Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Achtzehntes Kapitel

So brachten die Duchezza und der Premierminister bei aller Aufopferung für den Gefangenen nur recht wenig zuwege. Serenissimus war voller Wut, die Hofgesellschaft ebenso wie das Volk gereizt gegen Fabrizzio und froh, ihn im Unglück zu wissen: er war allzu glücklich gewesen. Obwohl die Duchezza das Gold mit vollen Händen verschwendete, kam sie in der Belagerung der Zitadelle keinen Schritt vorwärts. Es verging kein Tag, an dem die Marchesa Raversi oder der Cavaliere Riscara dem General Fabio Conti nicht irgendeine neue Warnung hätten zukommen lassen. Man half seiner Schwäche nach.

Wie uns bereits bekannt ist, war Fabrizzio am Tage seiner Verhaftung einstweilen in die Kommandantur gebracht worden. Das war ein hübsches kleines Gebäude, im achtzehnten Jahrhundert nach den Plänen VanvitellisLuigi Vanvitelli (1700-1773), von niederländischer Herkunft, in Neapel geboren. erbaut. Es lag hundertundachtzig Fuß hoch auf der Plattform des großen runden Turmes. Von den Fenstern dieses kleinen Palazzos, der auf dem Rücken des riesigen Turmes wie ein Kamelshöcker in die Luft ragte, überschaute Fabrizzio die Ebene und konnte ganz in der Ferne die Alpen erblicken. Mit seinen Augen verfolgte er vom Fuße der Zitadelle an den Lauf der Parma, eines Gebirgsflüßchens, das sich vier Meilen weit von Parma in einem Bogen nach rechts in den Po ergießt. Über das linke Ufer dieses Stromes hinaus, der gleichsam wie eine Kette von riesigen hellen Flecken mitten durch die grüne Ebene zieht, sah sein entzücktes Auge deutlich jede Zacke der ungeheueren Mauer, mit der die Alpen Italien nach Norden abschließen. Diese Gipfel, selbst im Monat August, in dem man sich damals befand, mit Schnee bedeckt, gewähren in den glühenden Ebenen durch die Erinnerung eine Art von Frische. Das Auge kann die Umrisse jener Höhen bis ins einzelne verfolgen, und doch sind sie mehr als dreißig Meilen von der Zitadelle entfernt.

Den weiten Fernblick von dem hübschen Palazzo der Kommandantur unterbrach nach Süden die Torre Farnese, in der man in aller Eile eine Zelle für Fabrizzio herrichtete. Dieser zweite Turm erhob sich, wie sich der Leser vielleicht erinnert, ebenfalls auf der Plattform des breiten, turmartigen Unterbaues. Er war zu Ehren eines Erbprinzen erbaut worden, der, im Gegensatz zu Hippolyt in Racines Phädra, die Artigkeiten seiner jungen Stiefmutter keineswegs zurückgewiesen hatte. Die Fürstin starb nach wenigen Stunden; der Prinz erhielt seine Freiheit erst nach siebzehn Jahren wieder, als er nach dem Tode seines Vaters den Thron bestieg. Diese äußerlich sehr häßliche Torre Farnese, die Fabrizzio drei viertel Stunde später hinaufsteigen mußte, überragt die Plattform des großen Turmes um fünfzig Fuß. Jener mit seiner Gattin unzufriedene Fürst, der dieses überall sichtbare Gefängnis errichten ließ, hatte die merkwürdige Laune gehabt, seinen Untertanen einzureden, es bestehe seit langen Jahren; deshalb gab er ihm den Namen Torre Farnese. Es war verboten, von seiner Erbauung zu reden, und doch konnte man von allen Punkten der Stadt Parma und der umliegenden Ebenen deutlich beobachten, wie die Bauleute Stein auf Stein zu diesem fünfeckigen Bau aufeinanderfügten. Zum Zeichen seines vorgeblichen Alters ließ man in die Mauer über der zwei Fuß breiten und vier Fuß hohen Eingangspforte ein prächtiges Relief ein, das den berühmten Heerführer Alessandro Farnese darstellte, der Heinrich IV. zwang, von Paris abzulassen.

Das Erdgeschoß dieses in so schöner Lage errichteten Turmes hatte Seiten von mindestens vierzig Schritt Länge und eine dementsprechende Breite, war aber bei seiner übermäßig großen Grundfläche nur fünfzehn Fuß hoch und ganz ausgefüllt mit gedrungenen Säulen. Es diente als Wache. Um die mittelste Säule führte eine schmale, sehr leicht gebaute, kaum zwei Fuß breite eiserne Wendeltreppe von durchbrochenem Gitterwerk empor. Auf dieser Treppe, die unter den wuchtigen Tritten der Gefängniswärter erzitterte, gelangte der von ihnen geleitete Fabrizzio in den prächtigen ersten Stock mit seinen riesigen, zwanzig Fuß hohen Räumen. Ehedem waren sie für den Prinzen, der dort die siebzehn schönsten Jahre seines Lebens vertrauert hatte, mit allem Prunk ausgestattet gewesen. Am Ende dieses Stockwerkes zeigte man dem neuen Gefangenen eine Kapelle von großer Pracht. Die Wände und die Wölbung waren mit schwarzem Marmor bekleidet; ebensolche schwarze Säulen von edelsten Verhältnissen standen in langen Reihen frei vor den schwarzen Wänden. Die Mauern waren geschmückt mit einer Menge riesiger, sorgfältig aus weißem Marmor ausgehauener Totenschädel, unter denen sich je zwei Knochen kreuzten. ›Das ist so recht eine Erfindung des Hasses, der nicht töten kann‹, dachte Fabrizzio. ›Was für ein Satansgedanke, mir das zu zeigen!‹

