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Vierzehntes Kapitel

Die Hitze, die seit Wochen das Rehberger Tal ausgedörrt hatte, war zu einer unerträglichen, drohenden Schwüle angewachsen. Die Gassen Wilkaus wurden von ihr mit einer Glut angefüllt, die in dem dumpfen Licht der dunstig untergehenden Sonne flimmerte und kaum zu atmen war. Auf den Dächern lag sie wie eine Last. Das Riesengebirge stand fast schwarz und reckte seine Gipfel wie in verbissener Wucht in die regungslose Luft. Die Schneekoppe schien in ihr zu zittern, und hinter dem Kamm schob sich eine mächtige Wand, die schwefelgelb kochte, in den schiefergrauen Himmel, der sich vor Erschöpfung kaum mehr in der Höhe erhalten konnte. Leute standen in unruhigen Gruppen vor den Häusern und sprachen lebhaft und sorgenvoll gestikulierend aufeinander ein. Da und dort rief man Maechler zu, lieber wieder nach Hause zu gehen, denn heute gebe es ein ordentliches Wetter. Aber die Stimmen, die ihn trafen, waren gespenstisch klanglos, wie ausgesogen, so daß er kaum verstand, was ihm zugerufen wurde. Mit erzwungenem Lächeln winkte er ab, achtete kaum auf etwas anderes und eilte weiter. Immerfort klangen die zornbebenden Worte Lottes in ihm: Machen Sie Schluß!

Das wollte er schon machen. Allein, aus sich selber sollte das kommen, jetzt gleich; aber ordentlich, daß es die Wilkauer nicht vergessen würden.

Als er über den Schloßplatz ging, schlug es von den beiden Kirchtürmen die achte Stunde. Die Töne klangen undeutlich, als würden sie mit Klöpfeln von Watte aus den Glocken gehämmert. Dieser Klang der Türme, der auch von weitem her, gleichsam aus einer außerweltlichen Gespensterstube zu kommen schien, machte Maechler unsicher, daß er nicht sofort in den Saal hinaufging, sondern nicht weit von dem Eingang zum »Braunen Hirschen« stehenblieb, weil es ihm plötzlich zwingend war, daß er jemand erwarten müsse. Wen, wußte er nicht. Da fiel es ihm ein. Als er vorhin am Hotel »Preußische Krone« vorüberging, war es ihm doch gewesen, als klopfe jemand an die Scheiben, und als er hinübersah, erschien ein großes, blau angelaufenes Männergesicht und nickte ihm zu. Das war doch das Gesicht des Kreisbaumeisters Mulvert gewesen, mit dem er einst bei dem Gemeindevorsteher Schlicker in der Straßenbauangelegenheit zusammengetroffen war. Allein, da er jetzt, unruhig auf und ab gehend, sich das Gesicht vorstellte, das hinter der Fensterscheibe des Hotels nach ihm hingesehen hatte, glaubte er sich zu erinnern, daß dies gar nicht Mulvert gewesen sein konnte, obwohl bekannt war, daß der Kreisbaumeister alle seine auswärtigen Geschäfte mit einer ordentlichen Ladung Rotwein einzuleiten pflegte. Nein, dieses blauüberlaufene Gesicht hatte die Züge Wennrichs getragen, und ehe es sich wieder vom Fenster in die Stube zurückgezogen hatte, war es totenähnlich erstarrt. Gerade als in Maechler die Erwägung aufstieg, der Sicherheit halber schnell noch einmal auf die Feldgasse zu laufen und nach dem Rechten zu sehen, wurde über ihm im »Braunen Hirschen« ein Fenster geöffnet, und Schlickers verquollene Stimme rief dringend seinen Namen.

