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Achtes Kapitel

Eine Woche nach Kriegsausbruch erschien Damian, ohne sich angemeldet zu haben, wieder im Gerberhaus, vom Vater nur mit einem warmen, etwas müden Aufleuchten seiner Augen und einem festen Händedruck, von Mutter Christel stürmisch und aufatmend begrüßt. Blaß und übernächtig sah er aus, richtig wie einer, hinter dem drei Monate anstrengender Studienzeit liegen. Aber auch in seinem Wesen gefiel er Christel gar nicht, denn nicht wie sonst zu Hause gab er sich, noch dazu in der Aussicht auf lange Ferienwochen, unbeschwert und aufgeschlossen. Verdrossen und wortkarg trödelte er durch die Stuben. Nicht einmal als die Mutter ihm gleich am ersten Abend von Sessi erzählte, die im Langen Hause, das vom Grafen Schilling als Lazarett zur Verfügung gestellt worden war, an einem Kurs zur Ausbildung als Rote-Kreuz-Helferin teilnehme, taute er auf, ja es schien ihr sogar, als wenn ihn diese Neuigkeit eher noch verdrießlicher stimmte.

Als lebenskluge Frau sagte sich Christel, daß es am besten wäre, wenn sie ihren Damian erst einmal ungestört dem Verdruß, mit dem beladen er heimgekommen war, solange überließe, bis er von selbst Anstalten machen würde, sich darüber auszusprechen. Bestimmt würde er es nicht lange aushalten, so verknorzt herumzulaufen und seinen Kummer in sich hineinzufressen, dafür kannte sie Damian zu gut.

Schon am anderen Nachmittag bei der Vesper, als sich Meister Jochen bereits wieder aus der Wohnküche in die Werkstatt begeben hatte, war es soweit. Als Damian nach dem eben ins Haus gebrachten »Boten aus dem Riesengebirge« griff, worauf die Mutter sagte: »Was gibt es denn heute Neues über unseren Einmarsch in Belgien?«, warf Damian die Zeitung heftig auf den Tisch, schlug die Hände vors Gesicht und fing so hemmungslos zu schluchzen an, daß Mutter Christel erst ganz erschrocken eine Weile regungslos dabeisaß, ehe sie sich aufraffen konnte, ihm gütig und schon verstehend übers weiche blonde Haar zu streichen und ihm zuzureden, ihr nun endlich sein Herz auszuschütten.

»Was hat's denn mit dir, Damianlein?« fragte sie ihn zärtlich, und als auch das nichts nutzte, fügte sie hinzu:

»Du bist ja noch so jung, du lieber Kerl, du wirst schon noch zurechtkommen für die da draußen an der Front. Weißt du, Vater sagt, und er hat ja leider bis jetzt recht behalten mit allem, der Krieg ist zu Weihnachten noch lange nicht zu Ende. Also nimm's dir nicht so zu Herzen, wenn sie dich nicht genommen haben.«

Da brach es verzweiflungsvoll aus Damian heraus. Er hatte sich gleich am ersten Mobilmachungstag in der Kaserne der Einundfünfziger gemeldet, dort zunächst, doch vergeblich, nach Walter gefragt, der, wie er erfuhr, mit seiner Kompanie schon verladen wurde, hatte an diesem Tage und auch am nächsten und übernächsten unverrichteterdinge wieder losziehen müssen, da bei dem Hochbetrieb der Reservisteneinkleidung kein Mensch sich mit den zu Hunderten herbeigeströmten Freiwilligen abgeben konnte und durfte, um schließlich am vierten Tage nach einer raschen Untersuchung durch einen Stabsarzt wegen ungenügendem Brustumfang und einem leichten Herzklappenfehler, von dem er selbst keine Ahnung hatte, für noch nicht tauglich befunden zu werden. Nach einem halben Jahr könne er es ja noch einmal versuchen, war der schwache Trost, mit dem ihn der Stabsarzt entließ, als er merkte, daß Damian von seinem Spruch wie verdonnert und todunglücklich dastand.

