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Die Hingabe, mit der sich Damian in den oberen Gymnasialklassen der freiwilligen Lektüre der Schulklassiker gewidmet, und seine für einen Abiturienten geradezu glänzende Beherrschung der alten Sprachen, namentlich des Griechischen, war selbst seinen Lehrern als ungewöhnlich aufgefallen.
Tatsächlich war Damians eifervoller Eindringen in die Lebens- und Geisteswelt der alten Hellenen mehr als eine jugendliche Schwärmerei. Es rührte von seiner ihm gleichsam schon mit in die Windeln gelegten idealistischen Daseinbetrachtung her, die sich an dem hochgeschwungenen Wollen solcher Männer wie etwa eines Perikles leidenschaftlich entzündete.
Im Glauben seines Geistes und in der Zielsetzung seines Lebens von dieser klassisch bestimmten Heroenanschauung erfüllt, von der er gleichwohl noch nicht im entferntesten ahnte, zu welchen Forderungen für den Aufbau des Menschheitswesens sie ihn einmal führen würde, bezog er nun, im letzten Friedensjahre vor dem Weltkrieg, die Alma mater in Breslau.
Auf Grund einer der am »Schwarzen Brett« angeschlagenen Anzeigen mietete er sich bei Frau Kruttke, einer typischen Studentenmuttel, ein bescheiden ausmöbliertes Zimmerchen in der Altstadt, von wo er es nicht allzu weit zur Universität hatte. Hier fühlte er sich bald heimischer als in den menschenbelebten Straßen der großen Stadt, deren unruhiges und lärmvolles Wesen seiner stillen und stolz in sich verschlossenen Art nicht behagte. Auch wollte er sich möglichst wenig von seinen Büchern ablenken lassen, die er sich, sobald er wußte, welche er zum Studium benötige, teils käuflich erstand, teils der Universitätsbibliothek entlieh. In sie versenkte er sich so, daß sein Leben bald dem eines Klausners geglichen hätte, wäre er nicht genötigt gewesen, regelmäßig nach dem Stundenplan die Hörsäle zu besuchen.
Unvermeidlich freilich waren die Begegnungen mit ehemaligen Mitschülern, die gleich ihm die Heimatuniversität für ihr Studium gewählt hatten. Einer von ihnen, Wenzel Mielke aus Gersdorf, der sich mit ihm hatte in die philosophische Fakultät einschreiben lassen, um ebenfalls Altphilologie zu studieren, jedoch schon auf dem Gymnasium ein tüchtiger Zechbruder gewesen war, kam bald an Damian mit dem Vorschlag heran, seiner Verbindung beizutreten, in die er als Fuchs aufgenommen worden war.
Gerade an dem Nachmittag, an dem ihn Mielke in dieser Angelegenheit aufsuchte, saß Damian wieder einmal über seinem geliebten Plutarch, mit wahrem Feuereifer vertieft in seine Darstellung vom Leben des Perikles, jenes Mannes, der ihm schon in den letzten Gymnasialklassen weit über die vorgeschriebene Lektüre des Thucydides und den engen Rahmen des Geschichtsunterrichts hinaus zu einem festen Begriff und Vorbild höchsten Menschendaseins geworden war.
Trotzdem Damian Mielkes Vorschlag von vornherein ruhig, aber bestimmt ablehnte, schien sein Besucher davon nicht im geringsten beeindruckt, begann vielmehr erst recht zu drängen und die Vorteile auszumalen, die sich beruflich wie gesellschaftlich durch die Zugehörigkeit zu einer Verbindung eröffnen.
