe gesehen als die Aufseher. Aber die Erwähnung des Marchese Crescenzi entfachte seinen Zorn von neuem; dieser steigerte sich, als er gewahr wurde, daß Clelia nur mit Bedacht antwortete. Sie fühlte selbst, daß sie seine Eifersucht eher vermehrte als verscheuchte. Diese Erkenntnis war für sie äußerst schmerzlich.

»Können Sie wohl glücklich darüber sein,« sagte sie zu ihm in einer Zorneswallung und mit Tränen in den Augen, »daß Sie mich dazu gebracht haben, alles zu vergessen, was ich mir selbst schuldig bin? Bis zum 3. August vergangenen Jahres habe ich gegen die Männer, die mir zu gefallen trachteten, nur Abneigung empfunden. Ich hatte eine maßlose und wahrscheinlich übertriebene Verachtung für Höflingsnaturen. Alles, was an unserem Hofe glänzte, mißfiel mir. Im Gegensatz dazu fand ich einzigartige Eigenschaften an einem Gefangenen, der am 3. August hier in der Zitadelle eingeliefert wurde. Zuerst erlitt ich, ohne es mir einzugestehen, alle Qualen der Eifersucht. Die Reize einer entzückenden Frau, die mir wohlbekannt ist, wirkten auf mein Herz wie Dolchstiche, weil ich glaubte, und ich glaube es immer noch ein wenig, daß ein gewisser Gefangener an ihr hängt. Bald verdoppelten sich die Zudringlichkeiten des Marchese Crescenzi, der um meine Hand angehalten hatte; er ist steinreich, und wir besitzen kein Vermögen. Ich wies ihn mit viel Freimut ab. Da sprach mein Vater das verhängnisvolle Wort ›Kloster‹. Ich war mir klar, daß ich mit dem Verlassen der Zitadelle nicht mehr über das Leben des Gefangenen wachen könnte, dessen Schicksal mir am Herzen lag. Das Meisterstück meiner Vorsichtsmaßregeln war, daß er bis dahin gar nicht ahnte, welche gräßlichen Gefahren sein Leben bedrohten. Ich hatte mir gelobt, weder meinen Vater noch mein Geheimnis zu verraten. Aber jene andere, die mit ihrer bewundernswerten Tatkraft, ihrem überlegenen Verstand, ihrem furchtbaren Willen den Gefangenen beschirmt, bot ihm vermutlich Mittel zur Flucht an. Er schlug sie aus und wollte mich überzeugen, daß er sie abweise, um sich nicht von mir zu trennen. Da beging ich einen großen Fehler; fünf Tage lang kämpfte ich mit mir. Ich hätte unverzüglich in ein Kloster fliehen und der Zitadelle den Rücken kehren müssen. Dieser Schritt wäre zugleich ein recht einfaches Mittel gewesen, mit dem Marchese Crescenzi zu brechen. Ich habe nicht das Herz gehabt, die Zitadelle zu verlassen. Ich bin ein unglückliches Geschöpf. Ich habe mich an einen leichtherzigen Menschen gekettet. Ach, ich weiß ja, wie er sich in Neapel aufgeführt hat! Welche Berechtigung hätte ich, zu glauben, daß sich sein Charakter gewandelt habe? Eingesperrt, in strengem Gewahrsam, hat er dem einzigen weiblichen Wesen, das er zu sehen bekam, den Hof gemacht. Das war ihm eine Zerstreuung in seiner Langenweile. Da er mit ihr nur unter gewissen Schwierigkeiten sprechen konnte, hat dieser Zeitvertreib den falschen Anschein einer Leidenschaft angenommen. Der Gefangene, der sich durch seinen Mut in der Welt einen Namen gemacht hat, wähnt den Beweis zu geben, seine Liebe sei mehr als eine flüchtige Alltagsneigung, indem er sich recht großen Gefahren aussetzt, um das angeblich geliebte Wesen weiterhin sehen zu können. Aber sobald er in einer Großstadt sein wird, inmitten neuer gesellschaftlicher Vergnügungen, wird er von neuem das sein, was er gewesen ist, ein Weltmann, der Zerstreuungen und Liebesabenteuern nachjagt, und seine arme Kerkergenossin wird ihre Tage in einem Kloster beschließen, vergessen von einem leichtsinnigen Mann und voll tödlicher Reue, ihm ein Geständnis gemacht zu haben.«

Diese lange Rede, von der wir nur die Hauptpunkte wiedergeben, ward, wie man sich wohl denken kann, von Fabrizzio zwanzigmal unterbrochen. Er war bis über die Ohren verliebt und dazu durch und durch überzeugt, daß er nie geliebt hatte, bevor er Clelia gesehen, und daß es der Sinn seines Daseins sei, fortan nur für sie zu leben.