Während Damian mit noch immer tränenerstickter Stimme dies alles vorbrachte, dachte Mutter Christel bei sich: ›Was für eine Leidenschaft doch in dem Jungen steckt. Jetzt stößt ihn wahrhaftig noch der Bock, und er meint womöglich im Ernst, ohne ihn sei der Krieg schon so gut wie verloren. Von mir hat er dieses stürmische, mit dem Kopf-durch-die-Wand-wollen nicht, und vom Vater erst recht nicht. Aber so, denke ich mir, wird der Großvater Nathanael in seiner Jugend gewesen sein, als er sich, glühend vor Begeisterung im Badischen zu Heckers Volkswehr meldete, um für eine Freiheit zu kämpfen, die sie dann doch nicht erringen konnten.‹ Wie oft hatte er nicht mit ihr in seinen letzten Lebensjahren auf dem selbstgezimmerten Bänklein im Berggarten gesessen und von seiner hochfliegenden Jugend geplauscht wie von einem fernen, aber unvergeßlich schönen Traum.

»Liebster Damian«, redete ihm Christel, von dieser Erinnerung geführt zu, als der Junge seinen Gram wie ein Verschmachtender eine trübe Pfütze ausgeschöpft hatte, »deinen seligen Großvater, der in seiner Jugend ein Brausekopf war wie du, hat das Leben nicht einmal, sondern hundertmal gebeutelt und aufgeschlagen, daß er nicht mehr aus und ein wußte und am liebsten auf der Stelle gestorben wäre; und doch hat er sich dann noch jedesmal wieder aufgerafft und die Knüppel, die ihm vom Leben vor die Füße geworfen wurden, zertreten. Ich habe mir einen Spruch von ihm gemerkt, der ihn von Jugend auf durchs Leben begleitet und an dem er sich immer wieder aufgerichtet hat.«

Und zum erstenmal in seinem Leben erfuhr Damian jetzt aus dem Munde der Mutter, die seine Hände ergriffen hatte und zärtlich in den ihren hielt, die ehrwürdigen Verse, die dem Großvater Nathanael schon als Knabe von seiner Mutter gelehrt worden waren und mit denen er so oft in seinen wilden Rebellenjahren nach dem Himmel gegriffen hatte:

»Laß mich, wenn ich hier geschlafen,
Wieder gehen meine Straßen.
Schicke mir durch meinen Fleiß,
Was bei dir steht hoch im Preis.

Guten Willens eine Tracht
Lad mir auf in dieser Nacht.
Stets mein Herr und stets dein Knecht,
Droben Gnade, drunten Recht.«

»Siehst du, Damian, das mußt du glauben, aus tiefster Seele, dann wirst du niemals verzweifeln im Leben, und wenn es Steine hagelt.«