Da schlug Damian, dem der Unruhegeist in seiner Studierstube allmählich schon auf die Nerven fiel, den vor ihm liegenden Band Plutarch auf und las dem verdutzten Mielke statt aller Antwort daraus jene Stelle vor, in der es von Perikles' Lebensweise heißt, daß er jede Einladung zu Gastmählern abschlug und allen dergleichen fröhlichen Zusammenkünften und Gesellschaften entsagte, sobald er begonnen hatte, sich dem Staatsdienst zu widmen. »Denn«, so heiße es bei Plutarch, »lustige Gesellschaften können leicht jeden Stolz vernichten, und es ist schwer, im vertrauten Umgange Würde und Ansehen zu behaupten.«
Mielke suchte Damian vergeblich noch eine Weile mit hergebrachten Phrasen aus seinem ihm in einigen Kommersen angeflogenen Wortschatz einer mehr überheblichen und forcierten als männlichzuchtvollen studentischen Vorstellungswelt aus seiner Reserve herauszulocken, wurde schließlich ärgerlich, nannte ihn einen Stubenhocker und Bücherwurm, der wohl zeitlebens an Mutters Schürzenbändel hängen wolle, und zuletzt einfach einen Schwächling, der, das wisse man ja, ein Träumer und ein Schmachtfetzen sei, der irgendein langhaariges Wesen anhimmele, das freilich wohl nur in seiner Einbildung herumlaufe. Er, Mielke, sei für greifbare, reelle Werte, so eine filia hospitalis mit festem Fleisch und heißem Blut, die würde Damian schon ...
Mielke erstarb das Geschwätz, das er noch auf der Zunge hatte, wie abgeschnitten vor dem Gesicht Damians, der kalkweiß, aber sprungbereit wie ein Tiger, von seinem Stuhl hochgeschnellt war und nur mit einer heftigen Handbewegung den Wenzel so gebieterisch zum Zimmer hinauswies, daß dieser mit einem verlegen gestammelten »Na ja, schon gut, dann läßt du's eben bleiben«, sich beeilte, die Türe zwischen sich und den aufs äußerste gereizten Damian zu bringen und zu verschwinden.
Nach diesem Zwischenfall mit Wenzel Mielke suchte sich Damian noch hartnäckiger allen äußeren Einflüssen zu verschließen, deren er sich dennoch täglich von neuem erwehren mußte. Aber gleichviel ob er in dem von Studenten überfüllten »Goldenen Zepter« in sich abgekapselt am Mittagstisch saß, oder ob er aufs tiefste beeindruckt war von der ungewöhnlichen Eindringlichkeit des Vortrages eines einzigen Professors, jenes, bei dem er die Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie belegt hatte, – er konnte sich, kaum daß er die ersten Wochen des Semesters hinter sich gebracht hatte, nicht der Erkenntnis entziehen, daß die Zeiten endgültig vorüber waren, in denen er sich nach Schluß der Schule traumselig an sein eigenstes Wesen verlieren durfte. Weder das Leben in den Straßen noch der Geist in den Hörsälen bot ihm den geringsten Ersatz für das vielfältige Weben der Natur, dem er sich daheim in Wilkau mit allen Sinnen hingegeben hatte; ja, jeder Vogellaut, den er jetzt irgendwo vernahm, jeder Regenschauer, der an die Scheiben seiner Stube prasselte, ließ ihn erschrecken und trieb ihn fast zu der Zwangsvorstellung, er sei zu einem Menschentier geworden, zu einem Gefangenen in einem Steinkäfig, in den er noch dazu freiwillig hineingelaufen sei. Und selbst die Welt der Heroen, der hohen Menschengestalten, schien ihn nur genarrt zu haben. Denn von Tag zu Tag und von Woche zu Woche welkte ihm unter den Händen der Professoren die zauberhaft blühende Landschaft göttergleicher Schönheit, Anmut und Würde mehr und mehr dahin, die er sich im Geiste aufgebaut und seiner Sessi ins Herz gesenkt hatte. Was übrigblieb, war der bloße Stoff, der Wissensstoff, der zum Studienplan gehörte, und den der künftige Kandidat des höheren Schulamtes fürs Examen benötigte.