Eine sehr leichte durchbrochene eiserne Treppe, wiederum um die mittelste Säule kreisend, führte zum zweiten Stock, der ungefähr fünfzehn Fuß hoch war und an dem der General Fabio Conti seit einem Jahre sein Genie bewies. Zunächst hatte man unter seiner Leitung die Fenster der einzelnen Zellen, die vordem von Hoflakaien bewohnt waren, mit starken Eisengittern versehen, obgleich sie mehr als dreißig Fuß hoch über den Steinfliesen der Plattform des breiten Unterturmes lagen. Von einem dunklen Vorsaal im Mittelpunkte des Bauwerkes gelangte man in die Zellen, von denen jede zwei Fenster hatte. In diesem sehr engen Gang erblickte Fabrizzio drei aufeinanderfolgende eiserne Gittertüren mit gewaltigen Stäben, die bis zur Decke hinaufreichten. Alles war nach den Grundrissen, Quer- und Höhenschnitten angelegt, derentwegen der General, ihr trefflicher Erfinder, zwei Jahre lang jede Woche zum Empfang bei Serenissimus gekommen war. Ein dort untergebrachter Verschwörer konnte sich nicht beschweren, sein Gefängnis sei menschenunwürdig, und doch war er ohne irgendwelche Verbindung mit der Außenwelt; er vermochte sich nicht zu rühren, ohne daß man es merkte. Der General hatte in jeder Zelle dicke Eichenbohlen legen lassen, die drei Fuß hohe Stege bildeten. Das war seine Haupterfindung, die ihm die Befähigung zum Polizeiminister verschaffte. Auf diese Stege hatte er einen Käfig aus Holzplanken setzen lassen, der zehn Fuß hoch war und einen prächtigen Klangboden hatte. Er berührte die Mauer nur an den Fenstern. Auf den drei anderen Seiten blieb ein schmaler Gang von vier Fuß Breite zwischen den kahlen Kerkermauern aus riesigen Quadern und den Plankenwänden des Käfigs. Die vier Käfigwände bestanden aus doppelten Planken von Nußbaum, Eiche und Tanne und waren fest miteinander verbunden durch zahllose eiserne Bolzen und Nägel.

In eine dieser vor Jahresfrist erbauten Zellen, Meisterstücken Fabio Contis, die den netten Namen ›Zum passiven Gehorsam‹ erhalten hatte, wurde Fabrizzio gesteckt. Er lief an die Fenster. Die Aussicht von diesen vergitterten Fenstern war erhaben. Nur gegen Nordwesten war ein Stück des Horizontes durch die Dachgalerie der hübschen Kommandantur verbaut, die nur zwei Stockwerke hatte. Im Erdgeschoß lagen die Geschäftszimmer. Fabrizzios Blicke fielen sofort auf eines der Fenster des Oberstocks, vor dem hübsche Käfige mit vielen Vögeln aller Arten hingen. Fabrizzio lauschte erfreut ihrem Gesang und blickte dem letzten Schimmer der Abenddämmerung nach, während die Gefängniswärter sich um ihn herum zu schaffen machten. Das Vogelbauerfenster war keine fünfundzwanzig Fuß von dem seinen entfernt, lag aber fünf bis sechs Fuß tiefer, so daß er auf die Vögel hinabsah.

An jenem Tage war Mondschein. Als Fabrizzio seine Zelle betrat, ging gerade der Mond erhaben im Nordosten auf, über der fernen Alpenkette, nach Treviso zu. Es war erst halb neun Uhr abends. Am jenseitigen Horizont, gegen Westen, hoben sich im hellen Lichte der orangeroten Dämmerung die scharfen Umrisse des Monte Viso und anderer Alpengipfel ab, die sich von Nizza bis zum Mont Cenis und bis Turin hinüberziehen. Ohne irgendwie an sein Unglück zu denken, war Fabrizzio von diesem erhabenen Anblick gepackt und hingerissen. ›In dieser Zauberwelt also lebt Clelia Conti! Bei ihrer ernsten, nachdenklichen Seele muß sie diese Fernsicht mehr genießen als jeder andere Mensch. Hier weilt man gleichsam in einsamen Höhen, tausend Meilen fern von Parma.‹

Fabrizzio verbrachte mehr als zwei Stunden am Fenster und bewunderte den Horizont, der seine Seele rührte. Öfters ließ er seine Blicke auch nach der hübschen Kommandantur hinüberschweifen, bis er mit einem Male ausrief: »Aber ist das denn ein Kerker? Das, was ich so sehr gefürchtet habe?« Statt bei jedem Schritt Unannehmlichkeiten und Anlaß zu Ärgernis zu entdecken, ließ sich unser Held von den Reizen seines Gefängnisses bezaubern.

Plötzlich wurde er durch ein fürchterliches Getöse gewaltsam in die Wirklichkeit zurückgerufen; sein hölzernes Gemach, eigentlich ein Käfig mit starkem Resonanzboden, bebte gewaltig. Hundegebell und quiekende Laute drangen aus diesem sonderbaren Getöse hervor. ›Was ist denn das? Sollte ich so bald wieder entrinnen können?‹ dachte Fabrizzio. Einen Augenblick später lachte er, wie vielleicht noch nie in einem Gefängnis gelacht worden ist. Auf Befehl des Generals war gleichzeitig mit den Gefängnisaufsehern ein englischer Hund, ein sehr bösartiges Tier, heraufgekommen, der dazu bestimmt war, besonders wichtige Gefangene bewachen zu helfen, und der die Nacht in dem so erfinderisch hergestellten Gang um Fabrizzios Käfig zubringen sollte. In diesem drei Fuß breiten Zwischenraum zwischen den kahlen Kerkermauern und den Holzwänden des Käfigs mußte außer dem Hunde noch ein Aufseher schlafen. So konnte der Gefangene keinen Schritt tun, ohne gehört zu werden. Nun aber war bei Fabrizzios Einzug die Zelle ›Zum passiven Gehorsam‹ von etwa hundert riesigen Ratten bewohnt gewesen, die jetzt nach allen Richtungen hin ausrissen. Der Bullterrier war keineswegs schön, dafür jedoch sehr flink. Man hatte ihn an den Steinfliesen unterhalb des Holzkäfigs angebunden; als er aber die Ratten dicht an sich vorbeihuschen sah, riß er so stark an seiner Kette, daß es ihm gelang, den Kopf aus seinem Halsband herauszuzerren. Jetzt begann die großartige Schlacht, deren Lärm Fabrizzio aus seinen gar nicht trübseligen Träumereien weckte. Die Ratten, die sich vor dem ersten Biß des Hundes gerettet hatten, flüchteten in den Holzkäfig; der Terrier sprang die sechs Stufen hinauf, die zu Fabrizzios Zelle führten, und dort entstand nun ein noch viel entsetzlicheres Gepolter. Der Käfig bebte in seinen Grundfesten. Fabrizzio lachte wie närrisch, so daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Der Aufseher Grillo lachte nicht weniger und schloß die Tür. Der Hund, der die Ratten jagte, wurde durch keine Möbel gehindert, denn die Zelle war völlig leer; höchstens konnte ein eiserner Ofen in der einen Ecke die Jagd ein wenig stören. Als der Terrier alle seine Feinde zur Strecke gebracht hatte, rief ihn Fabrizzio an und streichelte ihn. Er hatte das Glück, dem Hunde zu gefallen. ›Wenn der mich mal über eine Mauer klettern sieht, wird er nicht bellen!‹ dachte Fabrizzio. Aber solche durchtriebene Politik hatte lange Wege; bei seiner jetzigen Geistesverfassung fand er sein Glück darin, mit dem Hunde zu spielen. Seltsamerweise und ohne daß er sich dessen bewußt ward, herrschte im Grunde seiner Seele geheime Freude.

