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Wochenlang rang Damian vergeblich darum, sich aus dem Schattenwogen zu befreien, in das ihn der Gram über den Tod seines Söhnchens im ufervollen Zacken, der Schmerz über das Mißlingen seiner Volksbeglückungspläne und sein ohnmächtiger Zorn über die immer offenbarer werdende moralische Zersetzung des deutschen Volkes gestürzt hatte.
In seinem brennenden Verlangen, sowohl den Schatten seines Inneren wie den Fangarmen zu entrinnen, die von außen, aus dem chaotischen Brodeln der Zeit nach ihm langten, flüchtete er sich abermals in sein Studierzimmer, in die reine Luft und Windstille der Wissenschaft, der Geschichte und der Philosophie. Dennoch merkte er bald, als er sich daran machte, die Arbeit an seinem bereits begonnenen Manuskript über »Blütezeit und Verfall Athens« wieder aufzunehmen, daß ihm in den vergangenen Wochen der Zugang dazu verlorengegangen war. So beschäftigte er sich, in der Absicht, sich zwanglos wieder auf diese Arbeit einzustimmen, in bewußt unsystematischer Weise eine Zeitlang ausschließlich mit der erneuten Lektüre jener antiken Geschichtsschreiber und Philosophen, deren Werke ihn von der Schulbank über die Universität bis heute als die dokumentarischen Verkünder der hellenischen Welt begleitet und begeistert hatten.
Doch nun widerfuhr Damian etwas höchst Merkwürdiges. Wenn er bisher geglaubt, im sicheren Besitz einer klaren Anschauung griechischen Wesens in allen seinen Ausdrucksformen zu sein, so sah er sich jetzt mit einem Male zu einer nahezu völligen Umwertung alles dessen genötigt, was ihm seit seiner Universitätszeit vorgeschwebt hatte, als er die in der Lebens- und Staatsform der athenischen Demokratie erreichte Höhe menschlicher Gesittung und Gemeinschaft für den Idealzustand ansah, dem es auch für den deutschen Menschen und seinen Staat nachzutrachten galt. Als ob er selbst durch die revolutionären Vorgänge der Gegenwart und seine eigene Erfahrung mit den Menschen ein anderer geworden, nahm er jetzt die Welt des Griechentums, wie sie sich ihm in den Werken eines Herodot oder Thucydides, eines Plato oder Aristoteles darbot, mit gänzlich anderen, gleichsam geschärften Sinnen in sich auf. Was er bisher am athenischen Staatsgebilde nur als Ausprägung und Vorbild höchsten Menschentums angesehen, erschien ihm nun in vieler Hinsicht unzulänglich und brüchig, und oft ertappte er sich auf der Empfindung, er habe das ideale Streben der edelsten Geister dieses Volkes mit der Erfüllung ihrer Ideale verwechselt. Jetzt erst ging ihm die Erkenntnis vom Wesen der großartigen Hervorbringungen hellenischen Geistes, ja das Geheimnis der Offenbarungen schöpferischen Geistes überhaupt auf, das darin besteht, daß sie zwar nicht ohne Einwirkungen des allgemeinen Lebensstroms ihrer Zeit entstehen können, zugleich aber doch von ihnen unabhängig sind. Gewiß, die Demokratie des hochgebildeten attischen Volkes allein gewährte all diesen Männern: Perikles, Anaxagoras, Plato, Aristoteles, Äschylos, Sophokles und Euripides jene Freiheit, deren der schöpferische Geist bedarf, um sich offenbaren zu können. Sie war der Nährboden für das nahezu wunderbare, fast gleichzeitige Erscheinen so verschiedenartiger Geister, die in Dichtung, Philosophie und Geschichtsschreibung das Höchste erreichten, was der menschliche Geist überhaupt erreicht hat. Aber wie jede Ackerkrume gleichmütig edle und unedle Aussaat in sich aufnimmt und wachsen läßt, so wucherte mit und neben den üppig blühenden edelsten Gewächsen menschlicher Kultur ein so geiles Unkraut gewöhnlichster politischer Triebe aus dem demokratischen Nährboden, daß es nicht erstaunlich war, wenn sich die Edeltriebe oft kaum vor der erstickenden Umarmung dieser aus menschlichen Leidenschaften und Lastern genährten Schlinggewächse zu bewahren vermochten und entweder wie Perikles von ihrem Gifthauch getroffen und geschwächt, wie Thucydides von ihnen verdrängt, oder gar wie Sokrates vergiftet wurden. So enthüllte sich Damian bei seiner nach letzten Einsichten schürfenden Lektüre sowohl die gleichsam magische Formel für jene geheimnisvolle und eigentümliche Verbindung politischer und weltanschaulicher Kräfte oder Ideen, aus der allein sich das eigenartige Phänomen der hellenischen Kultur begreifen läßt, als auch zugleich die ganze Fragwürdigkeit ihre demokratischen Prinzipien.
Was Damian jedoch schier überwältigte, war eine weitere und genau besehen doppelte Erkenntnis, die ihm in diesen durchsonnenen Wochen Schritt für Schritt aufging.
Nicht erst seit seiner Beschäftigung mit der antiken Philosophie, sondern aus einem gewissermaßen blutsmäßigen Denken war er überzeugt, daß der Mensch die Tendenz der Welt sei. Er hatte sich kein anderes Ziel gesetzt, als dieser Tendenz des Menschentums zu leben und einst zu sterben. Seit Sokrates nun ging die Philosophie vom Menschen aus und warf immer wieder die Frage nach der besten Form des Zusammenlebens der Menschen in einer gesitteten, geordneten und gesicherten Gemeinschaft auf. Doch wie soll es den Menschen jemals gelingen, Ordnung um sich zu schaffen, wenn die meisten von ihnen innerlich so ungeordnet sind, daß sich jeder nur an seinem Egoismus in der Welt orientieren will? Nie waren Wahrheit, Gerechtigkeit und reinste Liebe in der Welt der Menschen das Herrschende. Und doch kann dem Menschen nur von seinem reinsten Inneren her jene Macht kommen, die ihn läutert, sein göttliches Wesen ans Licht trägt und diesem Heiligen sowohl im persönlichen wie im öffentlichen Leben eine so mächtige Repräsentation verschafft, daß dadurch, wie Plato sagt, »das hundertköpfige Tier, das mit den Menschen zusammenwohnt, von dem Menschen vollkommen beherrscht werde«.