Es dauerte freilich eine Zeit, bis Damian erkannte, daß er dem Mahlstrom dieses unbeseelten Räderwerkes nicht entrinnen könne, sofern er sich nicht mit aller Kraft dagegen stemme. Aber dann wußte er auch schon, was allein ihn noch davor bewahren könne, entweder einer jener trockenen, geistig unbeweglichen Gelehrten zu werden, die vom Katheder herab dozieren, oder einer jener nicht minder leblosen Buchstabenmenschen und Pedanten, die er wie seine Schulkameraden als Pauker, als lächerliche Figuren angesehen hatte. Er durfte sich, ohne den geforderten Wissensstoff zu vernachlässigen, um keinen Preis die schwärmerischen Ideale seiner Jugend zertrümmern lassen, er mußte im Gegenteil gleich einem Rutengänger ihren Quellen nachspüren und, wo immer er die Rute ausschlagen fühlte, die Wasser freilegen, und wenn sich noch so felsiges Gestein darüber geschichtet haben mochte.
Dieser Entschluß festigte, beinahe unmerklich für ihn selbst, sein Selbstgefühl so, daß er sich allmählich immer weniger von alledem, was ihm den Universitätsbetrieb anfänglich verleidet hatte, beirren ließ. Zwischen dem Brotstudium, dem er nüchtern, aber mit nie nachlassendem Fleiß nachging, und seinem Seelenklima, wie er es bei sich nannte und wofür er sich, eine förmliche Diätetik verschrieb, zog er einen klaren Trennungsstrich. Dabei legte er sich kaum Rechenschaft darüber ab, in welch entscheidender Weise er sich darin bald durch die Universität selbst, und zwar durch die Vorlesungen jenes Professors gefördert sah, der ihn in die Geschichte der Philosophie einführte. Denn Damian fuhr fort, genau so leidenschaftlich und aufrichtig in der Idee zu leben, die, nach Platon, die einzige Wirklichkeit ist, wie er es, freilich nur aus einer höchst unklaren Gefühlswelt heraus, als Primaner in seinen Wilkauer Tagen getan hatte. Die Idee allein war für ihn das Leben, ihr hatte er sich gleichsam verschworen. Erst jetzt jedoch erhielt dieses Leben in der Idee für ihn Richtung und Ziel. Es war einer der wenigen Glücksfälle, die er in seinem ganzen Leben erfahren sollte, daß ihm durch den Mund jenes Philosophen, in dem er sich einem im Wesen wie in seiner seelischen Haltung ihm gleichgearteten Manne gegenübersah, die alten Denker Heraklit, Parmenides, Demokrit, und vor allem Sokrates nicht in der damals an den deutschen Hochschulen gemeinhin üblichen, im Grunde noch ganz schulmäßigen Art rein entwicklungsmäßig dargestellt, sondern wirklich philosophierend nahegebracht wurden. Dieser Gelehrte, erfüllt von einem geradezu glühenden Feuer des Idealismus, machte Ernst mit dem Gedanken der alten platonischen Akademie, die bei dem Schüler die Anlage zur Selbsttätigkeit des Denkens voraussetzte, ihn aus den Quellen selbst schöpfen, ihren philosophischen Gehalt selbst erdenken und damit gleichsam neu entdecken ließ. Dieses Kolleg wirkte, wie übrigens alle weiteren Vorlesungen seines von ihm bald wahrhaft verehrten Lehrers, auf Damian aber auch noch durch eine andere Eigenart als ein Erlebnis, das er noch niemals erfahren hatte. Es war das Erlebnis einer zündenden Beredsamkeit, mit der jener Feuerkopf an Stelle eines gesprochenen Lehrbuches aus einer in jedem Augenblick fühlbaren Anspannung seines gesamten Wesens etwa die Gestalt eines Sokrates greifbar vor Augen führte und seinen Hörern das Wachsen lebendiger Wahrheit zum Ereignis werden ließ. Sokratischer Geist, gepaart mit Perikleischer Rednergabe, das bedeutete für Damian die Erfüllung dessen, was ihm selbst fortan als ein Hochziel männlicher Vollkommenheit vorschwebte. Aber daß eines Tages das Samenkorn, das er hier auf der Alma mater aufgeschlossenen Sinnes in sich aufnahm, aus ihm aufbrechen und ihn in einer der schwersten Stunden nicht nur seines eigenen Lebens befähigen würde, das Gesetz seiner Persönlichkeit zu erfüllen, das lag auch ihm verschlossen im Schoße der Zeit.
