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Einundzwanzigstes Kapitel

So lag Sessi mit ihrem Innersten im Blütengrunde ihres Wesens nicht anders wie in einem gläsernen Sarg, ihr unbewußt, von Anbeginn. Dort lebte das Hoffen ihres Mädchenherzens mit allen himmlischen Seligkeitssüchten, die sie aber vor sich nur gelten ließ als schwärmerische Hingabe an die Schönheiten der Natur und als Verehrung großer Männer.

Alles das trug Sessi nicht wie ein mündiger Mensch, als klare Begriffe und scharf umrissene Pflicht in sich, es tauchte als traumhaft kindliche Daseinsrichtung aus dem Grunde ihrer Seele und umflügelte sie in immer neuen Bild- und Gefühlsschwärmen zu allen Stunden des Tages und der Nacht. Daher auch kam es, daß sie durch jede Zurückhaltung näher an Damian herangeführt wurde, und ihr Versagen und Fliehen von dem Knaben als immer innigere Hinneigung empfunden wurde. Diese beginnende Schicksalsverzweigung der beiden jungen Menschen war von dem, was die Menschen Liebe nennen, noch so verschieden wie das Sonnenlicht von einer Flamme auf dem Tisch im Hause. Sie war von einer Heimlichkeit und zugleich von einer solch himmlisch-unwirklichen Inbrunst und idealistischen Ergriffenheit, daß die beiden immerfort wie in einem Lichtrausch lebten. Einmal, nach hundert Fehlgängen und nach tausendfältigem Seelentasten zwischen ihnen, duldete es Sessi, daß Damian sich neben sie setzte. Es war an einem glückhaft schönen, frühlingshaften Herbsttage weit draußen in der Nähe des letzten der Grandorfer Teiche zur Zeit, da der nahende Abend die Welt so verklärt, daß ihre Wirklichkeit fast zu einem Traum unserer Einbildung wird.

Nachdem sie lange abgeschieden und nahe, vollkommen schweigend und in schwingender Verbundenheit in den Anblick des Riesengebirges versunken waren, sagte Damian wie zu sich selber:

»Warum muß der Herdberg und der Keilhau immer und immer so tief unten bleiben, während der Kamm so nahe am Himmel hinführt – und sie haben doch auch schönen blauen Wald.«

Nach einigem Sinnen antwortete Sessi:

»Na ja, das ist wahr. Der Kamm und die Gipfel sind höher und sehen schöner aus, aber es ist auch notwendig, weil sie einsamer sind.«

»Nein, nein, sie haben die schönen Wolken näher.«

»... und erreichen sie auch nicht wie der Keilhau und der Herdberg, so wenig wie die Sterne.«

»Wahrhaftig nein, da hast du recht, Sessi.«

Als Damian sie so das erstemal mit ihrem Namen nannte, ging eine solche Erschütterung durch das Mädchen, daß sie die Augen schließen und sich mit gesteiften Armen rückwärts auf die Erde stützen mußte, weil ein leichter Taumel über sie hinfuhr.

Aus diesem tiefen Vertauchen antwortete sie, aber nun mit einer verwandelten, einer weichen Traumstimme:

»Ach, und zwischen dem Saalberg und dem Kamm fliegen ja die Vögel hin und her, immerfort.«

»Auch vom Kamm nach Keilhau und Saalberg?« fragte Damian mit zaghafter Stimme.

»Freilich«, antwortete Sessi ganz verschlungen in der Aufgeschlossenheit ihrer Verzauberung, »freilich, Damian, denn sie gehören ja zusammen.«

»Zusammen sagst du, Sessi?«

»Ja, zusammen. Ja. Denn wenn man sie auseinanderreißen wollte, da müßte man ja die Erde auseinanderreißen.«

Nach diesen Liebeserklärungen im Gewande glückhafter Naturbegeisterung saßen die beiden Menschenkinder betroffen, wagten einander nicht anzuschauen, sondern sahen auf ihre Hände.

Sessi faßte sich zuerst und begann in einem Buch zu blättern, das sie unbemerkt auf ihren Spaziergang mitgenommen hatte. Endlich fand sie, was sie suchte. Es war das kleine kolorierte Bildchen, das ihr vor vielen, vielen Jahren von Damian im Gerberhaus auf der Feldgasse geschenkt worden war.

Das zeigte sie Damian und fragte errötend:

»Kennst du das noch?«

Der Gerberjunge griff danach und konnte nicht verhindern, daß seine Hand zitterte:

»O ja – jaja, liebe Sessi«, hauchte er dabei.