In diesem idealen Streben, die Menschen von ihren Tierwegen wieder auf hohe, reine Menschenbahnen zu führen, mußten sich die bedeutendsten Geister unter den griechischen Philosophen, Plato und Aristoteles, sowohl mit dem hellenischen Staat, wie er bestand, als auch mit der Frage nach der höchsten Form allen staatlichen Lebens auseinandersetzen. Ihre Idee vom Menschen wie vom Staate – und das war es, was Damian erst jetzt gleichwie in einer intuitiven Zusammenschau ihrer sonst so wesensverschiedenen philosophischen Lehren aufging und was ihn so stark bewegte – setzte eine Revolutionierung des einzelnen Menschen voraus, die Besinnung auf sein wahres, eigentliches Selbst, auf die in seiner göttlichen Seele, also transzendent, begründete Würde seiner Persönlichkeit. Nur so, wenn jeder Mensch sich von der Musik des ewigen Wesens, das in ihm liegt, durchtönen, diese Idee des Göttlichen in sich zum Leitstern seines Daseins werden läßt, kann sich eine echte Gemeinschaft unter den Menschen bilden und zum idealen Staatswesen formen, darin die wahren und höchsten Güter: Wahrhaftigkeit, Recht und aus reinster Liebe tätige Güte, herrschen, deren der Einzelne wie der Staat bedarf.
Alle diese Ideale trug Damian längst in seinem Wesen, sie waren ihm angeboren. Doch nun erst, da sie ihn über zwei Jahrtausende hinweg aus den Schriften der Philosophen anwehten, erkannte er sie in ihrer unabdingbaren Gültigkeit. Und das andere, das sich ihm zugleich erschloß und ihn auf eine seltsame Weise wieder in die Problematik der deutschen Gegenwart zurückführte, war eine Erkenntnis, auf die er wie von ungefähr durch den alten Herodot hingelenkt wurde, in dessen Geschichten er sich zu seiner Entspannung nach der geistigen Beanspruchung beim Durcharbeiten der philosophischen Werke mit Vorliebe täglich irgendein anderes Kapitel aufschlug. Dabei geriet er eines Tages in jenen ihm bisher noch unbekannten Abschnitt, darin Herodot die Beratung der sieben Perser über die beste Regierungsform des Reiches wiedergibt, zu der sie sich nach der Ermordung der Magier zusammenfanden und darin alle Vor- und Nachteile aller möglichen Staatseinrichtungen beleuchtet werden. Hatte er sich bisher noch immer nicht ganz von seiner ursprünglichen demokratischen Überzeugung frei machen können, so mußte er jetzt einsehen daß jeder Prinzipienstreit über die beste Staatsform müßig ist und daß es überhaupt keine Staatsform gibt, die einem Volk das vollkommene dauernde Glück zu bescheren imstande ist. Jede Staatsform hat ihre Vorteile, jede ihre Schatten. Bald überwiegen diese, bald jene. Die schlimmsten Schäden aber, davor konnte er nun nicht länger seine Augen verschließen, werden den Menschen doch durch die Volksherrschaft aufgebürdet. Läßt man das Volk regieren, so treibt es jede Sache, auf die es verfällt, ohne Einsicht, gleich einem reißenden Strom, der wohl Dämme einreißt, aber auch alles Land vernichtend überflutet.
Es galt mithin, und das erwies sich Damian, je tiefer er gleichzeitig in das Gedankengebäude der Philosophen eindrang, immer klarer, daß allein auf dem Wege der Revolutionierung der Menschen selbst, auf dem Wege der Ausprägung ihrer göttlichen Seele, ein Staatswesen erwachsen kann, darin sich Staat und Seele gegenseitig bedingen und befruchten. Und noch ein Weiteres war daraus zu folgern: zu diesem ihrem eigentlichen Erdenziel eines höheren, reineren und tieferen Lebens können die Menschen nur gelangen durch ein ganz individuelles persönliches Leben; wenn sie unaufhörlich bemüht sind, das zu werden, was sie sein könnten, nicht durch das, was jeder besitzend hat, was er sozial gilt, sondern durch das, was er im tiefsten ist, also nicht den äußeren Lebensumständen nach, sondern in der Höhe und Reinheit seiner Charakterwesenheit; mit einem Wort: durch die Ausbildung seiner Persönlichkeit, die nach Goethe das höchste Glück der Erdenkinder ist. Diese Vollendung seiner selbst soll er lieben, dieser heilige Egoismus soll ihn immer erfüllen. Nach diesem heiligen Egoismus, diesem menschengöttlichen Individualismus, dem einzigen, der dem Menschen erlaubt ist, weil seine Verpflichtungen die ganze Welt umfassen, zu handeln und das Leben aufzubauen, bedeutet zugleich den wahren, echten, lebendigen Gemeinschaftsgeist, jene Gesinnung, für die sich dann allerdings der Begriff demokratisch wie von selbst abermals anbietet, und zwar als das Ideal jenes ewigen Menschentums, das Sinn und Maß aller Dinge ist.