Zögernd stieg Maechler die alte, gewundene Holztreppe hinauf. In dem schon ziemlich eingedunkelten Saale saßen höchstens dreißig bis vierzig Männer mit gesenkten Köpfen ganz still und hörten auf den Gemeindevorsteher Schlicker, der den Fenstern gegenüber an der Hinterwand saß und beim Licht von zwei Kerzen mit seiner fetten, undeutlichen Stimme die Verfügung der Kreisverwaltung vorlas. Maechler war leise eingetreten. Trotzdem unterbrach sich Schlicker und winkte den Gerber energisch in seine Nähe. Beim Hinzutreten sah Maechler auf einem der letzten Stühle, nahe an der Tür, abgesondert von allen, den Schlosser Neefe sitzen. Also doch, fuhr es Maechler durch den Kopf, aber ohne jeden Groll. Beim Vorübergehen hob Neefe, der wie ein umgefallenes Fuder auf dem Stuhle saß, den Kopf zu ihm empor, daß sein Gesicht deutlich zu sehen war, das in den vier Wochen eine schreckliche Wandlung durchgemacht hatte. Nichts mehr von der alten triumphierenden, strotzenden Brutalität war in ihm vorhanden. Die Backen hingen in gelben schwammigen Säcken, die sonst so eiligen schwarzen Marderaugen schauten müde und furchtsam zu ihm auf, und nur um den Mund lagen noch die Züge des alten Hämlings, als er die Lippen zu einem lautlosen, freundlichen Gruß auseinanderzog.

Dann saß Maechler in der ersten Reihe, nicht weit von dem Tisch Schlickers, der mit der Verlesung des amtlichen Schriftstückes ans Ende gekommen war, unentschlossen am Tintenfaß und Federhalter rückte, ein paarmal sehnsüchtig in den Saal schaute und dann fragend in Maechlers Gesicht blickte. Dieser nickte unauffällig, aber energisch mit dem Kopfe. Da erhob sich der feiste, träge Mann schwerfällig und begann:

»Liebe Mitbürger von Wilkau! Sie haben den Wortlaut der Verfügung der hochwohllöblichen Kreisverwaltung, die ich eben vorzulesen, hm, hm ... na, es war eben, hm, hm, für mich eine Ehre.

Damit ist der erste Punkt der Tagesordnung sozusagen, hm, hm, fertig oder erledigt, wie man zu sprechen pflegt.

Wir kommen zum zweiten Punkt. Herr Kreisbaumeister Mulvert wollte den Standpunkt, den Korpus sozusagen, die Gründe der hochwohllöblichen Behörde richtigstellen, das heißt, hm, hm, nun, Sie verstehen ja, was ich meine.

Leider ist er nicht erschienen. Das Wetter hat ihn wohl abgehalten. Denn, wer weiß es? Die Hitze verheißt nichts Gutes.«

Hier unterbrach sich der Redner und lüftete seinen Kragen am schwitzenden Halse.

»Ich glaube, wir öffnen ein Fenster da hinten«, rief er prustend, und als das unter Zustimmung aller geschehen war, begann er in einem stolpernden Durcheinander an Stelle Mulverts von allen Gründen zu sprechen, die ihm einst durch den Kreisbaumeister für die neue Straßenführung dargelegt worden waren. Es war ein einschläferndes und auch aufreizendes Gebrummel, aus dem mit erhobener Stimme immer wieder »die hochwohllöbliche Kreisverwaltung« und einige Male »der gnädige Herr Graf« auftauchte. »Richtig«, ertönte es aus der Versammlung, da und dort lachte es auf. Aber nie war die Stimme Neefes darunter. Offenbar achtete kaum einer auf das, was sich Schlicker abquälte. Alle wehrten sich nur gegen die Schwüle, die durch die Fenster hereindrang.

In der Ferne ertönte ein dumpfes Rollen. Es begann in den Baumkronen des gegenüberliegenden Badeparkes schneidend zu pfeifen.

Der Gemeindevorsteher beendete schnell seine Wortwurstelei, ermahnte die Versammlung zur Ruhe und erteilte dem Vertreter des Grafen Schilling das Wort. Neben Maechler sprang ein jugendlicher, sehniger Mann auf und begann mit lauter, herausfordernder Stimme loszuschnarren von gewichtigen, schwerwiegenden Bedenken, ruhig-sachlichen Erwägungen und schloß mit der Lobeshymne auf die Einsicht und wahrhaft väterliche Fürsorge des Grafen, der zwar unter Widerstreben, aber ohne Bitterkeit mit dem Bau der neuen Straße einverstanden sei.