Einstweilen richtete man im deutschen Vaterlande wie ganz besonders in Breslau die Blicke weniger in die Zukunft, von der sich die meisten Deutschen in ihrer schon fast genießerischen Lebenshaltung und geblendet vom äußeren Glanz der Monarchie ja nur eine sorgenlose und unbeschwerte Vorstellung machten, als zurück in die große Vergangenheit Preußens vor hundert Jahren, da Breslau der Ausgangspunkt für den Befreiungskrieg gegen Napoleon wurde. Die Erinnerung an diese stolze Zeit beging man in der einstigen königlichen Residenzstadt durch eine sich monatelang hinziehende Folge von Feiern und Veranstaltungen in einem Stil, dessen Großzügigkeit so imposant und dessen Eindruck so stark war, daß sich weder die Einheimischen noch die Fremden, die zu Tausenden der Jahrhundertausstellung wegen in die schlesische Hauptstadt kamen, sich dieser freudigen Atmosphäre der Gegenwart und der Entfaltung eines neuen deutschen Kunstwillens entziehen konnten.
Auch Damian wurde zwangsläufig vom Strom dieser Freudenwoge mitgerissen, und sie trug ihren Teil dazu bei, ihn aus seiner anfänglichen Abseitigkeit und Abschließung gegenüber der städtischen Umwelt herauszulocken, ohne ihn dadurch etwa seiner heroischen Gedankenwelt zu entfremden, im Gegenteil. Sein Geist fand in diesem Breslauer Feierjahr auf Schritt und Tritt neue Nahrung für das idealistische Feuer seiner achtzehnjährigen Jugend, das sich an den hohen Tugenden seiner antiken Vorbilder entzündet hatte. In den großartigen Ausstellungsgebäuden und namentlich in der größten, je von Menschenhand erbauten Festhalle erblickte er, vergleichbar den durch Jahrhunderte ragenden Zeugen griechischer Architektur, den Beginn eines neuen Zeitalters deutscher Baukunst; in der Beschwörung der Gestalten des Professors Steffens, der in flammender Rede der studentischen Jugend den Sinn der großen Stunde gedeutet hatte und mit ihnen zur Meldestelle für den freiwilligen Kriegsdienst gezogen war, oder in der Gestalt des ernsten Fichte, dessen Reden an die deutsche Nation damals die Herzen aller Patrioten erbeben ließ, sah er sich auf heimatlichem Boden gleichsam dem Geist des großen Redners und Volksführers Perikles gegenüber, und eine Hoffnung, daß sein Vaterland einer Wiedergeburt gleich hoher Menschengestalten entgegengehe, schwellte ihm die Brust. Am tiefsten aber berührten ihn, als er durch die Ausstellungssäle schritt, drei schlichte, vergilbte Blätter, die dort in einem der Schaukästen auslagen. Das eine war Heinrich von Kleists Sonett an die Königin Luise, das andere sein nach einer Riesengebirgsbesteigung gedichteter Hymnus an die Sonne, beide in der Handschrift des Dichters, das dritte eine Seite aus den Reden an die deutsche Nation in Fichtes eigener Niederschrift. Seltsam beglückt betrachtete er diese Blätter, welche zwei der größten Geister ihrer Zeit mit teuersten Gedenkzeichen beschworen, ohne daß er im geringsten ahnte, in welchen Augenblicken seines künftigen Lebens ebendiese Konfessionen des Dichters wie des Philosophen noch, einmal gleich Stimmen aus der eigenen Brust in ihm widertönen sollten.