Nachdem er durch das Herumtollen mit dem Hunde ziemlich außer Atem gekommen war, fragte er den Aufseher: »Wie heißen Sie?«

»Grillo. Ich bin bereit, Eurer Exzellenz in allen Dingen zu dienen, soweit es die Vorschriften gestatten.«

»Ausgezeichnet, mein lieber Grillo! Ein gewisser Giletti hat mich auf offener Landstraße ermorden wollen; ich habe mich zur Wehr gesetzt und ihn totgestochen. Wenn es wieder so käme, machte ichs genau ebenso. Solange ich nun euer Gast bin, will ich mir das Leben möglichst lustig einrichten. Bitten Sie Ihre Vorgesetzten um Erlaubnis und lassen Sie sich im Palazzo Sanseverina Wäsche geben! Ferner kaufen Sie mir einen anständigen Vorrat Nebiolo d'Asti!«

Das ist ein nicht übler schäumender Wein, den man in Piemont, in der Heimat Alfieris, herstellt und der seine Liebhaber besonders in der Gesellschaftsklasse hat, der die Gefängniswärter angehören. Acht bis zehn dieser Herren waren damit beschäftigt, etliche altmodische reich vergoldete Möbel in Fabrizzios Holzgemach zu schleppen; man hatte sie aus dem Prinzengefängnis im ersten Stockwerk geholt. Alle vernahmen das Wort ›Nebiolo d'Asti‹ mit Andacht. Trotz ihren Bemühungen blieb Fabrizzios Wohnung für die erste Nacht erbärmlich; gleichwohl betrübte ihn nur das vorläufige Fehlen einer guten Flasche Nebiolo.

»Das scheint ein braver Junge zu sein«, meinten die Aufseher beim Weggehen. »Nur eins bleibt zu wünschen, nämlich, daß ihm Geld zugesteckt wird.«

Als Fabrizzio allein war und sich von all dem Lärm ein wenig erholt hatte, sagte er sich: ›Ist es möglich, daß das der Kerker ist?‹ Er blickte nach dem unermeßlichen Horizonte von Treviso bis zum Monte Viso, nach der langgedehnten Alpenkette, nach den schneebedeckten Gipfeln und empor zu den Sternen. ›Ich begreife, daß sich Clelia Conti in dieser luftigen Einsamkeit wohlfühlt. Hier ist man tausend Meilen über den kleinlichen und boshaften Dingen, die einen da unten umgeben. Wenn die Vögel unter mir ihr gehören, werde ich sie wiedersehen. Wird sie rot werden, wenn sie mich erblickt?‹

Indem er über diese wichtigen Fragen nachdachte, schlief er in vorgerückter Nachtstunde ein. Schon am Tage nach dieser ersten im Gefängnis verbrachten Nacht, in der er nicht ein einziges Mal ungeduldig geworden war, sah sich Fabrizzio darauf beschränkt, seine Unterhaltung bei Fox, dem Bullterrier, zu suchen. Der Aufseher Grillo warf ihm zwar immer liebenswürdige Blicke zu, aber ein neuer Befehl schloß ihm den Mund, auch brachte er weder Wäsche noch Nebiolo.

›Werde ich Clelia sehen?‹ fragte sich Fabrizzio beim Erwachen. ›Ob das ihre Vögel sind?‹ Die Tierchen begannen ihr Zwitschern und Singen. In dieser Turmhöhe war dies der einzige Laut, der durch die Lüfte drang. Die große Stille, die dort oben herrschte, war für Fabrizzio eine neue, glückselige Wahrnehmung. Staunend lauschte er den leisen, oft unterbrochenen und so frischen Weisen seiner kleinen Nachbarn, die den Tag begrüßten. ›Wenn sie ihr gehören, so muß sie doch einmal in dieses Zimmer kommen, da unter meinem Fenster.‹ Wenn Fabrizzios Blicke auch immerfort die unermeßliche Alpenkette entlang schweiften, vor der sich die Zitadelle von Parma wie ein vorgeschobener Posten erhob, so kehrten sie doch auch ebensooft zurück zu den prächtigen Vogelkäfigen aus Zitronen- und Mahagoniholz mit ihren vergoldeten Stäben, die in dem sehr hellen Zimmer standen, das als Vogelstube benutzt ward. Erst später erfuhr Fabrizzio, daß dieses Zimmer das einzige vom Oberstock des Palastes war, das von elf bis vier Uhr Schatten hatte. Es wurde von der Torre Farnese gedeckt.

›Wie betrübend wäre es für mich,‹ sagte sich Fabrizzio, ›wenn ich statt ihres himmlischen sinnigen Antlitzes, auf das ich warte und das bei meinem Anblick vielleicht ein wenig errötet, – wenn ich statt dessen das dicke Gesicht irgendeines Stubenmädchens zu sehen bekomme, das den Auftrag hat, die Vögel zu versorgen! Aber wenn ich Clelia erblicke, wird sie mich überhaupt eines Blickes würdigen? Bei Gott, ich muß mir etwas herausnehmen, um mich bemerkbar zu machen. Übrigens sind wir alle beide hier einsam und so fern von der Welt! Ich bin ein Gefangener, also ein Wesen, das der General Conti und das ganze elende Gelichter als ihren Untergebenen bezeichnen. Aber sie hat so viel Geist oder, besser gesagt, so viel Seele, wie der Graf Mosca meint, daß sie vielleicht, so sagte er, das Handwerk ihres Vaters verabscheut. Daher ihre Schwermut. Ein edler Grund zur Traurigkeit! Aber nach all dem kann ich durchaus kein Fremder für sie sein. Mit welcher Bescheidenheit und Anmut hat sie mich gestern abend gegrüßt! Ich erinnere mich deutlich, daß ich bei unserm Zusammentreffen bei Como zu ihr gesagt habe: ›Eines Tages werde ich mir die schönen Gemälde in Parma ansehen, und vielleicht erinnern Sie sich dann meines Namens: Fabrizzio del Dongo!‹ Ob sie das vergessen hat? Sie war damals noch so jung!