Während er sprach, wuchs das unheimliche Rollen draußen an. Es sauste wie von tausend geschwungenen Sensen in der Luft, so daß der Redner seine Stimme oft schneidend erhöhen mußte, um sich verständlich zu machen.

Als er geendet hatte, war der sich heranwälzende Wetterlärm plötzlich wie abgeschnitten, und eine merkwürdige Stille trat ein. Nicht die drohende, atembeklemmende Ruhe wälzte sich auf alle, die dem Losbruch immer vorauszugehen pflegt, nein, ein sanftes friedvolles Entschlummertsein der ganzen Welt schnitt mit eins das Brausen ab, als habe ein unheimlicher, lautloser Riesenhieb die Wetterbestie vor dem Aufsprung niedergestreckt. Alles atmete befreit auf. In dieser Stille erhob sich Maechler, aus dem auch alle Unruhe geschwunden war, alle geheime, bittere Spannung des Herzens, aller Widerwille, alles zornige Aufbäumen. Mit einfachen Worten stellte er sich als Vertreter seines Meisters vor und bat um gütige Nachsicht. Er sprach von dem Nutzen des Kampfes, der, mit Wohldenken und ohne Arglist geführt, notwendig sei zum Gedeihen jeder Gemeinschaft. Das Beil brauche man zum Holzspalten, aber nicht zum Schädeleinschlagen; die Füße zum Gehen, nicht zum Stoßen und Treten des anderen. Viel Schreien sei nicht viel recht haben, und die bloß immer sich selbst und den eigenen Vorteil meinten, sollten bedenken, daß sie den närrischen Menschen glichen, die in laufende Schränke hineinarbeiten. Sie müßten höllisch aufpassen und könnten's doch nicht verhindern, daß ihre Schränke eines Nachts sich mit allen ergatterten Kleidern in des anderen Haus davonstehlen. Und während so einer am anderen Morgen im Hemd oder gar nackt vor der Tür säße und verzweifelt nach dem Besitz ausschaue, gehe der Nachbar in dem Sonntagsstaat vorüber, der gestern noch sein war, grüßt nicht einmal und verschwindet stolz und gebläht. Geld sei nicht Geltung, Schreien kein Ruhm und Verleumdung keine Ehre.

»Mein verehrter Meister hat sich den Frieden errungen und wünscht allen Wilkauern Frieden, und ich, sein Geselle, tu von ganzem Herzen das gleiche.«

So endete Maechler, hoch und ruhig im tiefen Dunkel stehend, die Worte, die wider Willen zu einem ergreifenden Ausbruch seines erkämpften Lebensglaubens geworden waren, daß nach dem Verklingen seiner Stimme ein lautloses Schweigen in dem verfinsterten Saale herrschte. In dieser Stille schrie plötzlich der Schlosser Neefe schmerzlich-gemartert auf, nicht wie ein Mensch, eher wie ein Tier, das den Todesstoß erhalten hat, sprang vom Stuhl in die Höh, stürzte aus dem Saal und lief polternd die Treppe hinunter.

Und als seien die beruhigten Furien der Natur draußen von den jäh erwachten Furien der Reue dieses verwilderten Männerherzens aufs neue aufgepeitscht worden, brach jetzt das Wetter mit einem Blitz, der den Saal in grelle Lohe tauchte, und einem Donnerkrachen los, als reiße die ganze Welt auseinander. Der Sturm drückte die Fenster der anderen Wand ein. Die Lichter löschten aus. Es jagte, plärrte und pfiff durch das Brausen der Wassermassen, die vom Himmel stürzten, als solle die Erde ersäuft werden.

Im Nu war der Saal geleert. Die Männer stoben durch die Finsternis nach allen Richtungen auseinander.