*
Indes Damian so inbrünstig in fast eremitenhafter Zurückgezogenheit hinter den Fenstern seines Arbeitszimmers mit seinen Schatten und seinen Engeln rang, stürzten sich draußen in den deutschen Landen die entseelten, rat- und führerlosen Menschen immer tiefer in den chaotischen Taumel ihrer zügellosen Leidenschaften, tanzten nach Niggerart mit rhythmisch zuckenden Gliedern auf den Trümmern der Welt ihrer Väter, feierten Materialismus und Mammonismus trunkene Orgien, brandschatzten Schieber aller Art das ausgeblutete und immer noch hungernde Volk, waren Streiks an der Tagesordnung, fiel der Wert der Papiermark von Tag zu Tag tiefer ins Bodenlose, flehten Fromme hinter Kirchenmauern naiv zu ihrem tauben Gott, flüchteten sich Hysterische in den Spiritismus, liefen politische Toren hetzerischen Demagogen, Arme im Geiste und Wundersüchtige der Fahne irgendeines falschen Propheten nach.
Selbst Wilkau, dieses Wuselstädtchen, das nur deswegen noch nicht an seiner Winkelenge erstickt war, weil es die vielen strahlenden Teichaugen besaß, mit denen es alle Tage und Nächte die Wunder des Himmels und der Erde in sich hineinsaugen konnte, erlag nach seiner revolutionären Ansteckung noch einmal für eine Zeit dem epidemischen Krampf der Nachkriegsmenschheit. Und als sich schon halb Wilkau hemmungslos im Trümmertanz der Inflationszeit drehte, es war im Hochsommer des Jahres 1923, erschien im »Preußenhof« ein Mann, der als glühender Apostel seines Herrn und Meisters seit Monden durch die Lande zog und wußte, daß sein Weizen blühte. Es war ein Jünger jenes religiösen Schwärmers und politischen Phantasten Häusser, den der geheime Zauber, ein geistiger Diktator und Prophet zu sein, umfangen hielt, der allerorten mit Gesetz und Polizei in Konflikt geriet und sich zu jener Zeit als Märtyrer zum Objekt einer weitverbreiteten Teilnahme emporzuschwingen verstand.
Häussers ganzes Auftreten kann nur vom psychologischen Standpunkt aus beurteilt werden. Der Zickzackkurs seiner, ewige Wahrheiten und ewige Irrtümer miteinander verwirrenden Reden kennzeichnete ihn als einen Menschen, dem die Einheitlichkeit des Denkens fehlte. Seine ganze sittliche Entrüstung, auch die gemachte, stammte einzig und allein aus den zu jener Zeit bestehenden, seinem Ideal völlig widerstrebenden sozialen, geistigen und sittlichen Verhältnissen. An ihnen entzündete sich sein Widerspruchsgeist, den er in der Öffentlichkeit durch demagogische Ansprachen und Beschimpfungen der neuen republikanischen Staatsform und ihrer Maßnahmen kundgab, um damit zugleich für seine christlich-radikale Volkspartei zu werben, der er nicht als Partei, sondern als einer Volksbewegung durch die Wahlen zum Reichstag eines Tages die Macht und die Führung im Staate zu erobern willens war.
Häusser gründete sein Verhalten aber noch auf etwas anderes Wesentliches: auf Selbstbespiegelung, auf eine fast krankhafte Selbstvergottung, so daß er die Bibel zum Beweis seiner göttlichen Sendung herbeizog und sich unbedenklich neben Jesus Christus stellte als die Reinkarnation des Sohnes Gottes in dieser »dreimal verfluchten Zeit der losen Weiberunterröcke, der Arbeiter, die durch ihre Faulheit das Volk bestehlen und nun, da sie die Macht in den Händen haben, sich aller Laster ergeben, die sie ehedem an den Reichen verdammten«. Schwindelhaft versprach er die Errettung Deutschlands aus der Schande des Versailler Vertrags und der ganzen Menschheit aus dem klaftertiefen Schmutz ihrer Kulturschande, die sie allein in ihrer Schwachheit nicht lösen könne. »Mein hoher, gebenedeiter Vorgänger, Jesus von Nazareth«, so pflegte Häusser auszurufen, »hat seine Jünger ermahnt, das Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. O Gott, wie bald verschwand das dreimal heilige Licht in der Dunkelheit der Irrlehren der Pfaffen, einer lasterhaften Priesterschaft verblendeter oder blindgewordener Völker. Ich allein bin berufen, dem ewigen wahren Licht den Scheffel der Jahrhunderte wegzuheben, damit sein Strahlen jede Falschheit und Bosheit verjage, jede Gemeinheit und Niedertracht.«
Die Rätsel des Daseins, die Not des Lebens, Armut, Enttäuschung, Feindseligkeit aller gegen alle, nötigten die Menschen jener Zeit mehr noch als je zuvor dazu, sich eine Idealwelt zu ersehnen, die ihnen Trost und Frieden bringen konnte. Tritt solchen Menschen, die nach Befreiung und Erlösung lechzen, eine rührige, zur Aktivität veranlagte, sich der Idealwelt ihrer Wünsche nähernde Persönlichkeit in den Weg, so ist in allen Notzeiten die Bedingung für die Schaffung eines Messias oder Erlösers gegeben. Also erklärte sich auch das Werden Häussers zum »Volksbeglücker«, der Zulauf, den er und seine Jünger, als die sich zeitweilig Angehörige der verschiedensten Stände bekannten, in den Jahren der tiefsten Ohnmacht und Erniedrigung der deutschen Menschen vorübergehend fanden.
So also predigte auch der in Wilkau eingetroffene Apostel Häussers namens Zschörlich eines Abends in der lange vorher angekündigten und überlaufenen Werbeversammlung im »Preußenhof« über die Ziele seines gottbegnadeten Meisters und Propheten.
Auch Damian Maechler hatte sich zu dieser Veranstaltung eingefunden, um die Gelegenheit wahrzunehmen, sich selbst einmal ein Urteil über diese damals so heftig umstrittene und möglicherweise ernst zu nehmende neue Bewegung zu bilden.
Er sah sich einem kleinen Menschen mit einer Stimme gegenüber, die sanft und verlockend begann, sich aber immer mehr, zuletzt zu einer solchen Macht steigerte, daß sie nicht aus diesem zerbrechlichen Menschen zu stammen schien, sondern wie die rätselhafte Offenbarung eines übernatürlichen Geheimnisses wirkte.