Hingenommen lauschte Damian der tiefen Glaubenszuversicht dieses Gebets seiner Vorfahren, das ihn seltsam ergriff, wie es ihm die Mutter schlicht und eindringlich vorsprach. Auf eine unbegreifliche Weise löste sich schon vom Klang dieser Worte der Krampf seines Gemüts, noch ehe er imstande war, ihren Sinn zu erfassen. Nur eines fühlte er, daß dieser Anruf ihn persönlich traf wie einen Kleinmütigen, der vor einer unerwarteten Widrigkeit des Lebens verzagt, statt sich in jedem Augenblicke reinen Herzens der Führung durch den Höchsten zu überlassen. »Droben Gnade«, hieß es nicht so? Aber genau das war ihm doch widerfahren. Wie Schuppen fiel es ihm jetzt von den Augen, als habe es nur jener Zauberworte bedurft, ihn seiner Seelenblindheit zu entreißen: was er damals für einen bloßen Glückszufall gehalten, seine Rettung vom Tode des Ertrinkens, das hatte die Vorsehung gefügt. Und gehörte nicht vielleicht sogar auch die Person seines Retters in den Plan der Vorsehung? Hatte er nicht sein Zerwürfnis mit Reinhard oft genug schmerzlich empfunden und in Walter gerade zur rechten Zeit und ohne sein Zutun einen neuen Freund gefunden? Hatte ihn Walter nicht eigentlich in doppeltem Sinne dem Leben wiedergewonnen? Jawohl, die Gnade, überhaupt noch zu atmen und das große Geschehen der Zeit mit allen Fasern seines Herzens miterleben und mitfühlen zu können, beides verdankte er allein Walter und somit der Hand der Vorsehung. Was wog es dagegen schon, wenn ihm sein Wunsch, dem Vaterland mit der Waffe dienen zu dürfen, nicht sofort gewährt wurde! Sicherlich verbarg sich auch hinter diesem Hindernis eine Absicht jener höheren Macht, die das Schicksal jedes einzelnen Menschen nach ewig unerforschlichen Gesetzen lenkt.

Während alle diese Gedanken und Empfindungen wie ein Wirbel auf Damian einstürmten, ohne daß er fähig gewesen wäre, sie in Worte zu kleiden, verhielt sich auch Mutter Christel, deren Hände noch immer die seinen umschlossen, als wolle sie den Strom von Glaubenszuversicht, den der Spruch der Ahnen aus ihrem Munde in Damian geweckt, nicht unterbrechen, hauchstill und betrachtete nur aufmerksam das Gesicht ihres Jungen, der ihr mit geschlossenen Augen gegenübersaß.

Nach einer Weile ging es wie ein Erwachen über seine Züge, er schlug die Lider auf, schaute ihr mit klaren Augen entgegen, reckte sich auf und begann, ohne zunächst noch mit einem Wort auf seine Zurückstellung von der Truppe zurückzukommen, der Mutter ernst und gesammelt von seinem Ergehen in Breslau in den vergangenen Wochen zu erzählen, über das er sich vor ihr so ganz gegen seine Gewohnheit bis heute ausgeschwiegen habe: von seinem immer stärker gewordenen Gefühl der Vereinsamung ohne einen gleichgesinnten Kameraden; von dem beinahe tödlichen Ausgang seiner Sonntagswanderung; seiner wunderbaren Rettung durch den Leutnant, in dem er bald den herrlichsten Freund gefunden habe, den man sich denken könne, und dessen Zuspruch und überlegene Einsicht in das, was nun die Völker erschüttere, ihm mehr geholfen habe, als er ihr mit Worten erklären könne.

Obwohl Damian auch jetzt noch in einer fast; schamhaften Zurückhaltung kein Wort davon verlauten ließ, in welch bedeutsamem Licht er nun, nach dem Stoß, den ihm der Spruch der Ahnen versetzt hatte, all das sah, was ihm in den letzten Wochen widerfahren, spürte Mutter Christel doch ganz genau, was in Damian in diesen Minuten vorgegangen war. Deshalb wunderte sie sich auch nicht im geringsten, als er ihr schließlich wie zum Dank die Hände küßte und mit gefestigter Stimme ankündigte, daß er jetzt wieder ganz gelassen in die Welt blicke und willens sei, sich nicht mehr einen Augenblick wegen seiner Zurückstellung zu grämen, sondern im Gegenteil unbeirrt und mit verdoppeltem Eifer sein Studium fortzusetzen. Nach wie vor freilich ginge sein heißester Wunsch dahin, mit ins Feld ziehen zu können, aber das müsse man eben abwarten. Dabei leuchtete es froh und zuversichtlich in seinen Augen auf: »Von Stund an gibt es für mich nur noch unseren alten Spruch:

Stets mein Herr und stets dein Knecht,
Droben Gnade, drunten Recht!«


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