Aber da fällt mir ein,‹ unterbrach sich Fabrizzio erstaunt im Gange seiner Gedanken, ›ich habe vergessen, zornig zu sein! Habe ich das Zeug zu einem von jenen großen Helden, wie sie das Altertum der Welt vorgeführt hat? Bin ich ein Held, ohne es zu ahnen? Wie? Ich, der ich vor dem Kerker so große Furcht hatte, ich bin darin, und ich denke nicht daran, traurig zu sein! Also kann man wohl sagen, die Furcht war hundertmal schlimmer als das Übel selbst. Was? Ich muß mir Vernunft predigen, um im Gefängnis traurig zu sein, das, wie Blanio gesagt hat, zehn Jahre oder zehn Monate währen kann? Sollte es die Verwunderung über diese völlig neuen Verhältnisse sein, die mich von der Mißstimmung ablenkt, an der ich leiden müßte? Vielleicht wird meine gute Laune, die unabhängig von meinem Willen und wenig vernünftig ist, plötzlich vergehen; vielleicht versinke ich im nächsten Augenblick in das schwarze Unglück, das ich erleiden soll. Auf jeden Fall ist es höchst erstaunlich, daß ich im Kerker bin und mir Vernunft predigen muß, um traurig zu sein. Bei Gott, ich komme auf meine Vermutung zurück: vielleicht bin ich ein großer Charakter.‹

Fabrizzios Träumereien wurden durch den Tischler der Zitadelle gestört, der Maß zu einem Fensterschirm zu nehmen kam. Die Zelle wurde zum ersten Male benutzt, und man hatte diese wesentliche Einrichtung noch nicht angebracht.

»So werde ich meiner erhabenen Fernsicht beraubt«, sagte sich Fabrizzio und bemühte sich, darüber traurig zu sein.

»Was,« herrschte er mit einem Male den Tischler an, »ich soll die hübschen Vögel da nicht mehr sehen?«

»Ach, die Vögel vom gnädigen Fräulein! Sie liebt sie so!« sagte der Mann in gutmütigem Tone. »Verbaut, verschwunden, futsch wie alles andere!«

Das Sprechen war dem Tischler ebenso streng verboten wie den Gefängnisaufsehern, aber den Mann dauerte der junge Gefangene. So erzählte er ihm, daß die riesigen Schirme, die auf die Fenstersimse aufgesetzt wurden und schräg nach oben gingen, den Gefangenen nur die Aussicht nach dem Himmel frei ließen. »Das tut man aus moralischen Gründen,« meinte er, »um die heilsame Traurigkeit und den Vorsatz zur Besserung in der Seele des Gefangenen zu erhöhen. Der General«, fügte der Tischler hinzu, »hat auch die Erfindung gemacht, die Fensterscheiben herauszunehmen und durch Ölpapier zu ersetzen.«

Fabrizzio gefiel das Epigrammatische dieser Redeweise, die etwas Seltenes in Italien ist.

»Ich möchte zu meiner Zerstreuung gern einen Vogel haben; ich liebe die Tiere überaus. Kaufen Sie mir einen vom Stubenmädchen von Fräulein Clelia Conti!«

»Wie, Sie kennen sie,« rief der Tischler, »da Sie ihren Namen so hübsch sagen?«

»Wer hätte von dieser berühmten Schönheit nicht reden hören? Übrigens hatte ich die Ehre, ihr mehrmals bei Hofe zu begegnen.«

»Die arme Signorina langweilt sich hier sehr«, fuhr der Tischler fort. »Sie verbringt ihr Dasein mit ihren Vögeln. Heute vormittag hat sie schöne Orangenbäume gekauft, die man auf ihr Geheiß an der Turmpforte unter Ihren Fenstern aufgestellt hat. Wenn der Sims nicht wäre, könnten Sie sie sehen.«

Diese Mitteilung enthielt für Fabrizzio wertvolle Worte. Er fand eine höfliche Form, dem Tischler etwas Geld zu geben.

»Ich vergehe mich doppelt«, sagte der Mann zu ihm. »Ich spreche mit Eurer Exzellenz und nehme Geld an. Übermorgen, wenn ich wegen des Schirmes wiederkomme, will ich in meiner Tasche einen Vogel mitbringen, und wenn ich nicht allein bin, werde ich so tun, als ob er mir entwischt. Und wenn ich es kann, werde ich Ihnen ein Gebetbuch besorgen. Es muß Ihnen doch schmerzlich sein, Ihr Brevier nicht lesen zu können.«

»Also«, sagte sich Fabrizzio, sobald er allein war, »die Vögel gehören ihr, aber in zwei Tagen werde ich sie nicht mehr sehen.«

Bei diesem Gedanken nahmen seine Augen einen Ausdruck von Unglück an. Aber zu seiner unsagbaren Freude erschien endlich gegen Mittag nach langem Harren und vielmaligem Hinsehen Clelia, um ihre Vögel zu versorgen. Fabrizzio stand regungslos und ohne zu atmen da, ganz dicht gegen die mächtigen Fenstergitter gelehnt. Er sah, daß sie die Blicke nicht zu ihm erhob, aber ihre Bewegungen hatten etwas Gezwungenes, als ob sie sich beobachtet fühlte. Wenn das arme Mädchen auch gewollt hätte, sie hätte das feine Lächeln doch nicht vergessen können, das sie am Tage vorher über die Lippen des Gefangenen hatte huschen sehen, im Augenblick, als die Gendarmen ihn aus der Wachtstube abführten.

Obgleich sie sich allem Anschein nach die größte Mühe gab, sich zu beherrschen, so wurde sie doch in dem Augenblick, als sie sich dem Fenster der Vogelstube näherte, merklich rot. Fabrizzio, der an dem eisernen Fenstergitter lehnte, wollte in der ersten Wallung seinem kindischen Verlangen nachgeben und mit der Hand ein wenig an das Gitter klopfen, um ein leises Geräusch hervorzurufen; aber der bloße Gedanke an solchen Mangel an Taktgefühl verursachte ihm Schaudern. »Ich verdiene es, daß sie acht Tage lang ihre Vögel durch das Stubenmädchen versorgen läßt.« So zarte Gedanken hatte er in Neapel und in Novara niemals gehabt.