Nach der mit frenetischem Beifall aufgenommenen Rede Zschörlichs erhob sich, als der fanatische kleine Mann im Gefühl der Sieghaftigkeit seiner zündenden Ansprache seine Bereitschaft verkündete, den etwa vorhandenen Wunsch nach einer Diskussion zu erfüllen, aus den Reihen der Zuhörer ein ungewöhnlich großer, würdig aussehender Herr, dessen Gesicht ein mächtiger, weißlicher Vollbart umrahmte. Er gab kurz seine Absicht kund, Stellung zu den Ausführungen des Redners zu nehmen, und schritt dann gemessen und doch so entschlossen nach vorn, daß sich der kleine überraschte Häusserapostel nicht getraute, ihm das Rednerpult streitig zu machen.
Jetzt erst ging es Damian auf, und sein letzter Zweifel schwand angesichts der furchtbaren Säbelnarbe, die schräg über die Stirn dieses ehrwürdigen Antlitzes gehauen war, daß dies kein anderer als Franz Faber war, der Dichterphilosoph und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, dessen Bildnis sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatte, seit er es vor langen Monaten in seiner Zeitschrift betrachten konnte.
Bald hatte Damian völlig vergessen, wo er sich befand, so zogen ihn schon die ersten Sätze dieses Mannes in den Bann, der auf ihn gleich einem gütigen Menschenvater wirkte.
Franz Faber aber sprach:
»Der Mann, den Sie eben angehört haben, oder vielmehr jener, in dessen Namen und Geist er zu uns gesprochen, ruft die Jahrhunderte und die Zeit als Kronzeugen seiner angeblichen Wahrheiten an. Wer aber das tut, den schlagen die Jahrhunderte und die Zeit tot. Er will uns zweierlei einhämmern, was wir als Tatsachen hinnehmen und glauben sollen: erstens, daß die Menschen nur dann wieder ihr Heil finden könnten, wenn sie in ihrem Denken wie in ihrem Handeln sich ausschließlich von den Offenbarungen der Bibel und den Lehren der christlichen Kirche leiten ließen; und zweitens, daß allein die Umstände der Zeit für die Verderbnis der Menschen ausschlaggebend seien.
Reden wir doch einmal unerschrockenen Ernstes über die Bibel und das Christentum!
Wer von uns bringt es denn noch tatsächlich über sich, buchstäblich an die biblische Erschaffung der Welt, an das Paradies, den Sündenfall, den Stammbaum Jesu, seinen Erlösertod, an die Bibel als Ergebnis der wörtlich geoffenbarten Stimme Gottes oder an seine Dreipersönlichkeit zu glauben? Wir haben die Fragwürdigkeit der meisten sogenannten historischen Beweisstücke dafür durchschaut und lassen andere nur noch als Symbole gelten. Wir verstehen unter Christentum etwas ganz anderes wie das Mittelalter oder die heutigen Kirchen. Ist dieses Christentum nicht in Wahrheit längst gestorben? Lebt es nicht nur noch scheinbar innerhalb der Kirchenmauern fort? Außerhalb derselben, in den Beziehungen der christlichen Völker zueinander ist vom Christentum doch nichts mehr zu spüren, vor allem seit diesem Weltkrieg. Stellte er nicht die blutigste Ironie auf den Wert der christlichen Erziehungsarbeit der christlichen Kirchen an der Menschheit dar? Gerade die christlichen Völker der Erde zerfleischten sich nach jahrhundertelangem Heilsgenuß in einer Bestialität, die jede erdenkliche Grausamkeit heidnischer Zeiten weit, weit hinter sich läßt. Und man sage mir nicht, daß die Kirchen nicht die Macht gehabt hätten, diesem Blutgericht, das sich die Völker bereiteten, entgegenzutreten! Der Papst, die Bischöfe, die Kirchenkonsistorien, die heiligen Synoden durften nur jedem Kämpfer die Heilsmittel der Gemeinschaft verweigern, dann wäre es wie ein Ruck durch die Welt gegangen. Millionen erhobener Arme wären erschrocken herabgesunken, und der Weltkrieg wäre in eine allgemeine Christenverfolgung umgeschlagen, aus der die alte Institution siegreich im neuen Glänze sich erhoben hätte.
Aus politischen Nützlichkeitserwägungen hat man einen Widerstand nicht gewagt, der im innersten Wesen der Lehre Jesu begründet gewesen wäre, die alle christlichen Kirchen vorgeben zu verkünden. Nun ist es vorbei. Wer läuft denn heute wieder in die Kirchen? Nur Lebensratlose sind es, zu Tode Erschrockene, denen tatsächlich das Haus über dem Kopfe zusammengestürzt ist, und die in der allgemeinen chaotischen Umwälzung Unterstand in einer Institution suchen, die, rein äußerlich, noch in der alten Festigkeit dasteht. Sie haben eine wahre Inbrunst danach, den Wahn ihres verlorenen Glaubens im sinnlichen Genuß der alten Zeremonien zu erleben, als sei es noch die Wahrheit ihres wahren Glaubens. Diese geistig Verdatterten nennen ihre Angst Einkehr, ihre Lebensfurcht Reue, ihre Selbstsuggestion Überzeugung. Sobald einmal wieder gesicherte wirtschaftliche, soziale und politische Zustände eintreten, werden diese Verscheuchten die alte, ehrwürdige Notunterkunft wieder verlassen, und die Kirchen werden leerer stehen als vor dem Kriege.