Das Mädchen aber entzog ihm das Blättchen und sagte:

»Nein, das geb' ich nicht her. Das leg' ich als Lesezeichen in jedes Buch, das ich gern hab' ..., und wenn ich traurig bin oder etwas schwer zu tragen ist, dann gibt mir dein Heiliger mit der blauen Blume in jeder Hand wieder Trost und Mut und Geduld.«

Damian war so erschüttert, daß er erblaßte.

Sessi aber sprang auf die Füße und holte tief und drohend Atem:

»Davon darfst du niemand auf der Erde und im Himmel etwas sagen. Sonst zerreiß' ich das Bild, zertret' es mit den Füßen und seh' dich nicht mehr an. Gib mir dein Ehrenwort darauf.«

Das sagte das Mädchen so hart und entschlossen und sah ihn aus den großen dunklen Augen so stählern an, daß es Damian vor Ergriffenheit wie im Kreise drehte. Seine Hand fiel trunken in die ihre.

Als er aus dem Rausch zu sich erwachte, sah er Sessi schon weit zwischen den Teichen nach Wilkau zu eilen. Sie drehte sich nicht einmal um, und Damian war es, als würde sie von einem Wirbel davongeführt.

Nach diesem Tage betrachteten sich beide zueinander gehörig, ohne daß etwas besprochen worden war. Sessi schwieg aus mädchenhafter Scheu und Furcht vor ihrer adelsstolzen Mutter und dem Abscheu ihres wilden Vaters gegen den Gerber Maechler, den er einen dicken dreckigen Beutelschmierer nannte. Damian wagte im Gefühl seines niedrigen Standes auch nicht zu sprechen, zu niemand auf Erden und im Himmel, wie er es Sessi gelobt hatte, außer zu seinem eigenen Herzen. So lebten sie wie zwei verschwisterte Wolken am hohen Himmel, die in der gleichen Sonne dahinziehen.

Sie besaßen sich allein durch geheime Sehnsucht, genossen sich durch Blicke, erhoben und stärkten sich durch stumme Verehrung und waren immer beieinander durch Träume. Ihre Treue in der Erfüllung der Schularbeiten war die Pflicht, die sie nie in leeres Schwärmen und faules Gemütsschwelgen versinken ließ, Sessi nicht aus Stolz, Damian nicht aus bürgerlicher Tüchtigkeit. Sonst merkten sie von den Vorgängen um sie eigentlich sehr wenig.

*

So achtete Damian auch kaum mehr auf Reinhard Neefe, seinen früheren Freund, wohl auch deswegen, weil in seinem vollkommen anderen Wesen das Echo der vielen Böswilligkeiten noch nicht vollkommen erloschen war, die er einst von ihm erfahren hatte. Aber es war doch nicht ausgesprochene Feindseligkeit, die ihn von Reinhard Neefe trennte, sondern eine Art abschätziger Gleichgültigkeit wegen Ausschreitungen, die er einst, um ihrer Buntheit und Vielfalt halber, an ihm sogar bewundert hatte. Genug, Damian mochte einfach Reinhard Neefe nicht mehr und ging ihm ohne jede Überheblichkeit aus dem Wege. Wohl wirkte auf ihn auch die nachteilige Einstellung der Eltern gegen den alten Neefe, dessen Name fast nie und dann immer mit Geringschätzung, ja Mißachtung genannt wurde. Er wußte nichts von dem krankhaften Rangstreit des alten Grubeninspektors gegen seinen Vater, der Damian vor seinem Sohne, wie er sich ausdrückte, ins Gymnasium »eingeschmuggelt« hatte.

In seiner Daseinsverzauberung wurde Damian auch davon nicht berührt, daß Reinhard Neefe auf Grund der bestandenen Aufnahmeprüfung nach den Herbstferien in Damians Klasse einrückte, nicht viel anders wie etwa ein Vogel dadurch nicht verjagt wird, daß ein anderer Vogel in den Baum fliegt, in dessen Zweigen er selber hüpft.

Trotzdem, die Jugend klingt zugleich in den verschiedensten Gegenden des Daseins. Sie ist so voll des Lebens, daß sie auch den Nachklang von Melodien verträgt, die einst widertönig sich ihr aufgedrängt haben und längst die Macht über sie verloren. Und so klang doch hinter allen Schulalltäglichkeiten, dem gleichgültigen Kommen und Gehen der beiden das bunte, märchenhafte Licht so vieler gemeinsam genossener Kindheitsstunden. Doch da Damian nie mit einem Wort daran rührte, wenn Reinhard aus seiner Geducktheit dennoch mit züngelnden Worten der Erinnerung nach manchem gemeinsamen losen Streich vergangener Zeit griff, so begann schon bald in Neefe wieder die alte Bitterkeit aufzusteigen, die sein blutmäßiges Erbteil war. Aber er wehrte sich tapfer gegen diese Wölfe seines Blutes und mühte sich unausgesetzt um das Vertrauen der abgewandten Seele Damians, die in einem Lichte blühte, von dem er nie sprach und das Reinhard darum nie verstand.