Maechler sprang mit den letzten auf die Straße. Im Schein der Blitze, die schnell wie die Schwerthiebe wahnsinnig gewordener Fechter die Nacht durchschnitten, sah er, daß das Wasser schon knöcheltief übers Pflaster lief. Vom Gebirge her rollten die Donner wie eine dauernde, nie absetzende Kanonade.

Er rannte in langen Sätzen den Schloßplatz hinunter, daß das Wasser um ihn aufspritzte. Als er in die Nähe des Hotels »Preußische Krone« gekommen war, wurde die Tür aufgerissen, und der Kreisbaumeister Mulvert sprang als Anführer einiger Männer torkelnd auf die Straße. Beim Anblick Maechlers, den er natürlich nicht erkennen konnte, weil er wie ein Schattenwisch vorüberjagte, schrie er wie ein Berserker: »Sie, heda, zu den Brücken!«

»Nein, ich muß auf die Feldgasse!« rief Maechler durch das Toben zurück und verschwand zischend und klatschend in der Rehberger Straße. Als er in die Feldgasse einbog, fackelte ein besonders greller Blitz auf. In seinem Schein sah er am anderen Ende der Gasse einen unförmlichen Mann, den Kopf in die Schultern gezogen, ruhig und versunken wie ein grübelnder, schweigender Mönch, daherkommen.

Das war niemand anderes als der Schlosser Neefe. Warum schlich er in diesem Teufelswetter hier herum?

Maechler sprang, daß das Wasser um ihn sauste, und erreichte vor ihm den Eingang zu dem Wennrichschen Hause. Er schlug das Gartenpförtchen hinter sich zu und wartete unter dem Giebelvorbau. Langsam, als trüge er eine Riesenlast, kam der Schlosser heran, blieb vor dem Pförtchen ratlos stehen, schaute die Giebelwand hinauf und begann dann mit der Faust seine Brust zu bearbeiten. Dabei sprach er stöhnend wie ein Stoßgebet immerzu: »Wennrich, verzeih mir, verzeih mir alles.«

Dann ermannte er sich und ging weiter.

Maechler trat mit dem Vorsatz ins Haus, dem Meister von dem eben Vorgefallenen nichts zu sagen. Weil das Wasser nur so von ihm lief, blieb er auf der Schwelle der Wohnküche stehen und rief lachend: »Guten Abend! Was? Eine schöne Bescherung.«

Wennrich saß am Tisch und las aus einem Gebetbuch.

Bei Maechlers Erscheinen fuhr er auf und kam mit dem erleichterten Ausruf: »Gott sei Dank, Maechler, daß Sie da sind«, auf ihn zu.

Er hatte die bis über die Knie reichenden Gerberstiefel an. Eine dicke Mütze und eine alte Flauschjacke lagen neben einer brennenden Laterne auf einem anderen Stuhle.

Der Gesell sah seinen Meister zum Kampf gegen das Wetter gerüstet und sagte: »Wie ich sehe, trauen Sie der Geschichte nicht.«

»Trauen, mein Lieber! Haha, da kennen Sie das kleine Heidewasser schlecht! Vor zehn Jahren hat es mir die Ufermauer eingerissen, und da war das Unwetter halb so schlimm wie heute. Es kann sein, daß wir uns um die Tonnen drüben auf dem Werkplatz kümmern müssen. Das beste ...«

Da krachte ein neuer ohrenbetäubender Donner, daß das ganze Haus klirrte, und riß Wennrich das Wort vom Munde. Er bekreuzigte sich und murmelte: »Gott sei uns gnädig.«

Dann wandte er sich eilig um, und indem er nach Jacke und Mütze griff, rief er Maechler zu, auch schnell die Stiefel anzuziehen, sich wenigstens mit einer anderen Jacke zu bekleiden und die beiden Haken bereitzustellen. Seine Worte wurden im Sprechen immer überstürzter. Er fand vor Aufregung nicht in die Ärmel, und Lotte, die bisher zusammengesunken, schweigend auf der Herdbank gesessen hatte, sprang herzu. Ihr Gesicht war bleich und todernst. »Nein, du gehst nicht hinaus, Vater«, sagte sie drohend und strengte sich an, ihm die Jacke mit Gewalt zu entwinden.