Die ernsten Menschen der ganzen Erde aber wissen, daß es dem Jesus von Nazareth, den man den Christus nennt, nicht eingefallen ist, eine Kirche zu gründen. Sie wissen, daß das Wissen dieses mythischen Mannes in dem Feuerbrand eines Idealismus beruhte, der die Forderungen des Individualismus so reinigte und erhöhte, daß sie zu Geboten Gottes wurden, dem er sich in der Blutsnähe eines Sohnes fühlte, und der die Verpflichtung gegen jede andere als diese überirdische Bindung leidenschaftlich ablehnte, verfluchte und verfolgte, mochten diese Fesseln nun ehrwürdige geschichtliche Überlieferungen, geheiligte Gebote der Kirche oder Menschengemeinschaft heißen. Der Mann von Nazareth, der sich als Brand in das Leben geschickt vorkam, der statt des Friedens Kampf und Feindschaft bis in den heiligen Bezirk der Familien zu tragen für seine Aufgabe hielt und nicht davor zurückschreckte, gegen die Offenbarungen der Bibel alle überirdische Sicherheit, allen himmlischen Lohn und göttlichen Wesensgenuß in das Innere des Menschen zu verlegen und die Beziehungen zum Staat zu einer Forderung der Lebensklugheit zu beschränken: er erkannte die dem Menschen eingeborene Heiligkeit wie Laotse und Buddha vor ihm, und die Kirche, die seinen Namen an der Stirnseite ihres Tempels trägt, vollzog und vollzieht noch heute das Geschäft des Dostojewskischen Großinquisitors gegen seine Lehre und Person. Weil es ihrem imperialistischen Instinkt widersprach, unterdrückte sie jenes Wort des Mannes von Nazareth, das allen Menschen der Vor- und Nachzeit aus der Seele gesprochen ist: ›Das Himmelreich ist in euch selbst‹, eine Erkenntnis, die das Blut ebenso der Lehre Buddhas wie Laotses ist, und vor der sich Emerson und Kant in Ehrfurcht verneigen. Das wissen die ernsten Menschen, und sie sind am Werk, das Gottesgnadentum jedes Menschen zu verkünden.
Bis jetzt waren die Völker eine Angelegenheit der Kirche. Nun wird diese eine Angelegenheit des Volkes in einem tieferen, menschengöttlichen Sinn werden. Die scholastischen Spitzfindigkeiten der Mönche sind nicht mehr Religion. Wir lassen uns das Mysterium der Mutterschaft nicht mehr verzerren durch die Lehre von Marias unbefleckter Empfängnis, das hohe Gottestum der Menschen nicht mehr bestreiten durch die blasphemische Behauptung der einzigen persönlichen Gottessohnschaft Jesu. Die Erziehung der Menschengeschlechter durch Gott, die Begründung der Heilswahrheiten durch rabulistische Geschichtskünste ist ein pharisäischer Wahn.
Welches Paradies aber wird sich dem Menschen erschließen, der erkannt hat, daß das Jenseits nicht ein Außerhalb der Welt, ein Himmel droben für die Gerechten, ein Fegefeuer drunten für die Ungerechten, sondern für einen jeden, ja ich sage es: für einen jeden sein himmlisches Innere ist, in das er jeden Augenblick durch jedes rechte Wort, jede lebensfördernde Tat, durch jeden wahrhaft tiefen Gedanken der Güte gelangen kann. Wir sind nie erlöst worden und brauchen es nie zu werden. Denn wir tragen von Anbeginn in uns den Brunnen aller Wahrheit, das Arsenal aller Erkenntnis, das Licht aller Weisheit, die Unermeßlichkeit des Weltalls, alle Glut der Sonnen, alle Dinge und Wesen der Erde, das Spiel aller Zeiten, den Gesang und die Schönheit der Ewigkeit. In jedem Augenblick steigt Gott auf die Erde, in jedem Augenblick vergeht und entsteht das Weltall. Jedes Wesen, jeder Vorgang der Natur, die Einrichtung der Staaten und Kirchen, die Schöpfungen unserer Kunst, die Sprüche unserer Weisheit, ja selbst unser eigener Geist, der wie ein buntes, immer bewegtes Tuch vor uns schwebt, alles, alles ist uns ein Sinnbild des wahren Wesens unserer Tiefe, unserer Seele.
Hat dir jemals einer sein lebendiges Auge schenken können, damit du dich seiner beim Sehen bedientest, seine Stimme, daß du damit redest, sein Ohr, damit zu hören? Die Kraft deiner Beine bestimmt den Umfang deiner Unternehmungen, dein Magen ernährt dich, deine Lunge erhält oder tötet dich, dein Herz allein macht dich froh oder traurig. Jeder Mensch ist die Kugel, die aus sich selber rollt. Wohin sie auch ihren Lauf nimmt. Es ist gleich. Sie rollt dahin, woher sie ihren Anfang nahm, zurück in Gott, wie alle Flüsse der Erde, wohin sie immer ihren Lauf nehmen mögen, an dieselbe Stelle gelangen, nämlich in das Meer. Glaube nie an die Erlösung durch einen Mittler! Dies ist die größte Sünde, die dir niemals von deinem Gott vergeben werden kann, denn es ist die Sünde wider deinen heiligen Geist. Alle die Lehren, die zu dir sprechen, sind wie das Brot oder die Frucht, die sich dir zur Nahrung anbietet. Wenn es als Kraft und Süße in dich eingehen soll, so mußt du es mit den Zähnen zermalmen und mit deinem Magen zerreiben, also vernichten.
Und ein Letztes ist noch zu sagen, was daraus folgt: Die Unveränderlichkeit und Einzigartigkeit jedes Wesens. Millionen sind im Weltkrieg gefallen, jeder ist einen anderen Tod gestorben. Millionen haben das Grauen derselben wochenlangen Schlacht erlebt, nicht einer hat dasselbe erfahren. Dasselbe Lied, das hundert anhören, weckt hundert voneinander ganz verschiedene Empfindungen und greift auf hundertmal andere Weise in das Gedanken- und Lebensgetriebe ein. Doch deine Grenzen weiß niemand als du, und es kann kommen, daß das, was die anderen dir als Sieg anrechnen, von dir als Niederlage empfunden wird, daß die Erfüllungen in den Augen anderer deine Zerstörungen sind, aber dein Scheitern dein Aufstieg wird. Darum ist Herrschaft des einen über den anderen ein Verbrechen und eine Torheit zugleich. Wir alle sind Könige, die sich verschieden kleiden. Durch das Unrecht, das wir dem anderen zufügen, entehren wir uns selbst.
