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Neunzehntes Kapitel

Auf diese Weise ging die freie Zeit vorüber, die Damian von der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium bis zum Schulanfang blieb. Er erlebte die Dunkeltage, durch die sein Vater getrieben wurde, den verheimlichten Gram seiner Mutter, hatte hin und wieder die rätselhafte Empfindung, sein Vater erlösche vor ihm trotz seiner unbezweifelbaren Wirklichkeit und gehe nur wie eine Erscheinung durch das Haus, aber unter den gespannten Erwartungen auf sein neues Schulleben, den Besprechungen mit dem Lehrer Miecke, den vielen Besorgungen, die er natürlich in bunter Gespanntheit übertrieb, ging dieses unterirdische Zerwürfnis des Hauses an ihm fast spurlos vorüber. Nur manchmal überkam den innerlich bewegten Knaben eine geheimnisvolle Melancholie, daß er sich keinen anderen Rat wußte, als seiner Mutter an die Brust zu sinken, sie zu umklammern und leise zu weinen. Aber reden konnte er trotz des Zuspruchs und der Koseworte seiner Mutter über die Schwermut nicht, die er selbst nicht verstand, und an seinen Vater, der wie ein gütiger fremder Mann an ihm vorüberging, wagte er sich nicht mit seinen unbegreiflichen Kümmernissen. Der Gedanke an Reinhard Neefe kam nur einigemal wie ein saures Aufstoßen über ihn wegen der häßlichen letzten Schulmonate und der geradezu feindseligen Ferne, in die der Sohn des Grubeninspektors sich nach seiner mißglückten Aufnahmeprüfung zurückzog, nicht anders, als sei Damian an diesem Versagen in hinterhältiger Weise schuld. In dieser, mit dem Eintritt in das Rehberger Gymnasium, dem Eingewöhnen in die vollkommen neuen Verhältnisse und dem Kampf gegen manche Lücken seines Wissens verbundenen Unruhe gingen die ersten Wochen hin. Die regelmäßigen Fahrten auf der Elektrischen zwischen Wilkau und Rehberg mit dem vielfältigen Menschentreiben zerstreuten ihn oft auf die heiterste Weise und führten ihn in die neue Lebenswelt ein. Zu allem kam ihm die Natur zu Hilfe; denn die Empfindung, es gehe mit ihm in ein vollkommenes anderes Dasein hinein, kam immer öfter über ihn und vertiefte sich in dem Maße, wie der Frühling mit täglich neuen Wundern mehr und mehr von der Welt Besitz nahm.

Die Chaussee, auf der die Elektrische von Wilkau nach Rehberg fuhr, führte erst durch Scherichsdorf, immer an Gehöften und Häusern vorüber, die nie zu gedrängten städtischen Zeilen zusammengerückt waren, sondern so lose zu beiden Seiten der Straße standen, daß bebaute Feldstücke und Baumgärten sich dazwischen lagern konnten, durch deren Geäst auf der einen Seite der Zacken, auf der anderen Seite das Riesengebirge zu sehen war. Allein, sobald der nächste Ort Kunsdorf erreicht war, drängten sich die Gebäude enger aneinander, daß man meinen konnte, schon in der Stadt zu sein, noch ehe man Rehberg erreicht hatte.

Damian, den es knabenhaft, weltneugierig aus sich hinausdrängte, aus einer Enge und Bedrückung, die er fühlte, aber nicht begriff, kam die Gegend immer wieder neu vor, daß er sie mit hungrigen, unersättlichen Augen in sich aufnahm, bis ihm jedes Haus, jeder Baum und jedes Feldstück ein alter Bekannter war.

Aber wie verwandelte sich alles nach und nach!

Da kam die erste Knospenahnung über die Bäume, die ihre Kronen in noch verdumpfte Traumfarben tauchte und im hinstreifenden unruhigen Licht aufblitzen ließ, daß entfernte Goldweidensträucher feurig in Wiesen auf Augenblicke aufhüpften und die noch ferneren Wälder in blauer Versunkenheit regungslos standen, als warteten sie auf unbegreifliche Wunder. So fuhr Damian nicht nach Rehberg oder Wilkau, sondern in ein anderes, ein unsagbar anderes Dasein.