Er beobachtete Clelia mit glühenden Augen. »Sicherlich«, sagte er sich, »wird sie wieder gehen, ohne meinem armen Fenster einen Blick zu gönnen, und es liegt ihr doch gerade gegenüber.« Als sie aber wieder aus dem Hintergrund des Zimmers hervorkam, bemerkte Fabrizzio dank seinem höheren Standorte ganz deutlich, daß Clelia es nicht über sich brachte, ihren Blick nicht hinaufschweifen zu lassen, ganz flüchtig, aber doch so, daß sich Fabrizzio für berechtigt hielt, sie zu grüßen.

»Sind wir beide nicht hier allein auf der Welt?« sagte er sich, um sich Mut zu machen. Auf seinen Gruß blieb das junge Mädchen stehen und senkte die Augen. Dann sah Fabrizzio, wie sie sie ganz langsam wieder aufschlug. Offenbar kämpfte sie heftig mit sich selbst: sie grüßte den Gefangenen mit einer sehr ernsten und gemessenen Bewegung, aber ihren Augen konnte sie das Sprechen nicht verbieten. Wahrscheinlich ohne daß sie es selbst wußte, drückten sie einen Atemzug lang das innigste Mitgefühl aus. Fabrizzio sah, daß sie rot wurde und daß dieses Rot ihr rasch die Haut hinunterlief, bis auf die Schultern, die sie wegen der Hitze in der Vogelstube beim Eintreten von ihrem schwarzen Spitzenschal befreit hatte. Der unwillkürliche Blick, mit dem Fabrizzio auf ihren Gruß antwortete, verdoppelte die Verwirrung des jungen Mädchens. »Wie glücklich wäre jene unglückliche Frau,« sagte sie sich in Gedanken an die Duchezza. »wenn sie ihn nur einen Augenblick so sehen könnte wie ich!«

Fabrizzio hatte die leise Hoffnung, sie bei ihrem Weggehen noch einmal grüßen zu können. Aber um dieser neuen Huldigung aus dem Wege zu gehen, trat Clelia einen wohlüberlegten allmählichen Rückzug an, von Bauer zu Bauer, als ob sie die der Tür am nächsten aufgestellten Vögel zuletzt versorgen müßte. Schließlich ging sie hinaus. Fabrizzio starrte regungslos nach der Tür, durch die sie verschwunden war. Er war ein neuer Mensch. Von diesem Augenblick an waren seine Gedanken einzig und allein daraufgerichtet, wie er es ermöglichen könne, sie wiederzusehen, selbst wenn der schreckliche Schirm das nach der Kommandantur führende Fenster versperrte.

Am Abend vorher hatte er sich vor dem Schlafengehen die höchst langweilige Mühe auferlegt, den größeren Teil des Goldes, das er besaß, in den zahlreichen Rattenlöchern, die seinen Holzkäfig zierten, zu verstecken. »Heute abend muß ich meine Taschenuhr verbergen. Habe ich nicht gehört, daß man bei einiger Ausdauer mit einer schartig gemachten Uhrfeder Holz oder sogar Eisen zersägen kann? So könnte ich also den Schirm zersägen!« Die Arbeit, seine Taschenuhr zu verstecken, dauerte reichlich zwei Stunden, aber die Zeit verging ihm rasch. Er grübelte über die verschiedenen Mittel nach, zu seinem Ziele zu gelangen, und über das, was er von Tischlerarbeit verstand. »Wenn ichs geschickt anfange,« sagte er sich, »so kann ich aus dem Eichenbrett, aus dem der Schirm bestehen wird, ein viereckiges Stück ausschneiden. Je nach den Umständen nehme ich das Stück heraus oder setze es wieder ein. Alles, was ich besitze, werde ich Grillo geben, damit er diese kleine Einrichtung nicht zu bemerken geruht.« Fabrizzios ganzes Glück hing fortan an der Möglichkeit, diese Arbeit zu bewerkstelligen, und er dachte an nichts anderes. »Wenn ich es nur fertig bringe, sie zu sehen, so bin ich glücklich. – Nein, nein,« sagte er sich, »sie muß auch sehen, daß ich sie sehe!«

Die ganze Nacht über hatte er den Kopf voll von Tischlererfindungen und dachte wohl nicht ein einziges Mal an den Parmaer Hof, an den Zorn von Serenissimus und dergleichen. Wir wollen gestehen, daß er auch nicht weiter an den Schmerz dachte, in den die Duchezza versunken sein mußte. Ungeduldig erwartete er den nächsten Tag, aber der Tischler erschien nicht wieder. Offenbar galt er im Gefängnis für einen Liberalen. Man hatte dafür gesorgt, daß ein anderer kam, einer mit mürrischem Aussehen, der immer nur mit einem Grunzen von schlimmer Vorbedeutung auf alle die netten Dinge antwortete, die sich Fabrizzio für ihn ausdachte.

Einige von den vielen Versuchen der Duchezza, brieflichen Verkehr mit Fabrizzio herzustellen, waren durch die zahlreichen Spitzel der Marchesa Raversi entdeckt worden. Durch diese wurde der General Fabio Conti auch täglich aufmerksam gemacht, erschreckt und in seiner Eigenliebe angestachelt. Alle acht Stunden wurden die sechs Mann Wache im großen Saal mit den hundert Säulen im Erdgeschoß abgelöst. Obendrein hatte der Kommandant an jede der drei eisernen Türen im Vorsaal je einen Gefängnisaufseher als Posten aufgestellt, und der arme Grillo, der einzige, der zu dem Gefangenen durfte, war verdammt, die Torre Farnese nur alle acht Tage verlassen zu dürfen. Er gebärdete sich deshalb sehr grimmig und ließ seine schlechte Laune an Fabrizzio aus, der den guten Einfall hatte, nichts darauf zu erwidern als: »Einen ordentlichen Vorrat Nebiolo d'Asti, verehrter Freund!« Und er gab ihm Geld dazu.

