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Zweiundzwanzigstes Kapitel

In Damian wirkte die Volksratszeit mit ihrem trivialen Ausgang seines leidenschaftlich-erzieherischen Einsatzes in hohem Maße erregend fort. Aus dem ganzen bisherigen Verlauf der Revolution und dem Fiasko seines eigenen Versuchs, sittlich auf das Volk zu wirken, hatte er einsehen müssen, daß die Menge nicht zur Selbstverantwortung zu bringen ist, weil sie Freiheit mit ungehemmtem Streben nach persönlichem Vorteil, Gleichheit nicht göttlich transzendent, sondern irdisch mit dem Stand und der Mißgunst den Reichen gegenüber verwechselt. Die Menschen, auch das hatte ihn ihr Verhalten in der Feuerprobe des deutschen Zusammenbruchs und der Revolution gelehrt, geben idealen Gründen nur allzu leicht den Laufpaß oder schützen sie nur äußerlich vor, um den fast geilen Idealismus damit zu verheimlichen, dem selten etwas Großes eigen ist, der vielmehr meistens dem Neid des Tieres im Kampf um den Freßnapf ähnlich sieht.

Gleich einer Schnecke, die sich zu weit aus ihrem Gehäuse hervorgewagt, zog er sich jetzt entmutigt und verletzt von jeder Berührung mit der politischen Gegenwart zurück und warf sich von neuem auf das so lange unterbrochene Studium der hellenischen Epoche, ihrer Dichter, Philosophen und vor allem ihrer Geschichte.

Nicht nur, um sich mit den entsprechenden Werken aus der Universitätsbibliothek zu versehen, sondern auch, um neue Fühlung mit seinen alten Lehrern, den Professoren Methner und Bornemann, zu nehmen, fuhr er eines Tages nach Breslau. In ihrem Ergebnis führte ihn diese Reise zu dem Entschluß, fortan ganz seiner wieder entzündeten Neigung zu wissenschaftlicher Betätigung nachzugehen und sich dabei wenn möglich schon bald einem Thema zuzuwenden, dessen Behandlung in Form einer Habilitationsschrift ihm das Tor zum Eintritt in die Dozentenlaufbahn eröffnen könnte, zu der er, wie seine Professoren durchblicken ließen, ihrer Ansicht nach über alle nur wünschenswerten Voraussetzungen verfüge.

Gleich nach seiner Ankunft hatte Damian seinen Freund Walter aufgesucht, der gerade vor seinem medizinischen Staatsexamen stand und noch immer bei Mutter Kruttke wohnte, nun aber auch über das einstige Zimmer Damians verfügte. Bei ihm verbrachte er in stundenlangem Gedankenaustausch, der sie lebhaft an ihre frühere gemeinsame Breslauer Zeit erinnerte, beide Abende und auf Walters Kanapee auch die wenigen danach noch verbliebenen Nachtstunden.

Diese Wiederbegegnung mit Walter klang in Damian noch lange nach und trug das ihre dazu bei, daß er sich in der Folge keineswegs so hermetisch von der Beschäftigung mit den Gegenwartsproblemen abschloß, wie er sich in seiner ersten Ernüchterung vorgenommen hatte. Die gründliche Aussprache mit dem Freunde, an dessen geistiger Struktur die Erschütterungen der schicksalsschweren Zeit spurlos vorübergegangen waren, insofern er sich eben durch die in ihr offenbar gewordenen zerstörerischen Kräfte geradezu in seinen konservativ-aristokratischen Grundsätzen bestätigt sah, führte Damian dazu, sich ernsthaft mit Walters Anschauungen über Politik und Menschenführung auseinanderzusetzen und ihnen mehr und mehr positive Seiten abzugewinnen.

Am letzten Abend hatte ihm Walter am Ende ihrer wieder ganz jugendlich-hitzigen Debatte über Aristokratie und Demokratie, Konservativismus und Sozialismus, Christentum und Kirche einige Hefte einer Zeitschrift in die Hand gedrückt, die ohne Scheuklappen und von hoher Warte, voller weltoffenem Idealismus alle Zeitprobleme einschließlich der religiösen anpacke. Schon auf der Heimfahrt fand sich Damian von ihrem vielfältigen und zeitnahen Inhalt so angetan und angeregt, daß er sich unverzüglich entschloß, sie gleich Walter zu abonnieren.

Während er durch diese Zeitschrift fortan Fühlung mit den geistigen Strömungen hielt und sich zugleich mit aller Entschiedenheit dem wiederaufgenommenen Studium des hellenischen Zeitalters widmete, näherte er sich erst unbewußt, dann mit einem Willen, den er halb vor sich verheimlichte, den bewährten Maximen des Konservativismus und der Kirche in der Führung der Menge, weil er anerkennen mußte, daß diese beiden Mächte von jeher illusionslos in den Menschen nur eine triebbewegte Masse gesehen haben, der man das Bewußtsein von Wert und Sinn, von Ziel und Zweck des Lebens durch Herrschaft und Zwang fortwährend aufnötigen muß.