Ja, einmal war er dermaßen verzaubert, daß er an seiner Endstation, dem Schloßplatz, anstatt auszusteigen, geistesabwesend auf der Bank sitzenblieb und sogar das Abfahrtsklingeln überhörte, bis der Schaffner zur Tür hereinrief: »Nu, Maechlerle, wellst de denn heite bis of Trennsdorf fahrn?«

Da schrak Damian bestürzt auf und sprang aus dem schon fahrenden Wagen. Auf dem Wege durch die Rehberger Straße nach der Feldgasse hing die zauberhafte Beneblung noch immer in dem schlanken, hochaufgeschossenen Jungen, daß ihm das Atmen ordentlich glückhaft schwer wurde, bis die Anfangsworte eines vergessenen Gedichtes aus dem Paradiesgärtlein seines Herzens in ihm aufstiegen:

»Versunken ist die dunkle Nacht ...«

Die sprach er während des Heimganges immerfort wie eine Beschwörung, aber auch im Drang nach einer seligen Erwartung vor sich hin.

In diesem widersprechenden Gefühl, das doch auf rätselhafte Weise in ihm eins war, nahm er dann seine Schularbeit auf. Sein gesammelter Fleiß wurde von einem Schwung getragen, daß ihn die Schwierigkeiten in der Lösung dieser oder jener Aufgabe geradezu beglückten.

Indessen verwandelte der steigende Frühling die alte Erde in eine immer neue Wunderwelt. Die Bäume wurden zu grünen, immer dichter belaubten Fontänen, die sich in einen Himmel schleuderten, der zuzeiten so schwer blau war, daß er in seiner überträchtigen Seligkeit auf den Bergen ruhen mußte, um nicht auf die Erde zu sinken und die Menschen himmlisch zu begraben, denen es in unfaßbarer Bedrängnis oft schwer wurde zu atmen. Jedes Blatt der Bäume schien zu singen, jedes, auch das kleinste Sträuchlein hatte seine beglückte Vogelstimme. Der lange verhaltene, zaudernde Gebirgsfrühling brach plötzlich mit einer solchen Fülle über die Erde los, daß die Wiesen kaum Raum genug aufbringen konnten, die Blumen zu fassen, die aus ihnen hervorbrachen, und Damian mußte die Augen einkneifen, weil ihn sein voller Blick in eine Art bewußtlosen Rausch versetzte.

An einem klaren Abende war der Gerberjunge auf das Feld gegen die Hardte hin gelaufen, von wo aus man den triumphierenden Zug des Riesengebirges völliger unter dem Himmel hinwogen sah. Da begannen die Turmglocken Wilkaus mit dem Abendgeläut, erst die katholische und dann die evangelische Kirche, und Damian war es, daß die Glockenklänge, die ja wohl der ganzen Welt galten, doch eigentlich nur für das Gebirge bestimmt seien und geraden Weges durch die Luft darauflos brandeten, und der märchenhaft befangene Junge war begierig zu erfahren, was geschehen würde, wenn die Töne wirklich das mohnblaue Gebirge berührten. Jetzt mußten sie seiner Seelensicherheit nach dort angelangt sein. In diesem Augenblick quoll aus dem makellosen Himmel eine engelhaft weiße schleierzarte Wolke, die bei jedem Schlag der Glocken leise erzitterte und beim Aufhören des Geläutes langsam wieder erlosch.

Der Gerberjunge war von dieser Beobachtung ganz ergriffen, und auf dem Heimgange durch den dunkelnden Abendfrieden sann er, wie herrlich, es doch sei, daß Menschen bis in den Himmel hinein solche Wunder schaffen könnten. Für sich aber wünschte sich Damian, daß ihm selber so etwas auch möglich sei und geschenkt würde und die noch tiefer als alle Erdenschönheit selige Erwartung sich in ihm erfüllte. Dieser Wunsch aber war so seelenheimlich in ihm, daß er aus Scheu nicht wagte, ihn sich klar zu gestehen. Er lag an diesem Abend bei geöffneten Fenstern lange wachverwunschen im Bett, hörte draußen Traumklänge in der Nacht und sah dann eine weiße Wolke hinschweben, die zuletzt wirklich Engelsgestalt hatte und sogar auf ihn zukam. Das beglückte ihn dergestalt, daß er lächelnd in den Schlaf hinübergenommen wurde, weil sein waches Leben sich nicht mehr zu helfen wußte.