Alles das aber sage ich euch nur in dem Sinne, daß jeder Mensch durch seine Tage und Jahre, seine Geschäfte und Lebensalter, seinen Glauben und Willen, seine Sehnsucht und nie endende Unruhe einem engen Zugang zu seinem eigenen Wesen gleicht, wo es Zeit nicht gibt noch Geburt, Tod, Jugend und Alter. Das aber ist in allen gleich. Es kann durch Wissenschaft nicht vermehrt werden. Kein Reichtum macht es kostbarer, keine Armut geringer. Gold hat vor ihm den Wert von Schmutz. Und noch alle deine Tugenden gleichen nackten, frierenden, hungernden Kindern, die an das Tor eines Schlosses pochen und um Einlaß betteln.
Wer also, frage ich zum Schluß, ist schuld an den Nöten der Zeit, an den Nöten unserer Seele? Wir allein sind schuld, du und du! Aus den Menschen entstehen alle Übel, von denen sie gepeinigt werden, die Scheußlichkeiten der Päpste, die blutigen Ketzerkriege, das dreißigjährige Schlachthaus, das Deutschland an den Rand der Zerstörung brachte, und der fluchwürdige Menschheitsvernichtungsrausch des Weltkriegs mit dem Wahnsinn des Tanzes über seinen Trümmerstätten.
Nicht die Umstände machen den Menschen, sondern allein der Mensch macht sie, er allein, nur er. Er ist verantwortlich für sein Schicksal, denn nicht im Geist beruht sein tiefstes Wesen. Dieses Wesen ist aus Gott. Dem herrlichsten Christen, den es je gegeben hat, dem deutschen Denk- und Lebensmeister Eckehart, ist die Gnade der Erkenntnis geschenkt worden, daß der Seelengrund des Menschen zugleich der Gottesgrund ist. Über alles in der Welt seid ihr in eurer Seele, sogar noch über das, was ihr euer ›Ich‹ nennt, das in diesem Dasein flackert wie ein Licht, das wie das Gras auf dem Felde ist, das heute grün ist und blüht und morgen gesichelt wird und verwelkt.
Nur auf diesem Wege der Seele, den ich euch wies, werden wir auch zur Selbstverantwortung jedes einzelnen gelangen und damit zu dem neuen Staat einer neuen, vertieften Demokratie. Es ist nicht der Weg einer fatalistischen Glaubensschwärmerei, sondern der des reinen umsichtigen Wirkens. Aus diesem Geiste heraus ist das einzige Ziel des Staates der Mensch und das Ziel der Menschen der Staat als höchste nationale Vollkommenheit ihres Persönlichkeitsbegriffes. Der Durchbruch dieser Erkenntnis aber wird auch der Beginn des Aufstieges unseres Vaterlandes sein!«
So sprach Franz Faber zu der Versammlung im »Preußenhof«, die ihm bis zum Schluß ebenso gebannt lauschte wie Damian und noch in betretenem Schweigen verharrte, als er nach einer gemessenen Verneigung vor ihr. das Rednerpult verließ, gleich einem ehrwürdigen Patriarchen die Reihen entlang und ohne weiteres zur Ausgangstür schritt, durch die er verschwand.
Dies beobachten, sich erheben und ihm folgen, so rasch er sich von seinem Mittelplatz aus zwischen den engen und voll besetzten Stuhlreihen hindurchwinden konnte, war für Damian eins; und nicht einmal dem hilflosen und verdatterten Apostel gönnte er noch einen Blick.
In der Garderobe konnte man ihm zu seiner Enttäuschung nichts anderes sagen, als daß der würdige Herr mit dem großen Bart, der eben aus dem Saal gekommen, unverweilt und barhäuptig in die Nacht hinausgeschritten sei.
Erst als Damian auf den Schloßplatz hinaustrat, der unter einem wolkenbedeckten Himmel in völliger Dunkelheit lag, wurde ihm klar, daß es nicht nur sinnlos gewesen wäre, jetzt noch Franz Faber nacheilen zu wollen, sondern auch undenkbar, ihn mitten in der Nacht auf der Straße anzusprechen, selbst wenn er seiner noch habhaft geworden wäre.
Also machte sich Damian resigniert auf den Heimweg, jedoch entschlossen, anderen Tages auszukundschaften, wo Franz Faber sich in Wilkau aufhalte.
Im Gerberhaus angelangt, berichtete er Sessi und Mutter Christel, die seine Rückkehr abgewartet hatten, aufgewühlt wie er war, sogleich von dem tiefen Erlebnis, das ihm widerfahren. Wenn er mit einiger Aussicht auf Erfolg nach Faber forschen wolle, meinte Mutter Christel, so würde er sich am ehesten auf dem Gemeindeamt durch Einsicht in die Kurlisten Gewißheit verschaffen können. Denn sie nähme an, daß Faber Wilkau zum Kurgebrauch aufgesucht habe.
Als Damian am anderen Vormittag, diesem Ratschlag folgend, Einblick in die Listen nahm, konnte er zu seiner nicht gerade reinen Freude zwar feststellen, daß Franz Faber schon seit fast drei Wochen im »Greif« logiere, mußte dort aber, und nun völlig konsterniert, erfahren, daß Franz Faber heute morgen mit einem der ersten Straßenbahnwagen Wilkau endgültig verlassen habe. Auf seine Frage, mit welchem Ziel er abgereist sei, erfuhr er, daß er darüber nichts Näheres geäußert, doch hinterlassen habe, daß Briefe, die für ihn bestimmt wären, ihn jederzeit durch seinen Freund Andreas Sintlinger in Hemsterhus/Westfalen erreichen würden.