Maechler unterstützte Lotte in ihrer Befürchtung, das Wetter könne Wennrich übel mitspielen. Aber da wurde der Alte geradezu wütend.

»Bin ich denn krank oder ein Narr?« rief er. »Laßt mich! Weg, Lotte! Schnell, Maechler! Hört Ihr nicht? Das Hochwasser kommt. Schnell! Es reißt mir die Häute weg.«

Es war nicht gegen ihn aufzukommen. Maechler sprang davon, um sich fertigzumachen.

Als er in wenigen Augenblicken in Langschäftern und einer alten Jacke mit den beiden Haken in der Hand wieder erschien, stand Wennrich fix und fertig in höchster Ungeduld auf dem Flur.

»Los!« kommandierte er. »Wir reißen die Häute auf die Straße herüber an den Zaun. Bis dahin kommt das Wasser sicher nicht.«

Lotte stand regungslos, starr, aufrecht, wie eine Steinfigur auf der Schwelle der offenen Stubentür. Auch ihr Gesicht schien wie versteinert in regungsloser Melancholie, und ihre Arme hingen wie leblos.

Maechler stahl sich mit einem erschrockenen Blick zu der Regungslosen hinüber.

Nur dies letzte Mal will ich euch noch helfen, dann geh' ich davon, daß du von mir erlöst bist, sann er und trat hinter dem Alten ins Wetter hinaus.

»Vater, komm zurück!« hörte er Lotte in den hereinschlagenden Lärm ein letztes Mal rufen.

Dann riß Maechler gegen den andringenden Sturm und peitschenden Regen die Tür gewaltsam hinter sich zu.

Unter dem Giebelvorsprung hielt Wennrich einen Augenblick an und sah sich prüfend um.

Der Donner hatte aufgehört. Mit eins war auch der Sturm wie abgeschnitten aus der Luft gefallen. Nur der Regen raste wie das Schwirren eherner Tropfen in dämonischer Ruhe weiter, und von fern wälzte sich ein knirschendes Rollen heran, als habe sich der Donner der Luft an der Erde festgekrallt und fresse sich unaufhaltsam weiter.

»Das Gepolter der Wassersteine! Hören Sie's, Maechler! Das Hochwasser bricht aus dem Gebirge. In einer Viertelstunde ist's da. Schnell hinüber«, rief Wennrich und sprang über die Stufen hinunter durch das Vorgärtchen davon.

Maechler mit den Haken in der Hand folgte ihm im Schein der Laterne auf dem Fuße, verfing sich aber mit den Stangen in den Staketen des Pförtchens. Als er sich zurückdrehte, um sie loszureißen, sah er nicht weit eine Gestalt regungslos wie eine Bildsäule am Zaun lehnen. Es war der Schlosser Neefe.

»Donnerwetter, was soll das sein?« schrie Maechler unwillig, brach die Stange aus der Verklemmung und sprang Wennrich nach, der die Laterne an eine Trockenstange gehangen hatte und schon ächzend an dem verquollenen Deckel einer Tonne arbeitete.

Der Werkplatz war bereits wadentief mit Wasser gefüllt. Das Heidewasser brauste, zu einem rasenden Flußtier angeschwollen, vorbei und knallte bald mit Felsbrocken, bald mit Baumstämmen gegen die Ufermauer, daß die Erde bebte.

Droben auf der Sandbrücke rannten Männer, Säcke über den Kopf gezogen, im Schein von Fackeln, schwer arbeitend nach dem Kommando Mulverts auf und zu, dessen Stimme, nun nüchtern geworden, manchmal das Toben überschrie. Die mitgeführten Holzstämme hatten sich verkeilt, und die Brücke begann schon zu knirschen und zu wippen.