Der Leser kann sich ohne Zweifel all die schönen Dinge vorstellen, die er sagte, bis die Kammerzofe ihre Herrin darauf aufmerksam machte, daß es soeben halb zwölf geschlagen habe und daß der General jeden Augenblick heimkehren könne. Die Trennung war bitter.

»Ich sehe Sie vielleicht zum letzten Male«, sagte Clelia zu dem Gefangenen. »Eine Maßregel, die offenbar im Sinne der Ränke der Raversi liegt, kann Sie unerbittlich zu dem Beweis zwingen, daß Sie nicht wankelmütig sind.«

Clelia verließ Fabrizzio, unter Schluchzen schier erstickend und halbtot vor Scham, daß sie ihren Zustand weder vor ihrer Kammerzofe noch vor dem Gefängnisaufseher Grillo ganz verbergen konnte. Eine zweite Zusammenkunft war nur möglich, falls der General wieder einmal vorher sagte, daß er abends gesellschaftliche Pflichten habe. Seit Fabrizzios Einlieferung und bei dem Anteil, den die höfische Neugier an ihm nahm, schützte er schlauerweise chronische Gicht vor, und wenn ihn die diplomatische Klugheit zum Ausgehen in der Stadt zwang, so entschied er sich oft erst im Augenblick, da er den Wagen bestieg.

Seit dem Abend in der schwarzen Marmorkapelle war Fabrizzios Leben eine Kette von Wonnen. Allerdings standen seinem Glück sichtlich noch große Hindernisse im Wege, aber schließlich erfüllte die höchste und kaum erhoffte Freude darüber, daß er von einem himmlischen Wesen geliebt wurde, all seine Gedanken.

Am dritten Tage nach dem Stelldichein hörten die Lichtzeichen zeitig auf, etwa gegen Mitternacht. Im Augenblick, als sie zu Ende waren, wäre Fabrizzio beinahe der Schädel zertrümmert worden; eine große Bleikugel, die in den Trichter des Fensterschirmes geworfen wurde, flog durch die Papierscheiben in seine Zelle. Diese große Kugel war aber nicht so schwer, wie sie ihrem Umfang nach sein mußte. Ohne Mühe gelang es Fabrizzio, sie zu öffnen. Er fand einen Brief der Duchezza. Durch Vermittlung des Erzbischofs, den sie geflissentlich umschmeichelt hatte, war ein in die Zitadelle befohlener Soldat bestochen worden. Dieser Mann, ein geschickter Ballspieler, täuschte die Posten an den Ecken und am Tor der Kommandantur oder setzte sich mit ihnen ins Einvernehmen.

Der Brief lautete:

›Du mußt Dich mit Seilen retten. Ich zittre, indem ich Dir diese sonderbare Anweisung gebe. Seit mehr als zwei vollen Monaten zögere ich, Dir das zu sagen, aber die Aussichten für Dich werden von Tag zu Tag trüber. Man muß auf das Schlimmste gefaßt sein. Beginne übrigens Deine Lampenzeichen sofort wieder, um uns den Empfang dieses gefährlichen Briefes zu bestätigen. Gib die Zeichen P, B und G alla Monaca, also 4, 12 und 2! Ich werde nicht eher aufatmen, als bis ich diese Zeichen erblicke. Ich befinde mich auf dem Turm. Man wird Dir mit N und O, also mit 7 und 5, antworten. Nach Empfang dieser Antwort gib kein weiteres Zeichen. Beschäftige Dich nur damit, meinen Brief zu studieren!‹

Fabrizzio gehorchte schleunigst und gab das geforderte Zeichen. Es wurde durch die angekündigten Buchstaben beantwortet. Dann fuhr er fort, den Brief zu lesen.

›Es ist wohl klar, was unter dem Schlimmsten zu verstehen ist; das haben mir die drei Menschen erklärt, in die ich das größte Vertrauen setze, nachdem ich sie habe auf das Evangelium schwören lassen, mir die volle Wahrheit zu sagen. Der erste von den dreien hat dem verräterischen Arzt von Ferrara gedroht, er wolle mit dem Messer in der Hand auf ihn fallen; der zweite war der, der Dir nach Deiner Rückkehr von Belgirate gesagt hat, es wäre weit klüger gewesen, den Reitknecht niederzuknallen, der singend durch die Wälder ritt und ein schönes, etwas mageres Handpferd führte. Den dritten kennst Du nicht; es ist ein Straßenräuber, einer meiner Freunde, ein Mann der Tat wie kein zweiter und so mutig wie Du. Gerade darum habe ich ihn gefragt, was Du tun müßtest. Alle drei haben mir gesagt, ohne daß sie sich untereinander beraten konnten, es sei besser, Du setztest Dich der Gefahr aus, das Genick zu brechen, als noch elf Jahre und vier Monate ununterbrochen auszuharren, immer in der Furcht vor einem höchstwahrscheinlichen Vergiftungsversuch.