Tief enttäuscht kehrte Damian nach Hause zurück. Aber als er wieder oben in seiner Studierstube saß, spürte er, wie das Gefühl der Enttäuschung darüber, daß es ihm versagt geblieben war, Franz Faber persönlich gegenüberzutreten, allmählich von ihm wich, bis ihn schließlich nur noch ein unsägliches Glücksempfinden erfüllte, das sich wie ein kristallreiner Strom von Müdigkeit, Güte und Wahrhaftigkeit in seine Seele ergoß, ihn von Tag zu Tag stärker verwandelte und gleichsam dem Lichtreich ewiger Sphären entgegentrug.
Im Lichte dieser seiner letzten Verwandlung, während der er, von der Weisheit Fabers geleitet, dessen Schriften er sich nun unverzüglich kommen ließ, und auch nicht versäumte, Sessi allabendlich Schritt für Schritt darin einzuweihen, der lautersten und freiesten Form des Menschendaseins zugeführt wurde, fand er den Mut, Franz Faber zu schreiben, um ihm für das Erlebnis und die Offenbarungen jenes Abends zu danken, die ihm nunmehr erst seine Werke ganz erschlössen, und denen er allezeit seines bewußten Lebens nachgetrachtet habe. Sollte ihm eine Antwort auf diese Zeilen beschieden sein, so bitte er darum, einiges über Fabers äußere Lebensumstände in dieser chaotischen Zeit erfahren zu dürfen.
Bald ließ sich Damian so sehr von dem aus Franz Fabers Werken auf ihn überspringenden neuen Lebensgefühl und seiner Denkweise leiten, daß er dazu überging, ein kleines Gedicht, das er in Fabers gedankentiefer Lyrik fand, und das dieser als »Das Tischgebet meines Hauses« bezeichnete, vor jeder Mahlzeit als Besinnung laut vor sich hinzusprechen:
»Möge mich auch diese Speise
Stärken auf der Lebensreise,
Mög' sie werden gutes Sinnen,
Wahres Reden und Beginnen.
Kraft im Glücke und im Schmerz,
Wache Seele, frohes Herz,
Daß ich alle meine Zeit
Lebe in der Ewigkeit.«
Nun stiegen Zeiten wahrer Erfüllung über das Maechlerhaus in der kleinen Feldgasse, mochten auch die Menschen auf den weiten Straßen im deutschen Land noch immer leidend durch das Purgatorium ihrer verschütteten Seelen irren. Die Schatten aus dem Leben ihrer Eltern wie aus ihrem eigenen waren für Sessi und Damian wie weggestrichen von der wieder himmelslicht gewordenen Wand ihres Daseins. Und als Sessi um diese Zeit gewahrte, daß sie durch des Höchsten Gnade gewürdigt sei, ein neues Leben auszutragen, lösten sich von ihr auch diese letzten verblaßten Schemen jener grausamen Verstrickung, deren unbarmherzige Arme ihr sogar ihr schuldloses Kind entrissen hatten, vor Zeiten, an die sie sich jetzt nur noch wie an einen längst versunkenen schweren Traum erinnerte.
Doch noch einmal geschah es Damian, daß ihn das Leben, fast könnte man sagen hinterrücks, überfiel, und damit zugleich auch in seiner eben erst erworbenen Souveränität über das Menschendasein bedrohte.
Als der Wilkauer Gemeindevorsteher unvermutet von der im Winter jenes Jahres wie überall so auch in Wilkau grassierenden Lungengrippe hingerafft wurde, trat man an Damian heran, in der Hoffnung, in ihm seinen Nachfolger finden zu können. Allein Damian gedachte sich nur noch seiner Wissenschaft und dem Ziel seiner Dozentur zu widmen und war auch schon wieder viel zu tief in die Arbeit an seinem Manuskript versponnen, als daß er sich auch nur eine Minute bedacht hätte, das Ansinnen höflich, aber bestimmt abzulehnen.
Schon kurze Zeit danach – man war aus Verlegenheit auf den inzwischen nahezu steinalt gewordenen, aber immer noch betriebsamen Vater Reinhard Neefes, den ehemaligen Grubeninspektor als Amtsvorsteher verfallen – bekam Damian den neuen widrigen Wind, der von der Gemeinde zum Maechlerhaus herüberwehte, in Gestalt eines Gemeinderatsbeschlusses zu spüren. Danach wurde ihm ab 1. Januar 1924 das einst seinem Großvater Nathanael und seinen Nachkommen zu immerwährendem Nießbrauch überlassene Gartengrundstück, der sogenannte Berggarten, aufgekündigt, da es die Gemeinde angesichts der Armut der Arbeiterbevölkerung dieser zur Errichtung von Schrebergärten zur Verfügung stellen wolle.
Damian glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er das Schriftstück las, darin ihm dieser Beschluß mitgeteilt wurde. Denn niemals hatte er daran gezweifelt und auch von seinem Väter nie etwas anderes gehört, als daß der Berggarten dem Großvater zum Dank für sein Wirken als Gemeindevorsteher nach der Errichtung des Wasserwerkes von den Wilkauern geschenkt worden war. Darum erhob er unverzüglich Einspruch gegen diesen seiner Ansicht nach der tatsächlichen Rechtslage hohnsprechenden und also von vornherein hinfälligen Ratsbeschluß, mußte sich aber durch seinen Anwalt schon bald darüber belehren lassen, daß die guten Wilkauer damals, vor mehr als fünfundfünfzig Jahren, vergessen hatten, die Bodenparzelle als Gemeindeeigentum im Grundbuch löschen und auf Nathanael Maechler übertragen zu lassen. Allerdings seien die Aussichten, auf dem Prozeßwege eine Aufhebung des Ratsbeschlusses zu erreichen, trotzdem nicht ungünstig, da es sich nach den vorhandenen Unterlagen zweifellos um eine Schenkung nicht nur für Nathanael, sondern auch für seine Nachkommen handeln sollte, so daß also eine fahrlässige Unterlassung vorläge. Überdies sei noch der Einwand möglich, daß das Grundstück doch kraft Gewohnheitsrecht bereits ins Eigentum der Maechlerfamilie übergegangen sei.