Wennrich und Maechler hatten den Deckel der einen Tonne aufgebrochen und zogen mit den Haken unter Aufbietung aller Kräfte die halbgaren Häute heraus, die Maechler laufend über die Straße an den Zaun trug. Wennrich arbeitete, daß sein Atem pfiff und keuchte. Er taumelte schon manchmal und angelte mit dem Haken unsicher herum. Maechler gewahrte das und verlangte, er solle ins Haus gehen und ihm die Arbeit allein überlassen, stieß aber auf den hartnäckigsten Widerstand. Als er wieder daran war, mit einer Häutelast davonzugehen, gab er ihm auf, während seiner Abwesenheit nicht weiterzuarbeiten.

Schwerbeladen schritt er durchs Wasser über die Straße.

Als er an den Zaun kam, sah er, daß Neefe nicht mehr dort lehnte.

Nichts Gutes ahnend, warf er die Felle hin und eilte zurück.

Dort traf er Wennrich, der entkräftet zusammengebrochen war, und der Schlosser bemühte sich, ihn unter lauten Beteuerungen, Bitten und Verwünschungen aufzureißen, daß es Maechler eher erschien, der Wahnsinnige wollte sich an seinem alten Todfeind vergreifen.

»Gehen Sie weg! Was wollen Sie?« schrie Maechler empört, packte und riß den schweren Mann herauf.

Da brach droben die Sandbrücke zusammen, und die Flut wälzte die ungeheure Last der Balken, Stämme und Steine heran.

Maechler gab Neefe, der sich nun mit einem Fluch auf ihn stürzen wollte, einen Stoß vor die Brust, daß er gegen die Ufermauer taumelte, raffte seinen Meister vom Boden auf und rettete ihn vor der nahen Vernichtung.

Als er sich am Gartenpförtchen umdrehte, hatte der Trümmerberg, der alles niederbrach, was sich ihm in den Weg stellte, den Wennrichschen Werkplatz erreicht. Die Ufermauer stürzte unter seinem Anprall zusammen und riß Neefe mit hinunter in die Flut, die ihn malmend verschlang.

Maechler ging, von dem Gericht bis in die letzte Fiber erschüttert, weiter. Als er mit Wennrich, der regungslos in seinen Armen lag, vorsichtig den Flur betrat – er hatte sich mit einem Finger die Haustür aufgeklinkt –, stand Lotte noch starr, aufrecht, blaß, ein Steinbild, auf der Schwelle der offenen Stubentür, als habe sie sich die ganze Zeit über nicht gerührt.

Beim Anblick ihres verunglückten Vaters sagte sie dumpf: »Ich hab's geahnt«, und wurde von einem Taumel gepackt, daß sie sich an den Türpfosten lehnen mußte, um nicht niederzusinken. Doch sie riß sich zusammen, schloß schnell die Haustür und half Wennrich in das Schlafzimmer tragen.

»Ist er tot?« fragte sie unterwegs.

»O nein, er hat ja die Augen offen«, antwortete Maechler, »aber der Schlosser Neefe ist im Heidewasser umgekommen.«

»Was nutzt das«, sagte sie bitter.

Bald lag Wennrich entkleidet im Bett, wohl starr wie ein Toter, aber doch schlug sein Herz, das Gesicht blau überlaufen, wie es Maechler hinter dem Hotelfenster erschienen war, die Augen weit geöffnet, in fieberischem Glanz auf etwas gerichtet, das außerhalb der Welt lag, entsetzt und verwundert; der Mund in Gram und Grauen fest geschlossen.

Maechler rieb den nassen, kalten Leib ab. Lotte machte Wärmflaschen zurecht und legte sie um den Kranken, den alles das dieser starren, grauenvollen Entrücktheit nicht entreißen konnte. Sie rief seinen Namen, streichelte sein Gesicht, rüttelte an ihm. Er sah, hörte und fühlte nichts, trotzdem er atmete und lebte. Da deckte Lotte ein zweites Bett auf ihn, rückte sich einen Stuhl an sein Lager und sagte:

»Nun, Herr Maechler, gehen Sie hinauf. Sie sind naß. Ich wache hier, und wenn es notwendig ist, werde ich rufen. Haben Sie vielen Dank.«

»Herr Maechler?« fragte der Gesell erstaunt.