Seit langem war es dem Inspektorssohn aufgefallen, daß Damian nie nach der Kummerhardte hin, sondern immer nach der Seite der Wilkauer Felder seine Ausgänge richtete, in denen die Trennsdorfer und Grandorfer Teiche lagen. Geradezu zu fragen getraute er sich jedoch nicht, weil er wußte, daß Damian ihm ja doch keine Antwort geben, sondern ihn nur lächelnd mit überheblichen Augen anschauen, den Kopf schütteln und, wenn's hochkam, mit den Worten abspeisen würde, was für ein komischer Kerl er doch sei, so etwas zu fragen. Darum hielt Neefe auch, als er es eines Tages fertiggebracht hatte, sich Damian auf einem Spaziergang über das Feld bei Wilkau gegen Schwarzhof hin anzuhängen, seine Neugier zurück, aber ebenso aus Furcht vor sich selber, denn einmal, das fühlte er, mußte dieser Geringschätzung des »Gerberjungen« ihm gegenüber ein, wenn es eben notwendig war, wildes Ende bereitet werden. ›Ich springe dem Schleicher an den Hals‹, so kochte es oftmals im geheimen in Neefe auf, wenn er die Rolle bedachte, zu der er sich im Verkehr mit Damian gezwungen sah. Die Sicherheit seines einstigen Losbruchs gab ihm die Kraft, das unwürdige Verhältnis zu ertragen. Sie gingen an diesem Tage hinter dem Füllnerwerk über den Weihrichsberg gegen die Teiche hin und unterhielten sich über Schulangelegenheiten und allerhand Vorkommnisse in Wilkau, das heißt, Reinhard schob immer neue Geschichten auf seine Redehaspel, auf die Damian nur lahm oder halb einging. So kamen die beiden zu jenem Graben, an dem Damian Sessi das erstemal allein im Felde getroffen hatte. Bei seinem Anblick war sie zwar wie erschrocken aufgesprungen und davongerannt, hatte aber das angefangene Sträußlein für ihn liegenlassen, wie sie ihm später eingestand. Reinhard quirlte noch immer seine schnurrigen Geschichten. Damian aber war plötzlich von dem Zauber jener köstlichen Erinnerung so hingenommen, daß er nicht ein Wort von Reinhardts Geschichten hörte.

»Sieh doch, wie herrlich die Sonne scheint!« brach es aus ihm los, weil für ihn die ganze Welt in einem himmlischen Lichte stand.

Trotzdem Neefe ihm widersprach, weil alles, wie vorher schon, in Dunst geisterte, schickte Damian, von dem lebendig wiedererstandenen Traum befangen, seine Augen spürend umher, vielleicht doch noch etwas von dem Strauß Sessis zu entdecken. Da kam ihm ein dürres Stengelchen mit vermorschten Blättchen unter dem Strauch als ein letzter Rückstand jenes Straußes von Sessi vor, den er damals in seliger Ratlosigkeit dahin gelegt hatte. Mit eiligem Sprung war er an der Stelle, hob das Stengelchen auf und betrachtete es lange mit einer Inbrunst, als sei es eine Kostbarkeit. Reinhard erstaunte über diese unbegreifliche Narretei dermaßen, daß ihm das Wort im Halse steckenblieb.

Und da Damian das trockene Hälmchen nun gar vorsichtig zwischen die Blätter seines Taschenbuches legte und behutsam einsteckte, konnte Neefe nicht mehr an sich halten und fragte verwundert, was das zu bedeuten habe.

Damian sah ihn eine Weile strahlend an und antwortete dann triumphierend:

»Ach Gott, wie ist das Leben schön und die ganze Welt!«

Darauf fing er mit seiner hohen Stimme an zu singen: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt«, und wanderte davon, als sei er ganz allein.

Kopfschüttelnd hielt Reinhard sich eine Weile an der Seite des Entgleisten, blieb dann, weil nichts mehr mit ihm anzufangen war, zurück und ging betroffen nach Hause.

Das Lied Damian Maechlers verließ den ganzen Tag Reinhards Wesen nicht. Er mochte denken, sagen und tun, was er wollte, hinter allem hörte er die singende Stimme seines Freundes und fühlte sich durch sie hinausgedrängt in ein anderes Dasein, das er nur durch Ungenügen an so vielem ahnte, was wild, bitter, hinterhältig, ja böse in ihm wirbelte, kochte und ihn trieb.