Auf diesem Traumwagen wurde Damian durch die Wochen bis in die Nähe von Pfingsten gefahren. Sein von der Tiefe her bestimmter, fast andächtiger Fleiß verwandelte seine Situation in der Schule dermaßen günstig, daß die abwartende Zurückhaltung der Lehrer in gütiges Wohlwollen sich verkehrte. Die Zensuren Damians besserten sich von Woche zu Woche, er rückte von Platz zu Platz aufwärts, und wenn nun das eintönige kasernenmäßige alte Gebäude des Gymnasiums vor ihm auftauchte, wurde ihm richtig warm im Gemüt vor froher Erwartung.

So befestigte sich Damian in seinem neuen Dasein immer sicherer und freier, und das geheimnisvolle Wolkenschleierchen, das vor den Augen seiner Sehnsucht an dem Abend an der Hardte die Klänge der Kirchenglocken über dem Riesengebirge aus dem Himmel gezaubert hatte, erlosch nie ganz in seinem Innern. In Zeiten tiefer Selbstversunkenheit, die ja eigentlich die Seligkeit der Jugend überhaupt ausmachen, durfte er die Augen nur schließen, so tauchte das weiße zitternde Wolkenschleierchen vor ihm auf und schwebte auf ihn zu, daß er von einem unbeschreiblichen Glücksempfinden ergriffen wurde.

An dem Freitag vor Pfingsten war diese sonnenhafte Verwirrung seines Lebens dermaßen stark, daß er es im Hause nicht aushielt und in das Vorgärtchen eilte. Da hörte er von dem nicht zu fernen Kurplatze die Musik des Nachmittagskonzertes leise aufklingen. Und obwohl er sich bis jetzt das Betreten der Promenade streng versagt hatte, um nicht in seiner Arbeitssammlung gestört zu werden, drängte es ihn nun die Feldgasse hinunter, auf die Rehberger Straße, über den Schloßplatz in die Kuranlagen hinein in der Hoffnung, da diese unbesiegliche Spannung loszuwerden.

Damian betrat in dem Augenblick den Kurplatz, als der Dirigent Stiller aus der Kapelle einen Militärmarsch herausriß. Gerade als der traumbeladene Dreizehnjährling an dem Musikpavillon angelangt war, platzte ein solch geballter Losbruch, des kriegerischen Triumphes auf ihn ein, daß er wie von einem unvermuteten Stoß zusammenfuhr. Mit schnellen Schritten floh er aus dem Geprassel der Instrumente auf einen Seitenweg, der an der Hinterwand des Musikhäuschens hinführte und in einen etwas abseitigen Gang mündete, der auf beiden Seiten von dichtem Schwarzbuchengezweig überhangen war. Dort überließ er sich einem behaglichen Schlendern, das unwillkürlich noch etwas von dem Rhythmus der gedämpften Marschmusik beeinflußt wurde. Und als sie unter Paukengedröhn verstummt war, setzte er sich auf eine Bank mit der Aussicht auf die breite Hauptpromenade des Kurplatzes.

Das gemächliche Hin- und Widerwandeln der noch nicht allzu zahlreichen Badegäste, das Damian durch das Schwarzbuchengeäst so beobachten konnte, daß er von niemand gesehen wurde, bescherte dem Knaben ein tiefes Behagen. Dazu spielte die Kurkapelle eine sentimentale Serenade mit einem Flötensolo, daß Damians junges Herz von dem Gefühl schmerzlicher Verlassenheit selig berührt wurde.