»Ja«, antwortete Lotte einfach, »und nun gehen Sie hinauf, bitte.«

Nicht einmal der nahe Tod vermochte den Stolz dieses unheimlichen Mädchens zu überwinden. Maechler drückte sich leise zur Tür hinaus und leuchtete droben jeden Winkel seines Schlafraumes ab, als wimmle er von Spuk wie das ganze Haus. Er öffnete den Schrank, sah unters Bett, griff in sein Felleisen, zog jeden Schub aus der Kommode und fand in Bestätigung seiner Beklemmung im Schloß des oberen Schubes den Schlüssel stecken, den er doch vor zwei Jahren zum Fenster hinausgeworfen hatte. Seine Nerven bebten vor Überreizung, so daß er den Schub nicht herausziehen mochte, um sich nicht vollkommen dieser Hexenweise auszuliefern.

Er zog sich eilig um und setzte sich wartend aufs Bett. Im nächsten Moment stieß ihn der Schlaf um und löschte ihn aus.

Als er erwachte, plierte das erste Morgengrauen durch das kleine Fenster.

Lotte stand mit einem Licht vor seinem Bett und sagte: »Verzeihen Sie! Der Vater verlangt nach Ihnen. Es geht mit ihm zu Ende.«

Aufrecht ging sie vor Maechler her, der sofort überwach war. Auf dem Flur begegneten sie einem jungen Kaplan und dem Küster, die eben im Begriff waren, das Haus zu verlassen. Der Geistliche sprach Lotte mit herzlicher Güte noch einmal Trost zu und verabschiedete sich von Maechler mit einem Neigen des Hauptes.

In der Wohnküche saßen leise schluchzend die beiden Schwestern Niedenführ.

Wennrich lehnte in vielen Kissen halb aufrecht im Bett.

Als Maechler und Lotte eintraten, öffneten sich die Augen seines fahlen, todverfallenen Gesichtes, über das ein glückhaftes, friedevolles Glänzen ging.

Das Folgende sprach er leise, wohl mit großer Anstrengung und oft unterbrochen, aber klar.

»Lieber Maechler, komm her. Ich kann nicht mehr Sie sagen. Ich habe dir viel zu danken. Gott wird dir alles lohnen. Meine Ehre war ausgebrannter Zunder ... mein Geschäft ein Moderhaufen ... trotz meiner lieben, lieben Lotte ... ach, was hast du gelitten ... ach – ach – aber Gott hat mich gesegnet – dich hat er mir geschickt ... dich, Maechler ... und den Neefe hat er umgewandelt ... den Neefe ... Gott, verzeihe mir allen Zorn ... alle Rachsucht ... Ich muß fort ... ich spür's ... Lieber Maechler, verlaß mein Geschäft nicht ... das bitte ich dich inständig ...«

Da gingen dem Sterbenden die Sinne aus. Aber durch sein Gesicht arbeitete ein verzweifeltes Ringen, und er griff ängstlich in die Kissen, als suche er einen Halt, sich noch einmal aufzurichten.

Lotte sank vor dem Bett in die Knie, und auch Maechler zwang es zu Boden.

Da schlug Wennrich noch einmal die Augen auf, die sich schon zu umschleiern begannen.

Er sah die beiden Knienden und wurde überirdisch selig ...

»Gott, warum quält ihr euch ... gebt euch die Hände ... liebt euch ... Kinder ... Lotte ... du ...«

Da rasselte der Tod in Wennrichs Kehle.

Das Mädchen schrie auf und sank, gegen Maechler hinfallend, in Ohnmacht.

Der Gesell hob Lotte auf und legte sie den herbeigeeilten Schwestern Niedenführ in die Arme. Dann bekreuzigte er den Gestorbenen und drückte ihm die Augen zu.


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