»Hören Sie,« sagte Grillo empört und so leise, daß der Gefangene ihn gerade noch verstehen konnte, »selbst das, was einen über alles Elend hinwegtröstet, hat man uns verboten anzunehmen. Ich müßte es zurückweisen, aber ich nehme es an. Übrigens weggeworfenes Geld! Ich kann Ihnen über nichts etwas sagen. Na, Sie, Sie mögen hübsche Dinge begangen haben! Die ganze Zitadelle ist Ihretwegen außer Rand und Band. Die Schliche der schönen Frau Duchezza haben bereits dreien von uns die Entlassung gebracht.«

»Wird der Schirm vor Mittag fertig?« Das war die große Frage, die Fabrizzios Herz den ganzen langen Vormittag höher schlagen ließ. Er lauerte auf die Schläge jeder Viertelstunde, die die Turmuhr der Zitadelle verkündete. Als es endlich dreiviertel zwölf schlug, war der Schirm noch nicht da. Clelia erschien, um ihre Vögel zu versorgen. Die grausame Notwendigkeit hatte Fabrizzios Kühnheit Vorschub geleistet, und die drohende Gefahr, sie nicht mehr zu sehen, deuchte ihn so übergroß, daß er es beim Anblick Clelias wagte, mit einem Finger das Zersägen des Schirms anzudeuten. Sobald sie diese für einen Gefangenen so aufrührerische Geste bemerkte, grüßte sie leicht und zog sich zurück.

»Wie,« fragte sich Fabrizzio verwundert, »sollte sie so unvernünftig sein, in einer Geste, die mir die härteste Notwendigkeit eingibt, eine lächerliche Vertraulichkeit zu erblicken? Ich wollte sie um die Gnade bitten, wenn sie ihre Vögel versorgt, etwas nach dem Kerkerfenster hinaufzublicken, selbst wenn sie es durch einen riesigen Holzverschlag verbaut fände. Ich wollte ihr andeuten, daß ich das Menschenmögliche tun will, um es fertig zu bekommen, sie wiederzusehen. Großer Gott, wenn sie wegen meiner ungebührlichen Geste morgen nicht wiederkäme!«

Diese Befürchtung, die Fabrizzio eine unruhige Nacht bereitete, bewahrheitete sich. Am folgenden Tage war Clelia um drei Uhr noch nicht erschienen, als man die beiden riesigen Schirme vor Fabrizzios Fenster gesetzt hatte. Die einzelnen Teile waren von der Plattform des breiten Turmes aus mit Tauen und Flaschenzügen bis an die Eisengitter hinaufgezogen worden. Freilich hatte Clelia hinter einem Vorhang ihres Zimmers jede Bewegung der Arbeiter ängstlich verfolgt; sie hatte sehr wohl Fabrizzios tödliche Unruhe beobachtet, aber sie hatte trotz alledem den Mut, das Versprechen zu halten, das sie sich gegeben.

Clelia war eine kleine Anhängerin der Freiheitsbewegung. In ihrer frühen Jugend hatte sie die liberalen Reden ernst genommen, die sie im Hause ihres Vaters hörte, der an nichts anderes als an seine Laufbahn dachte. Sie hatte dann mit Abscheu erfahren, wie wetterwendisch der Charakter dieses Hofmenschen war. Daher rührte ihre Abneigung gegen die Ehe. Seit Fabrizzios Ankunft wurde sie von Gewissensbissen gequält. »So bin ich nun!« sagte sie sich. »Mein nichtswürdiges Herz schlägt für Leute, die meinen Vater ins Unglück stürzen wollen! Er wagt es, mir eine Geste zu machen, daß er eine Tür zersägen will! Allerdings,« fuhr sie mit blutendem Herzen fort, »die ganze Stadt spricht von seinem nahen Tode. Vielleicht ist morgen dieser unselige Tag! Bei den Ungeheuern, die unser Land beherrschen, ist kein Ding unmöglich! Welche Sanftmut, welche heldenhafte Heiterkeit in diesen Augen, die sich vielleicht so bald schließen sollen! Gott, was für eine Herzensangst muß die Duchezza haben! Man sagt, sie sei am Verzweifeln. Ich möchte den Fürsten erdolchen wie die heldenmütige Charlotte Corday.«

Diesen ganzen dritten Tag seiner Gefangenschaft war Fabrizzio außer sich vor Zorn, aber lediglich, weil er Clelia nicht gesehen hatte. »Zorn gegen Zorn! Ich werde ihr sagen müssen, daß ich sie liebe!« rief er laut. Bei dieser Entdeckung war er nämlich angelangt. »Nein, das ist gar keine Seelengröße, daß ich nicht an meine Gefangenschaft denke und die Weissagungen Blanios Lügen strafe! So viel Ehre gebührt mir durchaus nicht. Unwillkürlich denke ich an jenen Blick süßen Mitleids, den Clelia mir gegönnt hat, als mich die Gendarmen aus der Wache führten. Dieser Blick hat mein ganzes bisheriges Leben ausgelöscht. Wer hätte gedacht, daß ich an solch einem Orte so süße Augen finden sollte! Und dies zu einer Zeit, als meine Blicke besudelt waren vom Anblick der Gesichter des Barbone und des Kommandanten. Mitten unter diesen gemeinen Kreaturen ging mir der Himmel auf. Und wie sollte ich da nicht die Schönheit lieben und versuchen, sie wiederzusehen! Nein, das ist durchaus keine Seelengröße, daß ich gleichgültig bin gegen die kleinen Quälereien, an denen der Kerker so überreich ist!«

Fabrizzios Phantasie vergegenwärtigte sich blitzschnell alle Möglichkeiten. »Am Ende werde ich gar freigelassen? Ohne Zweifel vollbringt die Freundschaft der Duchezza Wunder für mich. Ach, ich würde mich nur mit einem erzwungenen Lächeln für die Freiheit bedanken! An solch einen Ort kommt man nicht so bald zurück. Bin ich einmal aus dem Kerker hinaus, werde ich Clelia so gut wie nie wiedersehen! Gehören wir beide doch getrennten Lagern an! Bei Licht betrachtet: Was kann mir das Gefängnis anhaben? Wenn Clelia die Gnade hätte, mich nicht mit ihrem Zorn zu überschütten, was hätte ich vom Himmel zu erbitten?«