Du mußt Dich einen Monat lang im Seilklettern üben. Dann sollst Du an einem Tag, an dem die Besatzung der Zitadelle ein Weingelage feiert, das große Unternehmen wagen. Du wirst drei Seile aus Seide und Hanf zugestellt bekommen, dünn wie eine Schwanenfeder: eines, vierundachtzig Fuß lang, um die fünfunddreißig Fuß vom Fenster bis zu den Orangenbäumen hinabzugelangen, ein zweites, dreihundert Fuß lang, um die hundertundachtzig Fuß hohe Mauer des dicken Turmes hinunterzuklettern (dabei hat es mit dem Gewicht seine Schwierigkeit), und ein drittes, dreißig Fuß lang, um den Wall hinunterzukommen. Ich verbringe meine Zeit damit, die hohe Mauer im Osten, also in der Richtung nach Ferrara, zu studieren. Ein Riß von einem Erdbeben ist durch einen Strebepfeiler ausgebessert worden, der eine schiefe Ebene bildet. Mein Straßenräuber versichert mir, an dieser Stelle könne man ohne allzu große Schwierigkeit hinabklettern; man werde sich höchstens die Haut etwas abschürfen, wenn man auf der durch den Strebepfeiler gebildeten schiefen Ebene hinunterrutscht. Die senkrechte Entfernung beträgt bis ganz hinunter nur achtundzwanzig Fuß. Diese Seite ist am wenigsten bewacht.

Mein Straßenräuber, der dreimal aus dem Gefängnis ausgebrochen ist und den Du gern haben wirst, wenn Du ihn kennen lernst, obgleich er Leute Deines Standes verabscheut, – also mein Straßenräuber, gewandt und behend wie Du, meint, er würde am liebsten an der Westseite hinabklettern, genau gegenüber von dem kleinen, Dir wohlbekannten Palazzo, den ehedem Fausta bewohnt hat. Für diese Seite bestimmt ihn besonders der Umstand, daß die Mauer, obwohl nahezu senkrecht, doch fast allenthalben von Gestrüpp bewachsen ist. Es gibt da Strauchwerk, kaum höher als der kleine Finger, an dem man sich tüchtig aufschürfen kann, wenn man nicht aufpaßt, das einem aber auch einen vorzüglichen Halt gewährt. Noch heute morgen habe ich mir diese westliche Seite mit einem ausgezeichneten Fernglase betrachtet. Die Stelle, wo man hinab muß, ist durch einen neuen Stein kenntlich, den man vor zwei, drei Jahren oben in die Brustwehr eingefügt hat. Senkrecht unter diesem hellen Stein kommt zunächst ein unbewachsenes Stück von etwa zwanzig Fuß; dort muß man sich sehr langsam hinunterlassen. (Du wirst fühlen, wie mein Herz pocht, während ich Dir diese schreckliche Unterweisung gebe; aber der Mut sagt mir immer wieder, man müsse das kleinere Übel wählen, so fürchterlich es immerhin ist.) Nach diesem unbewachsenen Stück wirst Du achtzig bis neunzig Fuß lang mächtiges Gestrüpp vorfinden. Man sieht dort Vögel fliegen. Dann kommt ein dreißig Fuß hohes Stück, das kein Strauchwerk hat, aber Mauerblumen und Mauerkräuter. Dann gibt es, dem Boden näher, wieder zwanzig Fuß lang Gestrüpp und schließlich fünfundzwanzig bis dreißig Fuß lang eine neu mit Putz beworfene Fläche.

Für diese Seite spricht, daß senkrecht unter dem hellen Stein oben in der Brüstung eine Holzhütte steht, die ein Soldat in seinem Gärtchen erbaut hat. Der Pionierhauptmann, der der Zitadelle zugeteilt ist, will den Mann zwingen, sie wegzureißen; sie ist siebzehn Fuß hoch; ihr Strohdach stößt an die große Mauer der Zitadelle. Gerade dieses Dach lockt mich. Im gräßlichen Falle eines Unglücks mildert es den Sturz. Erst einmal so weit, bist Du im Wallgraben, der nicht besonders bewacht wird. Wenn man Dich dort angreifen sollte, schießt Du mit Deiner Pistole und verteidigst Dich eine Weile. Dein Freund aus Ferrara und ein anderer beherzter Mann, eben der, den ich den Straßenräuber nenne, werden mit Leitern unverzüglich den ziemlich niedrigen Wall erklettern und Dir zu Hilfe eilen.

Der Wall ist nur dreiundzwanzig Fuß hoch und hat eine sehr starke Böschung. Ich werde am Fuße dieses letzten Hindernisses mit einer guten Zahl Bewaffneter warten.