Damian wußte genau, daß nur die alte, solange zur Ohnmacht verurteilte Feindschaft Neefes gegen seinen Vater hinter diesem Ratsbeschluß stand. Gerade deshalb fühlte er sich tagelang versucht, den Prozeßweg zu beschreiten. Auch Mutter Christel schürte, von der Hinterhältigkeit Neefes aufs äußerste empört, das Feuer, das der Anwalt durch seine Darlegungen im Maechlerhaus entzündet hatte. Doch als Damian am Vorabend des Tages, auf den schon der erste Termin anberaumt war, vor Erregung nicht einschlafen konnte und seine Zuflucht, wie schon sooft in seinem Leben, zu dem alten Maechlergebet nahm, geschah es ihm, daß die ehrwürdigen Verse auf merkwürdige Weise in die des Faberschen Tischgebets übergingen, so daß sie ihm so über die Lippen glitten:
»Laß mich, wenn ich hier geschlafen,
Wieder gehen meine Straßen.
Schicke mir durch meinen Fleiß,
Was bei dir steht hoch im Preis:
Kraft im Glücke und im Schmerz,
Wache Seele, frohes Herz,
Daß ich alle meine Zeit
Lebe in der Ewigkeit.«
Zuerst war Damian richtig betroffen, als er sich auf dieser Verwirrung seines Geistes ertappte, dann aber richtete er sich mit einem Ruck in seinem Bette hoch und sprach zu Sessi herüber:
»Nein, liebste Frau! Nun ist es entschieden. Ich prozessiere nicht. Sollen die Wilkauer Armen ihre Schrebergärten bekommen und Neefe seine späte Rache. Über alles in der Welt sind wir in unserer Seele.«
Schon am zeitigen anderen Morgen sorgte Damian für die Aufhebung des Termins.
Als er zum Frühstück zurückkam, fand er einen Brief Franz Fabers auf seinem Platze. Er schrieb ihm aus Bochholt in Westfalen:
»Mein lieber junger Freund!
Meine zeitlichen Lebensumstände, nach denen Sie mich fragen, sind ohne Belang. Denn Zeit ist gleich Ewigkeit und Ewigkeit gleich Zeit. Dieses Wissen ist das Geheimnis unseres Lebens wie das unseres Schicksals, und nur der, dem es sich ganz entschleiert hat, wird sein Dasein sinnvoll leben und zu den Tiefen seiner Wesenheit zurückfinden können. Und aus diesem Wissen ist mir auch mein Werk, mein Leben geworden. Welcher Knechtschaft wäre ich verfallen, diente mein Leben nur meinem Werk. Die Geheimnisse meines Lebens reden meine Werke. Sinne oder dichte ich, verwandelt sich mir die Welt. Dennoch ringe ich noch immer um den Dunklen, Ewigen. Wir Menschen dürfen auch gar nicht wollen, daß er sich uns ganz enthülle. Denn dann stürbe das, was unsere Tage bewegt: Sehnsucht im Suchen, Glück im Finden und Traurigkeit, wenn es sich uns von neuem entwindet. Also türme ich mein Leben ins All und begnüge mich zu wissen, daß ich, obwohl ich nur ein Schrei auf einem Felsen bin, der um Mitternacht für einen Augenblick erwacht, in meinem Wesen ewig bin.
Doch da wir uns nur in Taten zum Höchsten erlösen können, was uns an irdischem Glück beschieden ist, wandere ich durch die deutschen Lande und predige den Menschen, wo immer ihre Seelen in tiefer Not und das Bewußtsein ihrer Verantwortung für den Bruder neben sich in Gefahr, wie gerade jetzt vor Bergarbeitern im besetzten Ruhrgebiet, von dem ewigen Wesen, das wir zutiefst sind, und von der einzigen wahren Menschengesinnung, aus der allein unserem gepeinigten Vaterland seine sittliche Wiedergeburt kommen kann.
Empfangen Sie meinen Dank für Ihre gütigen Worte durch einige Verse, die sich mir in diesen letzten Tagen als ›Letzte Erkenntnis‹ formten:
Das Göttlichste am Menschen ist die Kraft,
Die Schöpfung sich ein zweites Mal zu schaffen.
Drum soll sich heiligen jeder, welcher denkt
Und spricht und wirkt, damit in allem so,
Was von ihm geht, Gott wohnt, wie in den Dingen
Das Heiligformende sich selber bildet.
Zum Segen wird ihm alles dann, weil er
Auf diese Weise lebend schon zu Gott
Sich wiederkehrt, in dem er steht. Doch jeder,
Des Leben von der Brunst der Eigensucht
Beschattet wurde, ruht in Finsternis,
Saß' er auf Thronen, geht, geschmückt, in Lumpen,
Darbt bei dem Reichtum und ist Knecht als Herrscher.
Er nützt sich ab wie Räder auf dem Pflaster,
Und schwindet er als achtzigjähriger Greis,
Ist's nur, als hätt' er einen Augenblick
Nutzlos gelehnt an eines Schlosses Tür.
Wir Menschen aber sollen doch das All
Glückvoll besitzen in schuldloser Freude.
Drum öffnet angelweit die Brust wie ich,
Nennt nicht Parteilichkeit des Herzens Liebe,
Helft Mühevollen ohne Gabenstolz,
Erniedrigt euch durch Haß und Rachsucht nicht,
Und wißt, daß, wer den andern fesselt, selbst
Sich an die Kette schmiedet ins Gefängnis.
Macht weit das Herz wie Gottes Weltallshalle
Und richtet euch, doch keinen auf der Erde!
Ich will auf Höhen sterben und im Licht,
Nicht winseln, wenn der Tod mich anfaßt, sondern
Erhobnen Haupts und selig durch ihn schreiten.
Denn ganz gehör' ich dann den sel'gen Weiten,
Von denen nur ein schwacher Schimmer fällt
Durchs bunte Formenfenster dieser Welt.
Immer Ihr
Franz Faber.«
Ende