In dieser Verfassung sah er drüben unter den Spaziergängern eine hohe Männergestalt auftauchen. Sie kam soldatisch gereckt mit langen, energischen Schritten aus dem schmalen Fichtenstreifen über dem Schloßteich und steuerte so überheblich in das kleinbürgerliche Gewudel der Badegäste hinein, daß der und der betroffen zur Seite trat. An seiner Seite ging ein weißgekleidetes Mädchen, dem eine gewellte Flut dunkler Haare über den halben Rücken floß. Sie war hoch und schön, fast an die Grenze der Mädchenhaftigkeit gewachsen und hatte alle Mühe, dem rücksichtslos dahinschreitenden Manne zur Seite zu bleiben, zu dem sie, wie ängstlich bittend, immer wieder aufsah. Eine kurze Weile war es Damian möglich, etwas von ihrem Gesicht zu erhaschen. Es kam ihm vor, daß es blaß und sehr schön sei. Aber was sie für Augen hatte, konnte er nicht sehen, so schnell wurde sie von den Schritten des Mannes fortgerissen, der nun unvermutet stehenblieb, auf das Mädchen ein paar Worte niedersprach und mit dem Arm nach dem Ende des Kurparks auf das Blockhaus wies, gleichgültig über ihr Haar strich und sie eilenden Schrittes auf einem Nebenweg verließ, der auf den Schwarzbuchengang zuführte, an dem Damian in Erschütterung über die Lieblosigkeit des unbekannten Mannes und die Niedergeschlagenheit des schönen Mädchens saß, das eine Weile ratlos stand und dann aufrecht und gehalten gegen den Ausgang des Parkes, wie ihr befohlen worden war, zuwandelte.

Damian war über das unbegreifliche Zerwürfnis, dessen Zeuge er von fern geworden war, bis nahe in die Verwirrung berührt, die seit langem aus der Tiefe rätselhaft in sein Leben heraufdrängte. Und wie er noch betroffen vor sich niederstarrte, störten ihn eilige, feste Schritte auf. Da ging auch schon derselbe Mann an ihm vorüber, der eben das schöne Mädchen drüben auf der Hauptpromenade so lieblos verlassen hatte, sah ihn nach einem Erkennungszucken verächtlich an und verschwand auf dem schmalen Steige hinter dem Kurhaus, der am Breslauer Hof vorüber, in die Weinstube des »Goldenen Greif« führte.

Er bog mit einem so eigentümlichen Ruck der Schultern um die Ecke, daß Damian plötzlich wußte, es sei der böse Freiherr von Schillingkhoff, der einst in der Stube des Gerberhauses mit seinem Vater so gebrüllt hatte. Und infolge der Sinnlichkeit seines Geistes hörte er sogar dessen Stimme aus der Erinnerung von innen an sein Ohr schlagen. Ja, mit eins sah er leibhaftig ein unendlich schönes Mädchen vor sich, dem er ein Blättchen in die glücklich zagende Hand drückte.

»Mein Gott, mein lieber Gott«, stammelte Damian, in seine früheste himmlische Entzückung zurücktauchend, das war ja Sessi, jenes Engelswesen, das ihn einst in eine unbeschreibliche Beseligung gehoben hatte, deren Bild dann in immer dichterer Krankheitsfinsternis erloschen war und die ihm endlich wieder in die Lichtverzauberung des Lebens geholfen hatte. Alles das brach blitzartig aus seiner Tiefe auf ihn ein, daß er ohne Besinnen von seiner Bank aufsprang und, durch alle Glieder bebend, Sessi in der Richtung nacheilte, in die sie von ihrem Vater gewiesen worden war. Von weitem sah er sie unschlüssig am Ausgang des Parkes stehen und mit einer Hand am Zaun herumgreifen.

»Sessi, Sessi, dreh dich um!« rief es in ihm. Aber sie hörte den inbrünstigen Ruf seines Herzens nicht, obwohl doch die ganze Welt um sie ins Lodern des Frühlings aufgeflammt war. Da trat er endlich hinter dem Strauch hervor und ging auf sie zu. Allein, kaum daß er einige zaghafte Schritte getan hatte, drehte sie sich um, sah gemessen nach ihm hin, fuhr mit der Hand ordnend über ihr Haar und ging dann, ohne noch einmal zurückzuschauen, als sei er ein vollkommen Fremder, in den waldmäßig gehaltenen Teil des Parkes, der an das Füllnerwerk grenzt.