Ich hoffe, daß ich Dir auf gleichem Wege fünf bis sechs weitere Briefe schicken kann. Ich werde Dir immer wieder dasselbe in anderen Worten wiederholen, damit wir uns nicht mißverstehen. Du ahnst, wie es mir ums Herz ist, wenn ich Dir sage, daß der Mann, der den Reitknecht niedergeknallt haben wollte und der doch trotz allem der beste Mensch ist und vor Reue stirbt, meint, daß Du mit einem gebrochenen Arm davonkommen wirst. Der Straßenräuber, der in solchen Unternehmungen mehr Erfahrung hat, meint, wenn Du ganz behutsam hinabkletterst, und vor allem, ohne zu hasten, koste Dich Deine Freiheit nur ein paar Hautabschürfungen. Die Hauptschwierigkeit ist die, daß Du die Seile bekommst. Darüber allein grüble ich seit vierzehn Tagen nach; diese Hauptsache beschäftigt alle meine Gedanken.

Auf jene Torheit, das einzige Sinnlose, das Du in Deinem Leben gesagt hast: ›Ich will mich nicht retten!‹ habe ich keine Antwort. Der Mann, der den Reitknecht niedergeknallt haben wollte, meint, die Langeweile habe Dich verrückt gemacht. Ich verhehle Dir keineswegs, daß wir eine sehr bedrohliche Gefahr befürchten, die vielleicht Deine Flucht beschleunigen wird. Um Dir diese Gefahr mitzuteilen, werden Dir die Lichtzeichen mehrmals hintereinander verkünden:

Es brennt im Schloß!

Du gibst zur Antwort:

Sind meine Bücher verbrannt?

Der Brief enthielt noch fünf oder sechs Seiten voller Einzelheiten; er war auf ganz dünnes Papier in der winzigsten Schrift geschrieben.

›Alles das ist sehr schön und vortrefflich ausgedacht‹, sagte sich Fabrizzio. ›Ich bin dem Grafen und der Duchezza ewige Dankbarkeit schuldig. Vielleicht werden sie glauben, ich hätte Angst, aber ich werde auf keinen Fall fliehen. Ist schon einmal jemand von dem Ort geflohen, wo er sein höchstes Glück gefunden hat, um sich in eine widerwärtige Verbannung zu stürzen, wo er nichts hat, außer daß er atmet? Was täte ich, wenn ich vier Wochen in Florenz bin? Ich würde verkleidet um das Tor dieser Zitadelle schleichen und versuchen, einen Blick zu erhaschen.‹

Anderntags erlebte Fabrizzio einen Schrecken. Gegen elf Uhr stand er am Fenster und schaute nach der herrlichen Landschaft in Erwartung des glücklichen Augenblickes, da er Clelia sehen würde; da trat Grillo atemlos in seine Zelle: »Rasch, rasch, Monsignore! Legen Sie sich in Ihr Bett und stellen Sie sich krank! Da kommen drei Richter die Treppe herauf! Sie wollen Sie verhören! Überlegen Sie recht, ehe Sie antworten! Man wird Sie in ein Kreuzverhör nehmen!«

Indem Grillo diese Worte sagte, setzte er schleunigst den Deckel auf das Guckloch im Fensterschirm, stieß Fabrizzio auf sein Bett und deckte ihn mit zwei oder drei Mänteln zu.

»Sagen Sie, Sie hätten große Schmerzen, und reden Sie wenig! Lassen Sie sich vor allem alle Fragen wiederholen, um überlegen zu können.«

Die drei Richter traten ein. ›Drei entsprungene Zuchthäusler,‹ meinte Fabrizzio bei sich, als er ihre gemeinen Physiognomieen erblickte, ›aber keine drei Richter!‹ Sie trugen lange, schwarze Talare, grüßten feierlich und ließen sich, ohne ein Wort zu sagen, auf den drei Stühlen nieder, die in der Zelle standen.

»Monsignore Fabrizzio del Dongo,« begann der älteste, »uns führt ein trauriger Auftrag zu Ihnen. Wir sind gekommen, Ihnen das Ableben Seiner Exzellenz des Herrn Marchese del Dongo zu melden, Ihres Herrn Vaters, Vize-Oberhofmarschalls des lombardo-venezianischen Königreichs, Ritter höchster Orden...«

Fabrizzio brach in Tränen aus. Der Richter fuhr fort: »Frau Marchesa del Dongo, Ihre Frau Mutter, teilt Ihnen diese Nachricht durch ein Schreiben mit; da sie aber unstatthafte Bemerkungen daran knüpft, hat der Gerichtshof unter dem gestrigen Tage verfügt, daß Ihnen das Schreiben nur auszugsweise bekanntzugeben sei, und diesen Auszug wird Ihnen Herr Kanzlist Bona jetzt vorlesen.«