Am Abend dieses Tages, an dem er seine hübsche Nachbarin nicht gesehen hatte, kam ihm ein großer Gedanke: mit dem eisernen Kreuz des Rosenkranzes, den man jedem Gefangenen bei seiner Aufnahme im Kerker aushändigt, begann er den Schirm mit Erfolg anzusägen. »Vielleicht ist das eine Unvorsichtigkeit«, sagte er sich, bevor er anfing. »Haben die Tischler nicht in meiner Gegenwart gesagt, daß gleich morgen die Anstreicher kämen? Was werden die sagen, wenn sie den Schirm angesägt finden? Aber wenn ich diese Unvorsichtigkeit begehe, dann kann ich sie morgen sehen. Wie, durch meine Schuld sollte ich sie einen Tag lang nicht sehen, noch dazu, da sie mich erzürnt verlassen hat?«

Fabrizzios Wagnis ward belohnt: nach fünfzehnstündiger Arbeit sah er Clelia, und zu seinem allerhöchsten Glück, als sie sich gerade gar nicht von ihm beobachtet glaubte. Lange stand sie regungslos da, den Blick auf den großen Schirm geheftet. Er hatte also alle Muße, in ihren Augen die Zeichen des zärtlichsten Mitleids zu lesen. Offenbar vernachlässigte sie sogar ihre Vögel, um minutenlang nach seinem Fenster hinaufzuschauen. Ihre Seele war bis in den Grund aufgewühlt. Sie gedachte der Duchezza, deren grenzenloses Leid ihr soviel Mitgefühl eingeflößt hatte; und doch begann sie diese Frau zu hassen. Sie verstand nichts von der tiefen Schwermut, die ihr Wesen ergriffen hatte; sie war ärgerlich auf sich selbst. Zwei- oder dreimal während ihrer Anwesenheit versuchte Fabrizzio aus Ungeduld, an dem Schirm zu rütteln; ihm war, als sei er nicht glücklich, solange er Clelia nicht merken lassen konnte, daß er sie sähe. ›Wenn sie aber wüßte,‹ sagte er sich, ›daß ich sie so bequem beobachten kann, so würde sie sich, schüchtern und zurückhaltend, wie sie ist, zweifellos meinen Blicken entziehen.‹

Mehr Glück hatte er am nächsten Tage, denn welchem Elend vermöchte die Liebe nicht Glück zu entlocken? Während Clelia trübsinnig nach dem großen Fensterschirm hinaufsah, gelang es ihm, ein kleines Stück Eisendraht durch das Loch zu stecken, das er mit dem eisernen Kreuz hergestellt hatte, und ihr Zeichen zu machen, die sie augenscheinlich verstand, zum mindesten in dem Sinne: ›Ich bin da und sehe dich!‹

An den folgenden Tagen hatte Fabrizzio Pech. Er wollte aus dem großen Schirm ein handgroßes Stück Holz heraussägen, das sich nach Belieben wieder einsetzen ließe, damit er sähe und gesehen würde und somit wenigstens durch Zeichen verständlich machen könnte, was in seiner Seele vorging. Aber das Geräusch der kleinen Säge, die er sich aus seiner mit dem Kreuze gezähnten Uhrfeder einigermaßen hergerichtet hatte, machte Grillo stutzig, so daß dieser stundenlang in Fabrizzios Zelle blieb. Allerdings glaubte er wahrzunehmen, daß Clelias Unnahbarkeit in dem Grade abnahm, wie die Schwierigkeiten, sich zu verständigen, wuchsen. Fabrizzio beobachtete sehr wohl, daß sie nicht mehr absichtlich die Augen niederschlug oder sich mit den Vögeln abgab, wenn er den Versuch machte, ihr mit Hilfe des elenden Drahtstückes ein Zeichen seiner Gegenwart zu geben. Zu seiner Freude sah er, daß sie nie verfehlte, genau in dem Augenblick in der Vogelstube zu erscheinen, da es drei Viertel zwölf schlug, und er bildete sich beinahe ein, er sei die Ursache ihrer so pünktlichen Regelmäßigkeit. Warum? Dieser Gedanke scheint unvernünftig, aber die Liebe beobachtet kaum bemerkbare Regungen, die einem gleichgültigen Auge entgehen, und zieht endlose Folgerungen daraus. Zum Beispiel erhob Clelia, seitdem sie den Gefangenen nicht mehr sehen konnte, ihre Blicke fast unmittelbar nach ihrem Eintritt in die Vogelstube zu seinem Fenster. Das war gerade an den unheilvollen Tagen, als kein Mensch in Parma daran zweifelte, daß Fabrizzio bald hingerichtet werden würde; er allein wußte nichts davon. Aber Clelia konnte dieses schrecklichen Gedankens nicht ledig werden. Warum sollte sie sich da Vorwürfe machen, daß sie Fabrizzio zuviel Teilnahme bezeigte? Er war dem Untergang nahe! Weil er ein Freidenker war! Es erschien ihr abgeschmackt, daß ein del Dongo hingerichtet werden sollte, weil er einem Komödianten einen Degenstich versetzt hatte. Freilich war der liebenswürdige junge Mann an eine andere Frau gebunden! Clelia war tief unglücklich, und wenn sie sich auch die Art ihrer Teilnahme an seinem Schicksal nicht ganz richtig eingestand, so sagte sie sich doch: ›Wenn man ihn in den Tod führt, dann gehe ich bestimmt in ein Kloster. In meinem ganzen Leben will ich nicht wieder in dieser Hofgesellschaft erscheinen; mir graut vor ihr. Höfische Meuchelmörder!‹

Am achten Tage von Fabrizzios Gefangenschaft erlebte sie eine große Beschämung. Sie sah starr und in trübe Gedanken versunken nach dem Schirme, der das Fenster des Gefangenen verbarg. An diesem Tage hatte er noch keinerlei Zeichen seiner Gegenwart gegeben. Mit einem Male wurde ein kleines, etwas mehr als handgroßes Stück aus dem Schirm entfernt. Mit heiterer Miene schaute Fabrizzio zu ihr heraus. Sie sah den Gruß seiner Augen. Diese unerwartete Versuchung vermochte sie nicht zu ertragen; schnell wandte sie sich ihren Vögeln zu und begann sie zu versorgen, aber sie zitterte so sehr, daß sie das Wasser verschüttete, das sie ihnen gab, und Fabrizzio konnte ihre Erregung ganz deutlich erkennen. Dieser Zustand war ihr unerträglich, und sie entschloß sich, davonzulaufen.