Damian folgte unauffällig und ließ die Entfernung zwischen sich und ihr immer größer werden in der Hoffnung, daß sie sich einmal auf einer Bank niederlassen und es ihm möglich sein werde, an ihr vorüberzugehen und sie nahe zu sehen. Aber jedesmal, wenn sie sich setzte, fing sein Herz dermaßen an zu schlagen, daß der arme Junge richtig ins Taumeln geriet. Auf einmal, wie das geschehen war, wußte der lebensberauschte Knabe nicht, war Sessi verschwunden und nicht mehr zu finden, obwohl er den Park durch alle Winkel abjagte. Während des Preschens machte er sich die bittersten Vorwürfe, daß ihm nun ganz recht geschehe, weil er Sessi über seiner jahrelangen Schulbesessenheit ganz vergessen hatte. Zuletzt war Damian von dem ununterbrochenen Suchen so ermüdet, daß er vor dem Schloßteich stehenblieb, in leerer Neugier dem Treiben der Zierenten zusah oder ratlos nur in das stille Wasser starrte.

Indes, die Musik war längst verstummt, rüstete sich der absinkende Tag zum Abend, und der Spiegel des Teiches begann von der scheidenden Sonne sich rot zu überhauchen. Da tauchte wie eine Sendung des Himmels das Spiegelbild Sessis im Wasser auf, sah ihn voll an, wandelte vorüber und war, kaum daß er einmal tief atmen konnte, verschwunden.

In seligem Erschrecken lief er davon, um es nicht zu verlieren.

Und wirklich, Damian verlor das Bild Sessis, des Mädchens, das ihn einst von der Schwelle des Todes ins Leben zurückgerufen, nicht, diese Nacht nicht und den ganzen anderen Tag nicht. Als er aufstand, war es noch lebendig in ihm, so, als habe es vom Anfang seines Lebens darin gewohnt, und die Schritte, die er jetzt ging, rührten von seiner Geburt her.

In diesem Taumel lebte Damian den ganzen Tag über, ging umher und wußte dann nicht, wo er gewesen war, arbeitete und verstand nicht, was er tat, und sagte in sich ein Lied, das er noch nicht zu sprechen vermochte. Er mühte sich darum, in der Sehnsucht, aus einem Seligkeitsverlangen in ein noch tieferes zu kommen. Allein Stunden hindurch blieb es nur bei den Worten, die er einst vor Wochen vor der Haltestelle der Elektrischen bis in das Gerberhaus in Glück vor sich hin gesagt hatte:

»Versunken ist die dunkle Nacht.«

Weiter vermochte er in das Geheimnis, das nahe in ihm leuchtete, nicht vorzudringen. Er fiel der Mutter um den Hals und flüsterte es ihr verschämt ins Ohr. Aber als sie ihn fragte, was das zu bedeuten habe, lief er in glücklicher Verwirrung lachend davon, aus dem Hause, durchs Vorgärtchen, die Feldstraße hin, am Zacken hinunter, bis er erschöpft nicht mehr weiter konnte und sich auf einen Stein setzen mußte. Die Welt drehte sich um ihn und mit dem letzten Atem, an dem er fast erstickte, stotterte er in sich hinein:

»Versunken ist die dunkle Nacht.«

Er hörte wohl den Rhythmus in sich selig weiterklingen, die Worte aber fand er nicht, die das unendliche Geheimnis in ihm offenbarten.