Nach Beendigung des Vorlesens trat der Richter an Fabrizzio heran und zeigte ihm im Briefe seiner Mutter die Stellen, die man ihm soeben aus der Abschrift vorgelesen hatte. Fabrizzio sah die Worte: ›ungerechte Gefangenhaltung, grausame Bestrafung eines Vergehens, das keines ist‹. Er begriff, daß darin der Grund zum Besuche der Richter lag. Im übrigen sagte er in seiner Verachtung der unredlichen Beamten nur genau folgende Worte: »Ich bin krank, meine Herren, ich sterbe vor Mattigkeit, und Sie werden entschuldigen, daß ich nicht aufstehe.«

Als die Richter weg waren, weinte Fabrizzio noch lange, bis er sich sagte: ›Bin ich ein Heuchler? Ich dachte, ich hätte ihn gar nicht geliebt.‹

An diesem Tage sowie an den folgenden war Clelia sehr traurig. Sie rief ihn mehrere Male, hatte aber kaum den Mut, ihm einige Worte zu sagen. Am fünften Vormittag nach ihrer ersten Zusammenkunft teilte sie ihm mit, daß sie abends in die Marmorkapelle käme.

»Ich kann Ihnen nur wenige Worte widmen«, sagte sie ihm beim Kommen. Sie zitterte so, daß sie sich auf ihre Kammerzofe stützen mußte. Nachdem sie diese an den Eingang der Kapelle zurückgeschickt hatte, fuhr sie mit kaum verständlicher Stimme fort: »Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie der Duchezza gehorchen und den Fluchtversuch an dem Tage machen, den sie Ihnen befehlen, und in der Weise, die sie Ihnen vorschreiben wird, sonst gehe ich morgen in ein Kloster und schwöre Ihnen, daß ich nie wieder im Leben ein Wort mit Ihnen spreche!«

Fabrizzio blieb stumm.

»Versprechen Sie mir das!« sagte Clelia, Tränen in den Augen und ganz außer sich. »Sonst haben wir hier das letzte Mal miteinander gesprochen. Sie haben mir das Leben zur Qual gemacht. Sie bleiben meinetwegen hier, und jeder Tag kann der letzte Ihres Lebens sein.«

In diesem Augenblick war Clelia so schwach, daß sie sich auf den großen Lehnstuhl stützen mußte, der mitten in der Kapelle stand und ehedem von dem fürstlichen Gefangenen benutzt worden war. Sie war nahe daran, umzufallen.

»Was muß ich versprechen?« fragte Fabrizzio mit beklommener Stimme.

»Sie wissen es.«

»So schwöre ich, daß ich mich wissentlich in ein gräßliches Unglück stürzen und mich dazu verdammen will, fern dem zu leben, was ich in der Welt liebe!«

»Geloben Sie Genaueres!«

»Ich schwöre, der Duchezza zu gehorchen und an dem Tage zu entfliehen, da sie es will, und so, wie sie es wollen wird! Was soll aber aus mir werden, wenn ich erst fern von Ihnen bin ?«

»Schwören Sie, sich zu retten, was auch geschehen möge!«

»Wie, sind Sie entschlossen, den Marchese Crescenzi zu heiraten, wenn ich nicht mehr hier sein werde?«

»Mein Gott, was trauen Sie meiner Seele zu? Aber schwören Sie, sonst hätte ich nicht eine Minute den Seelenfrieden!«

»Wenn es sein muß! Ich schwöre, mich von hier zu retten an dem Tage, an dem es die Duchezza di Sanseverina anordnen wird, was inzwischen auch geschehen möge!«

Als Clelia diesen Schwur erzwungen hatte, fühlte sie sich dermaßen schwach, daß sie weggehen mußte, nachdem sie Fabrizzio gedankt hatte.

»Es war alles vorbereitet; ich wollte morgen früh fliehen,« sagte sie zu ihm, »wenn Sie in Ihrer Halsstarrigkeit verblieben wären. Dann hätte ich Sie in diesem Augenblick zum letzten Male in meinem Leben gesehen. Das hatte ich der Madonna gelobt. Sobald ich mein Zimmer wieder verlassen kann, will ich nun die schreckliche Mauer unterhalb des neuen Steines in der Brüstung besichtigen.«