In dem Nebenzimmer hörte er seinen Vater poltern, an Stühlen stoßen, Schranktüren zuschlagen und dann wieder, trotz der gütig milden Stimme seiner Mutter, in dunkel grollendes, wildes Reden verfallen, das wie ein einziger langer Fluch klang. Reinhard kroch unter das Deckbett und wickelte seinen Kopf ein, damit er den häßlichen Lärm aus dem Schlafzimmer seiner Eltern nicht höre und des Klanges wieder habhaft werde, der aus dem Singen Damians sein Gemüt beglückte und erhob. Zuletzt war es ihm, als wandle er durch eine blühende Sommerwiese bergan und verlor sich, einschlafend, in den blauen Himmel.

Noch beim Aufwachen war der Schimmer dieser traumhaften Lichtfahrt des Schlafes, wenn auch schwächer, in ihm, und er hielt sich tagelang von Damian fern, um diesen Zauber nicht zu versehren. Aber soviel er sich zusammennahm, es nutzte nichts. Als er wieder Damians habhaft wurde, überfiel ihn die alte hämische Scheelsucht und war stärker als vorher, als habe sie sich in den Tagen seiner Entrückung erholt.

›Bin ich denn gar nichts‹, bohrte es wieder in ihm, ›daß der Kerl mich wie einen Pudel behandelt, mich nur von oben her ansieht und jedes Wort erst zerbeißt, das er mir dann nur als Brocken gönnt? Worauf bildet er sich denn etwas ein? Vielleicht, weil er größer ist als ich oder als Klassenschleicher oder Lehrerfummler? Sein Vater ist ein dicker Fellschaber, und ich bin der Sohn eines Grubeninspektors. Das ist der Unterschied. Sonst keiner, sonst nichts.‹

Kurz, Reinhard, der sich doch als Knabenjüngling selbst nicht ganz verstand, war wie seine väterlichen Vorfahren ein zu tief ins Wirkliche verhextes Geschöpf und wußte nicht, daß sein bitteres Ungenügen an Damian eigentlich nichts war als Eifersucht. Er hätte ihn gar zu gern ganz, ganz besessen. Seine Scheelsucht war zutiefst ein leidenschaftliches Ringen um ihn. Und immer sah er den blonden hochgeschossenen Damian mit entrückten Schritten wie auf Wolken fern von sich wandeln und kam nicht zu ihm, nach dem er doch so verlangte, daß er vor kochender Wut manchmal ausspucken mußte, um nicht zu zerplatzen. Vielleicht, wenn er herausbekam, an wem Damian eigentlich im geheimen hing, konnte es ihm gelingen, ihn ganz zu sich herüberzureißen. Und er begann, ihn genau zu beobachten und ihm unverdrossen nachzuschleichen. Da hatte er es denn nach Wochen herausspioniert, daß zwischen Damian und der Tochter des wilden, verrückten Hauptmanns, der Lyzeumsschülerin Susanne von Schillingkhoff, eine andere Luft wehte, wie es sonst zwischen Mädchen und Burschen üblich ist. Lange hatte er auf jede Miene Maechlers gelauert, wenn der Name Schillingkhoff fiel, und ihm mit Andeutungen Schlingen gestellt. Es war umsonst gewesen. Höchstens war ein zerstreutes, ihn erbosendes Lächeln über sein Gesicht gehuscht, so, als lausche er Klängen, die anderen unhörbar in der Weite vorüberschwebten.

Zuletzt hatte er die beiden einmal am entferntesten Grandorfer Teiche Hand in Hand aus dem Ufergesträuch treten und, ohne sich inniger zu berühren, nach verschiedenen Seiten davongehen sehen, Damian nach Schwarzhof zu, Susanne nach Trennsdorf hin. Wohl hatten sie sich nach einer Weile zueinander umgedreht, daß Reinhard, der hinter einem fernen Baume stand, das Herz wild zu schlagen begann, denn jetzt und jetzt mußten die beiden laut aufjauchzen und winken; aber nichts geschah. Sie sahen einen Augenblick still auf einander hin und gingen dann ruhig ihren Weg. Reinhard stand vor Enttäuschung der Atem still. Aus einer eben gelesenen Geschichte stießen ihm die Worte auf: »... sie strömten mit ihren Augen ineinander«, daß er wütend aus seinem Versteck sprang, einen Stein packte und ihn mit einer Verwünschung gegen den Stamm des Baumes schleuderte.

Auf dem Nachhausewege wurde er bald seine Wut los und lachte höhnisch triumphierend auf. »Du Gerberesel, tu dich doch nicht bloß so!« sprach er in sich hinein. »Was du kannst, kann ich schon lange.«


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