Ja, es nutzte auch nichts, daß er an die geöffnete Werkstattür trat und die Worte laut, wie ein Kommando in den Raum rief, in dem sein Vater und die beiden Gesellen an den Schabbäumen arbeiteten. Keinem von den drei Männern fiel das zwiegriffige Schabmesser erschüttert aus den Händen, wie es doch hätte sein müssen. Nein, sie drehten sich nur gleichgültig um und lächelten über seine kindische Schulverrücktheit. So mußte der arme Junge weiterringen bis in den beginnenden Abend hinein. Da war er in sich wie ein ausgelaufenes Wasser und lehnte sich in weichem Ermatten zum Fenster seines Mansardenstübchens hinaus. Das Abendrot stieg hinter dem Walde des Scholzenberges herauf und besänftigte seine Leidenschaft zu solch gesammelter Verklärtheit, daß er das, was in ihm gewogt hatte, endlich traumwach sprechen konnte:

»Versunken ist die dunkle Nacht,
und was von fernher glüht und blüht,
das ist die sel'ge Zaubermacht,
die himmlisch leitet mein Gemüt.«

Furchtsam, mit tiefem Erschrecken sprach der Junge die Worte, die unbegreiflich aus ihm drangen und zugleich auch von dem Abendrot herzurühren schienen. Je öfter er die köstlichen Worte vor sich hin sagte, desto vollkommener verwandelte eine magische Entrücktheit die ganze Welt um ihn, daß er nicht mehr wußte, wo er war, und die Bilder seines Innern leibhaft vor sich sah.

Da geschah zuletzt das Wunder, daß Sessi drunten in ihrem hohen schönen Gange vorüberwandelte und zu ihm heraufsah, und mit eins wurde aus der Gedichtstrophe das triumphierende Sessilied, das er einst in der ausgehenden Kindheit unermüdlich gesungen hatte.

Sein Vater Jochen erging sich drunten im Vorgärtchen nach dem Arbeitsende beim Schein des Abendrots und verlangsamte einen um den anderen Schritt beim Singen seines Sohnes. Als aber der Name Sessi glückhaft-leidenschaftlich immer und immer wiederkehrte, machte er mit dem rechten Arm eine abwehrende Bewegung, als verscheuche er das Andringen eines unangenehmen Insekts.

*

Wir sehen am Himmel Wolkenschichten übereinanderliegen, die sich in verschiedenen Richtungen, ja oft sogar gegeneinander bewegen. In der höchsten Tiefe, hinter aller Wolkenruhe wölbt sich das Blau des Himmels, aus dem, als Folge unseres Glaubens an Gott, doch alle Wanderheere der Wolken, aller rastlose Wirbel der Bewegung auf dieser Erde herrühren. Wir glauben das mit einer außerweltlichen Sicherheit, nach der alle Wissenschaft mit immer neuen Erkenntnissymbolen tastet und nie aufhören kann, das zu tun. Die letzte Ursache aller Gestaltbewegung ist auch fern, ganz entrückt, wie in des Menschen Wesenstiefe die Seele, durch die auch alle Lebensunruhe und Bewegung möglich wird und die doch selbst ohne Bewegung und Schicksal ist. Und wie am Himmel die Wolkendecke aus gegeneinanderströmenden Schichten besteht, webt sich aus dem Innern jedes Menschen sein Schicksal; denn des Menschen zeitgebundenes Wesen besteht eben wie die Wolkendecke des Himmels aus verschiedenen, oft gegeneinander treibenden Schichten, die nicht mit seiner leiblichen Geburt beginnen, sondern tief in Generationen zurückreichen, daß es sich oft dem Zugriff des geistigen Lenkerwillens und dem Licht der Erkennbarkeit durch das Bewußtsein entzieht. Es ist unserm wachen Willen unerreichbar und ruht in den Urgründen unseres tiefgestuften Wesens, als sei es vor allem Anfang darin gewesen. Es ist eine Musik, die auf uns selber spielt, uns in uns selbst erfüllend bewegt, die keine Pläne macht, sich keine Wege nach bestimmten Zielen vorschreibt. Sie wird von ihren eigenen Flügeln getragen und fragt nicht, wohin die Wanderung gehe. Das sind die Unausweichlichkeiten des Daseins, denen alle unterworfen sind, auch die ganz einfachen Menschen.

Von daher allein stammte die Gebundenheit des Gerberjungen Damian Maechler an Susanne von Schillingkhoff, genannt Sessi.