Am anderen Tage fand er Clelia so bleich, daß sie ihm Sorge bereitete. Sie teilte ihm vom Vogelstubenfenster aus mit: »Machen wir uns nichts vor, mein lieber Freund! Da unsere Freundschaft sündhaft ist, so widerfährt uns zweifellos Unglück. Sie können bei Ihrem Fluchtversuch entdeckt werden; dann sind Sie für ewig verloren. Dennoch muß man der menschlichen Klugheit Gehör geben; sie gebietet uns, alles zu versuchen. Sie brauchen zum Hinabklettern an der Außenseite des breiten Turmes ein haltbares Seil von mehr als zweihundert Fuß Länge. Soviel Mühe ich mir gegeben habe, seit ich von dem Plane der Duchezza weiß, so habe ich doch nur so viel Seile besorgen können, daß Sie im ganzen etwa nur fünfzig Fuß lang sind. Nach einem Tagesbefehl der Kommandantur sind alle Seile, die man in der Zitadelle vorgefunden hat, verbrannt worden, und alle Abende werden die Ziehtaue der Brunnen abgeliefert; diese sind außerdem so schwach, daß sie oft beim Heraufziehen ihrer leichten Last reißen. Aber beten Sie zu Gott, er möge mir vergeben! Ich hintergehe meinen Vater, und ich entartetes Kind arbeite darauf hin, ihm einen tödlichen Kummer zu bereiten. Bitten Sie Gott für mich, und wenn Ihr Leben gerettet ist, geloben Sie ihm, seinem Ruhm Ihr ganzes Dasein zu weihen!

Folgenden Einfall habe ich gehabt: In acht Tagen werde ich die Zitadelle verlassen, um an der Hochzeit einer Schwester des Marchese Crescenzi teilzunehmen. Ich werde abends, wie es üblich ist, zurückkommen, werde aber alles aufbieten, um recht spät heimzukehren. Barbone wird nicht wagen, mich allzusehr zu belauern. Auf dieser Hochzeitsfeier erscheinen die höchsten Damen der Hofgesellschaft und zweifellos auch die Duchezza di Sanseverina. Bringen Sie es um Gottes willen zuwege, daß mir eine der Damen einen Packen geringeren Umfanges mit festen, nicht allzu starken Seilen zusteckt. Und sollte ich mich tausendfachem Tode aussetzen, ich will auch die gefahrvollsten Mittel anwenden, um diesen Packen Seile in die Zitadelle einzuschmuggeln, ach, unter Verletzung aller meiner Pflichten! Erführe mein Vater davon, so dürfte ich Sie nie wiedersehen. Aber was für ein Schicksal mir auch bestimmt sein mag, ich werde in den Grenzen einer schwesterlichen Freundschaft glücklich sein, wenn ich zu Ihrer Rettung beitragen kann.«

Am selben Abend benachrichtigte Fabrizzio die Duchezza durch die nächtlichen Lichtzeichen von der einzigen Gelegenheit, eine genügende Menge Seile in die Zitadelle einzuschmuggeln. Er bat sie jedoch, das Geheimnis selbst vor dem Grafen Mosca zu hüten, was ihr wunderlich dünkte. »Er ist verrückt!« sagte die Duchezza. »Das Gefängnis hat ihn umgewandelt; er nimmt die Dinge tragisch.«

Am anderen Tage überbrachte eine Bleikugel, die der Ballspieler warf, dem Gefangenen die Warnung vor allergrößter Gefahr. Die Person, die das Einschmuggeln der Seile übernommen habe, berichtete man ihm, rette ihm tatsächlich und buchstäblich das Leben. Fabrizzio teilte diese Neuigkeit eiligst Clelia mit.

Die nämliche Bleikugel brachte ihm auch eine genaue Zeichnung der westlichen Mauer, wo er von der Höhe des dicken Turmes hinabklettern sollte. Er müsse gerade im Zwischenraum zweier Basteien hinunter. Von da aus sei es ziemlich leicht, zu entkommen, da der Wall nur dreiundzwanzig Fuß hoch und ungenügend bewacht sei. Auf der Rückseite des Planes stand in winziger Handschrift ein herrliches Sonett: Eine hochherzige Seele forderte Fabrizzio zur Flucht auf, damit seine Seele nicht verkümmere und sein Leib nicht verkomme; er habe noch elf Jahre Kerker zu erdulden.

Hier wird eine Einschaltung nötig zur Erklärung des mutigen Rates der Duchezza zu so gefährlicher Flucht.

Wie alle Parteien, die nicht auf dem Gipfel der Macht sind, war die der Raversi unter sich nicht ganz einig. Der Cavaliere Riscara haßte den Großfiskal Rassi; er beschuldigte ihn, er hätte ihn einen bedeutenden Prozeß verlieren lassen, in dem Riscara allerdings unrecht hatte. Durch Riscara erhielt Serenissimus eine anonyme Mitteilung, daß dem Kommandanten der Zitadelle eine amtliche Ausfertigung des Urteils über Fabrizzio zugegangen sei. Die Marchesa Raversi, das tätige Oberhaupt der Partei, war über diese falsche Handlung äußerst aufgebracht und setzte ihren Freund, den Großfiskal, sofort davon in Kenntnis. Der hielt es für das Gegebene, sich etwas auf den Minister Mosca zu stützen, solange Mosca noch am Ruder war. Unerschrocken wagte sich Rassi ins Schloß, indem er wohl dachte, mit ein paar Fußtritten wegzukommen; Serenissimus konnte eines so durchtriebenen Rechtsbeistandes doch nicht entbehren, und Rassi hatte einen Richter und einen Anwalt, die einzigen Juristen im Lande, die seinen Platz hätten ausfüllen können, als Liberale verbannen lassen.