Dieser Augenblick war der schönste in Fabrizzios Leben. Mit welcher Begeisterung hätte er die Befreiung zurückgewiesen, hätte man sie ihm jetzt angeboten!

Der kommende Tag war für die Duchezza ein Tag großer Verzweiflung. In der Stadt galt es allgemein als sicher, daß es um Fabrizzio geschehen sei. Clelia hatte den traurigen Mut nicht, ihm eine Kälte vorzuspiegeln, die ihrem Herzen fremd war. Anderthalb Stunden weilte sie in der Vogelstube, sah alle seine Zeichen und antwortete ihm des öfteren, zum mindesten mit dem Ausdrucke der innigsten und aufrichtigsten Teilnahme. Für Augenblicke verließ sie ihn, um ihre Tränen zu verbergen. Ihre weibliche Gefallsucht fühlte so recht die Unzulänglichkeit der angewandten Zeichensprache. Wenn sie miteinander hätten sprechen können, mit wieviel verschiedenen Mitteln hätte sie dann nicht ganz genau zu ergründen versucht, welche Art die Gefühle waren, die Fabrizzio der Duchezza gegenüber hegte! Clelia vermochte sich fast keiner Täuschung mehr darüber hinzugeben: sie haßte die Sanseverina.

Eine Nacht dachte Fabrizzio ernstlich an seine Tante. Zu seinem Erstaunen fiel es ihm schwer, sich ihr Bild zu vergegenwärtigen. Die Erinnerung an sie hatte sich vollständig verändert. In dieser Stunde war sie für ihn eine Fünfzigjährige.

»Großer Gott,« rief er voller Begeisterung, »welch ein guter Geist hat mir eingegeben, ihr nicht von Liebe zu reden!« Er war nahe daran, es nicht mehr begreifen zu können, daß er sie so hübsch gefunden hatte. Die Erinnerung an die kleine Marietta war weniger verändert, und zwar, weil er sich nie eingebildet hatte, daß bei seiner Liebelei mit Marietta seine Seele irgendwie in Mitleidenschaft gezogen wäre, während er oft geglaubt hatte, sie gehöre völlig der Duchezza. Die Herzogin von Albarocca und Marietta kamen ihm jetzt vor wie junge Tauben, deren ganzer Reiz in ihrer Unschuld und Zartheit lag. Dagegen erfüllte das leuchtende Bild Clelias all sein Inneres, ja es flößte ihm einen Schauer ein. Er fühlte nur zu gut, daß sein weiteres Lebensglück ihn zwingen werde, auf die Tochter des Kommandanten zu hoffen, und daß es in ihrer Macht stehe, ihn zum unglücklichsten Sterblichen zu machen. Tag für Tag hatte er die tödliche Angst, irgendeine Laune, die von seinem Willen nicht abhinge, könne diesem seltsamen und köstlichen Leben, das er in Clelias Nähe gefunden hatte, ein jähes Ende bereiten. Jedenfalls hatte es ihn in den ersten acht Wochen seiner Gefangenschaft beseligt. Das war zu der Zeit, als der General Fabio Conti wöchentlich zweimal Serenissimus berichtete: ›Ich kann Eurer Hoheit mein Ehrenwort geben, daß der Sträfling del Dongo mit keiner Menschenseele spricht. Er verbringt sein Dasein in tiefer Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, oder er schläft.‹

Clelia kam zwei- bis dreimal täglich, um nach ihren Vögeln zu sehen, bisweilen nur für Augenblicke. Wenn Fabrizzio sie nicht so sehr geliebt hätte, dann hätte er wohl bemerkt, daß er geliebt wurde, aber er hegte in dieser Hinsicht tödliche Zweifel. Clelia hatte in die Vogelstube ein Klavier stellen lassen. Wenn sie die Tasten anschlug, damit der Klang des Instruments ihre Gegenwart anzeigte und die Schildwache unter seinen Fenstern beschäftigte, antwortete sie mit den Augen auf Fabrizzios Fragen. Nur auf eines ging sie nie ein, und gelegentlich ergriff sie deshalb sogar die Flucht und ließ sich einen ganzen Tag lang nicht sehen: verrieten Fabrizzios Zeichen nämlich Gefühle, die zu verstehen nicht allzu schwierig war, dann war sie unerbittlich.

Obwohl Fabrizzio in einem ziemlich engen Käfig eingesperrt saß, war somit sein Leben recht beschäftigungsreich. Besonders suchte er nach der Lösung des so bedeutungsvollen Rätsels: ›Liebt sie mich?‹ Das Ergebnis von tausend Beobachtungen, die er unaufhörlich erneuerte und die ihn doch ebenso unaufhörlich zweifeln ließen, war folgendes: ›Alle ihre absichtlichen Gesten sagen nein, aber das Unwillkürliche im Spiel ihrer Augen scheint zu verraten, daß sie mir freundschaftlich gesinnt ist.‹

Clelia hoffte sehr, daß es nie zu einem Geständnis käme, und um dieser Gefahr vorzubeugen, hatte sie mit übermäßigem Zorn eine Bitte zurückgewiesen, die Fabrizzio mehrfach an sie richtete. Die Kläglichkeit der von dem armen Gefangenen angewandten Hilfsmittel hätte Clelia eigentlich zu mehr Mitleid stimmen müssen. Er wollte mit ihr durch Buchstaben reden, die er mit einem Stück Kohle – diesen wertvollen Fund verdankte er dem kleinen Ofen – auf seine Hand gemalt hatte; durch Buchstabenfolgen hätte er Wörter gebildet. Diese Erfindung hätte die Mittel zur Unterhaltung verdoppelt, indem sie zur Mitteilung bestimmter Dinge geführt hätte. Sein Fenster war von dem ihrigen ungefähr fünfundzwanzig Fuß entfernt, aber eine mündliche Unterhaltung wäre angesichts der Schildwachen, die vor der Kommandantur auf und ab gingen, allzu gewagt gewesen. Fabrizzio zweifelte daran, daß er geliebt werde. Hätte er einige Liebeserfahrung besessen, so hätte er nicht lange gezweifelt, aber noch nie hatte ein weibliches Wesen sein Herz beschäftigt. Im übrigen hatte er keine Ahnung von einem Geheimnis, über das er außer sich gewesen wäre, wenn er davon gewußt hätte. Es handelte sich um nichts Geringeres als um die Heirat Clelia Contis mit dem Marchese Crescenzi, dem reichsten Mann bei Hofe.


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