In den Pfingstfeiertagen bemühte sich Damian unausgesetzt, Sessi aufzuspüren und hinter ihr her zu sein wie ein Schatten. Vor sich selbst entschuldigte er diese hartnäckige Verfolgung des schönen Mädchens mit der Verpflichtung zum Dank, daß sie ihn vor Jahren in seiner schweren Krankheit besucht und eigentlich dadurch wieder ins Leben geführt hatte. Allein es gelang dem scheuen Jungen nicht, ihr nahe zu kommen. Entweder war sie an der Seite ihres Vaters oder in Begleitung ihrer vornehmen, stolzen Mutter, daß sich Damian schleunigst hinter eine Hausecke oder einen Baum drückte, um wenigstens etwas von dem Klang ihrer Stimme zu erhaschen, die nun immer lauter in betörender Lieblichkeit aus der Vergangenheit in ihm selber auftönte. Er fand sie wohl einmal allein im Feld auf einem Rain sitzen, und näherte sich ihr fast auf den Zehen so vorsichtig, wie etwa ein Vogelsteller einen seltenen scheuen Vogel anschleicht. Ja, unter Herzklopfen war er ihr schon ein ganzes Stück näher gekommen, da ließ Sessi von dem Spiel mit Wiesenblumen ab, die sie zu einem Strauß ordnete, ruckte leidenschaftlich ihr Gesicht nach Damian hin und sah ihn bestürzt einen Augenblick an. Die Blumen glitten ihr aus der Hand. Dann sprang sie auf und eilte laufend davon, als sei nach ihr gerufen worden. Dabei war weit und breit niemand zu sehen. Damian war so betroffen, daß er gar nicht den Mut aufbrachte, ihr nachzulaufen. Behutsam näherte er sich der Stelle, wo sie gesessen hatte, und betrachtete das eingedrückte Gras. Die Blumen wagte er vorerst nicht zu berühren, bis ihm seine Einbildung glückhaft vorgaukelte, Sessi habe den Strauß als Gruß an ihn absichtlich liegen lassen. Trotzdem wagte er, weil es ihm zu anmaßlich schien, ihn nicht mit nach Hause zu nehmen, auch weil er dann alles der Mutter hätte sagen müssen. Darum trug er die Blumen an eine feuchte Stelle unters Gebüsch und bettete sie dort sorgfältig und geheim.

Noch vor Ablauf der Ferien wurde Damian Sessis, allerdings auch nur mit den Augen, habhaft. Er hatte mehr als eine Stunde am Eingang zum Kurpark dem Haus »Bazar« gegenüber gelauert, wo die Familie von Schillingkhoff damals wohnte, als gegen den Abend hin das Mädchen unter der Haustür erschien und auf und ab spähte, wohl weil sie jemand erwartete. Als sie Damian erblickte, erblaßte ihr Gesicht und wurde bekümmert. In diesem Augenblick flog von der Trennsdorfer Straße her ihre Freundin lachend auf sie zu. Die beiden umarmten und küßten sich.

Der betörte Damian bezog das auf sich, und sein Herz jubelte.

Von solchen seligen Schleiern seiner jungen Daseinbeglückung war für ihn das Mädchen Sessi umwoben, eine Sonne, die aus seinem eigenen Innern blühte, recht eigentlich das Wesen seines Wesens und deswegen unverlierbar. Er besaß sie wie seinen Herzschlag und seinen Atem und er durfte nur an sie denken, so stand er und sein ganzes Leben und alles, was er wollte und tat, in einem Licht, das nicht von dieser Erde war.

Mit diesem Schwunge ging Damian nach den Ferien aufs neue in seine Schularbeit. Sein Fleiß hatte einen noch vertiefteren Trieb erhalten, denn nun war alles ein Dienst um Sessi, so daß jedes Gelingen ihn ihr näher brachte, jedes Versagen sie beschattete. Da war es auch erklärlich, daß Damian die zeitweilige Melancholie und Bekümmernis in Sessis Gesicht sich und seinem gelegentlichen Unvermögen zuschrieb. Denn von der Zerrüttung in der Schillingkhoffschen Familie konnte der Maechlerjunge nichts wissen.


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