Serenissimus war außer sich, überhäufte ihn mit Beleidigungen und ging auf ihn los, um ihn zu prügeln.

»Gewiß, es liegt ein Mißgriff des Sekretärs vor«, antwortete Rassi kaltblütig. »Die Sache ist gesetzlich in Ordnung; die Zustellung hätte am Tage nach der Einlieferung des Herrn del Dongo in die Zitadelle geschehen müssen. Der übereifrige Sekretär hat geglaubt, er habe eine Vergeßlichkeit begangen, und hat mir das Begleitschreiben zur Unterschrift vorgelegt, als handle es sich um irgendwelche Nebensache...«

»Und du bildest dir ein, ich glaubte solche elende Flausen?« brüllte Serenissimus wütend. »Gesteh lieber, daß du dich an diesen Schelm, den Mosca, verkauft hast! Darum hat er dir den Orden verleihen lassen. Beim Teufel, diesmal kommst du nicht mit einem blauen Buckel davon! Ich bringe dich auf die Anklagebank; ich jage dich mit Schimpf und Schande weg!«

»Mich auf die Anklagebank zu bringen, das möchte ich Serenissimus nicht raten!« erwiderte Rassi gelassen; er wußte, das war ein sicheres Mittel, den Fürsten zu beruhigen. »Das Gesetz spricht für mich, und Serenissimus haben keinen zweiten Rassi, der das zu drehen vermöchte. Eure Hoheit werden mich nicht absetzen, weil es Augenblicke gibt, da Allerhöchstdero Charakter hart ist; dann sind Serenissimus blutdürstig. Aber zu gleicher Zeit trachten Serenissimus danach, sich die Achtung der vernünftigen Italiener zu bewahren. Diese Achtung ist eine Conditio sine qua non für Ihren Ehrgeiz. Schließlich würden Serenissimus mich bei Allerhöchstdero erster grausamer Tat zurückrufen. Ich werde dann das übliche Urteil besorgen, regelrecht verhängt von ängstlichen Richtern und leidlich anständigen Leuten, und Allerhöchstdero Leidenschaft wird befriedigt sein! Suchen Serenissimus sich nur einen andern Mann im Lande, der ebenso nützlich wäre wie ich!«

Nachdem Rassi so gesprochen, machte er sich auf und davon. Er nahm einen wohlgezielten Schlag mit dem Lineal und fünf bis sechs Fußtritte mit auf den Weg. Nachdem er dem Schloß entronnen war, fuhr er schleunigst nach seinem Landgut Riva. Er hatte ein wenig Furcht vor einem Dolchstoß, den ihm der frische Zorn seines Landesherrn beibringen lassen konnte, aber er zweifelte nicht daran, daß nach knapp vierzehn Tagen ihn ein Bote nach der Residenz zurückrufen werde. Die Zeit, die er auf dem Lande verlebte, wandte er dazu an, einen zuverlässigen Briefwechsel mit dem Grafen Mosca einzurichten. Vernarrt in den Baronstitel, verhehlte er sich nicht, daß Serenissimus der ehedem erhabenen Sache, dem Adel, viel zuviel Wert beimaß, als daß er ihn ihm je aus freien Stücken verliehe, während der geburtsstolze Graf Mosca nur den vor das Jahr 1400 zurückgehenden Adel anerkannte.

Der Großfiskal hatte sich in seinen Berechnungen durchaus nicht getäuscht; er war kaum acht Tage auf seinem Landgut, als ein Günstling des Fürsten wie zufällig hinkam und ihm riet, ohne Verzug nach Parma zurückzukehren.

Serenissimus empfing ihn lachend, nahm dann eine hochnotpeinliche Miene an und ließ den Pandektenmann bei der ewigen Seligkeit schwören, das Geheimnis zu wahren, das er ihm anvertrauen wolle. Rassi schwur bei Tod und Teufel, und Serenissimus rief laut, mit haßentflammtem Blick, er wäre nicht mehr Herr im eigenen Lande, solange Fabrizzio del Dongo am Leben sei.

»Ich kann weder die Duchezza davonjagen«, fuhr er fort, »noch ihre Gegenwart ertragen. Ihre Blicke trotzen mir und vergiften mir das Dasein.«

Nachdem Rassi den Fürsten sich des längeren darüber hatte ergehen lassen, erwiderte er schließlich, grenzenlose Verlegenheit heuchelnd: »Serenissimus werden bedient, selbstverständlich, aber die Sache hat einen schrecklichen Haken: die Wahrscheinlichkeit ist nicht gerade groß, daß man einen del Dongo wegen des Mördchens an einem Giletti zum Tode verurteilt. Es war schon ein erstaunliches Kunststück, zwölf Jahre Zitadelle herauszuschlagen. Obendrein argwöhne ich, daß die Duchezza drei von den Leuten ausfindig gemacht hat, die bei den Ausgrabungen von Sanguigna gearbeitet haben und sich gerade außerhalb des Grabens befanden, als der Brigant Giletti besagten del Dongo angriff.«

»Und wo sind diese Zeugen?« fragte Serenissimus gereizt.

»Im Piemontesischen versteckt, vermute ich. Man müßte eine Verschwörung gegen Allerhöchstdero Leben...«

»Das Mittel ist gefährlich!« unterbrach ihn Serenissimus. »So etwas bringt erst auf solche Gedanken...«

»Ja,« sagte Rassi mit erheuchelter Unschuld, »dann ist mein Arsenal erschöpft.«

»Es bleibt das Gift.«

»Aber wer sollte es ihm beibringen ? Vielleicht der Trottel, der Conti?«

»Wie man sagt, wäre das sein erster Versuch nicht.«

»Man müßte ihn in Harnisch bringen«, meinte Rassi. »Übrigens damals, als er den Hauptmann ins Jenseits beförderte, da war er keine dreißig Jahre alt und tüchtig verliebt und bei weitem nicht solch ein Hasenfuß wie heutzutage. Zweifellos muß dem Staatswohl alles andere nachstehen, aber so auf den ersten Anhieb wüßte ich zur Vollstreckung von Allerhöchstdero Befehl nur einen gewissen Barbone, Gefängnisschreiber in der Zitadelle. Herr del Dongo hat ihn am Tage seiner Einlieferung mit einer Backpfeife bedacht.«

Nachdem Serenissimus einmal im Fahrwasser war, fand die Audienz kein Ende. Zu guter Letzt bewilligte er seinem Großfiskal eine Frist von vier Wochen. Rassi wollte ihrer acht. Tags darauf empfing Rassi eine geheime Zuwendung von tausend Zechinen.

Drei Tage lang überlegte er; am vierten kam er zu einem Entschluß, der ihm einleuchtete: ›Erstens, nur Graf Mosca ist der Mann dazu, sein Wort zu halten, denn er mißt meiner Ernennung zum Baron keinen Wert bei. Zweitens, wenn ich ihn warne, erspare ich mir wahrscheinlich ein Verbrechen, auf das ich bereits eine kleine Abschlagszahlung bekommen habe. Drittens räche ich die ersten demütigenden Fußtritte, die der Ritter Rassi eingesteckt hat.‹ In der nächsten Nacht verriet er dem Grafen Mosca seine ganze Unterredung mit Serenissimus.

Graf Mosca machte der Duchezza heimlich den Hof. Allerdings sah er sie in ihrem Palazzo noch immer nur ein- oder zweimal im Monat; aber fast alle Wochen und wenn Mosca sonst eine Gelegenheit zu einem Gespräch über Fabrizzio zu finden wußte, kam die Duchezza in Cechinas Begleitung spät am Abend auf einige Augenblicke in den Garten des Grafen. Sie verstand es, selbst den Kutscher zu täuschen, obgleich er ihr treu ergeben war; er glaubte, sie mache einem benachbarten Hause Besuch.

Selbstverständlich gab der Graf nach der schreckensvollen Beichte des Großfiskals der Duchezza alsbald das verabredete Zeichen. Obwohl es mitten in der Nacht war, ließ sie ihn durch Cechina bitten, auf ein paar Augenblicke zu ihr zu kommen. Der Graf war über diese offensichtliche Vertraulichkeit entzückt wie eben ein Verliebter. Trotzdem zögerte er, der Duchezza alles zu sagen; er fürchtete, sie könne vor Schmerz wahnsinnig werden.

Nachdem er versucht hatte, ihr die verhängnisvolle Kunde durch Andeutungen beizubringen, erzählte er ihr schließlich doch alles. Er brachte es nicht übers Herz, ein Geheimnis vor ihr zu bewahren, wenn sie ihn darum bat. Seit neun Monaten hatte das grenzenlose Unglück auf ihre Feuerseele tief gewirkt und sie gestählt: die Duchezza brach weder in Tränen noch in Klagen aus.

Am folgenden Abend ließ sie an Fabrizzio das Zeichen höchster Gefahr signalisieren:

Es brennt im Schloß!

Er antwortete richtig:

Sind meine Bücher verbrannt?

In der nämlichen Nacht glückte es, ihm einen Brief in einer Bleikugel zukommen zu lassen. Acht Tage später aber, bei der Hochzeit der Schwester des Marchesen Crescenzi, beging die Duchezza eine ungeheuerliche Unbesonnenheit, die wir an der richtigen Stelle berichten werden.


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