Über diese Erkenntnis hinaus vermochte sich Damian jedoch jetzt so wenig wie früher für das Wesen und Wirken der Kirche zu erwärmen, als welche er im Grunde nur die katholische ansah, denn die rationalen Elemente im Protestantismus widersprachen seiner Überzeugung nach der ewigen Sehnsucht des Menschen nach einer Religiosität, die sich allein im Irrationalen geborgen weiß. Er war vielmehr nach wie vor von tiefstem Mißtrauen gegen die römische Kirche als Institution erfüllt. Durch den Weltkrieg und die mehr als zweideutige Rolle, welche sie darin spielte, hatten seine von Jugend auf in ihm lebendigen Zweifel an der Heiligkeit der Kirche nur neue Nahrung erhalten. Kardinal Mercier in Belgien und dessen Priester hatten als fanatische Aufrührer die Franctireurs aufgepeitscht. Und betrieben nicht jetzt noch, da Deutschland am Boden lag und röchelnd im Fieberkrampf um seinen letzten Atem rang, polnische Priester die Losreißung des deutschen Ostens? So stand nach dem Vergrollen des großen Weltenunwetters für Damian die Kirche als Macht ihres seelischen Führungsanspruchs entkleidet da. Die Kirche hatte sich in dem hohen Schicksalsaugenblick versagt, als es in ihrer Macht gelegen hätte, den heiligen, inbrünstigen Glauben an die Gottheit im Menschen und in der Welt zu retten und sich selbst, wenn auch um den Preis ihres äußeren Martyriums durch den verblendeten Imperialismus und Mammonismus, wieder als ein Hort der Seele aufzurichten, indem sie ihre Stimme gegen den Vernichtungswillen der Staaten erhob. Um so reiner hätte das heilige Licht ihres Liebesevangeliums geleuchtet, um so höher wäre es gestiegen. Aber sie gehorchte den Menschen mehr als Gott.

Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte Damian daher in seiner Zeitschrift gerade deren Bemühungen, der nach dem vierjährigen Leiden der Menschheit vor allem in den deutschen Menschen aufgebrochenen Sehnsucht nach religiöser Besinnung und Verinnerlichung Raum zu geben, durch die sie hofften, aus der Not der Auflösung aller Sicherheiten wieder in tragende seelische Verhältnisse geführt werden zu können. Allein monatelang vermochte keiner der zahlreichen dahin zielenden Beiträge ihm einen Weg zu zeigen, den er für sich hätte anerkennen mögen, so orientierend über die religiösen Probleme der Gegenwart sie auch waren. Bis ihm eines Tages im neuesten Heft ein Aufsatz begegnete, der ihn sofort aufs höchste fesselte. Es war der Versuch zur Darstellung der Grundgedanken einer Weltanschauung, von denen die teils philosophischen, teils dichterischen Werke eines noch weithin und auch Damian völlig unbekannten Mannes, offenbar eines Dichterphilosophen getragen seien. Nach allem, was der Referent über das Schaffen dieses Mannes, namens Franz Faber, zu berichten wußte, dessen eindrucksvolles bärtiges, gütig-grüblerisches Bildnis die Zeitschrift aus diesem Anlaß ebenfalls veröffentlichte, mußte es sich um eine Persönlichkeit handeln, die erst nach einem kämpferischen Leben den Weg zur schöpferischen Aussage ihrer Einsichten gefunden hatte und dabei zu einem Weltbild vorgestoßen war, das in der ganzen Tiefe seiner Gottgläubigkeit Damian wie eine Erneuerung alter deutscher Mystik anmutete. Das in jenem Aufsatz über Franz Faber umrissene Weltbild traf Damian mitten in sein nach letzten Erkenntnissen dürstendes Herz, und er wünschte sich, diesem überdies als Schlesier bezeichneten Manne einmal Auge in Auge begegnen und sich ihm anvertrauen zu können.

Doch ehe Damian seine Absicht ausführen konnte, sich durch Anschaffung der bisher von Franz Faber veröffentlichten Werke dessen Weltbild völlig zu erschließen, wurde er vom Leben noch einmal ganz aus der Bahn gedrängt, auf der es ihn schon so nahe an die Schwelle seiner letzten Erweckung geführt hatte.

*

Am äußeren Zuschnitt des Lebens im Gerberhause war Meister Jochens Tod, der nun schon länger als ein Jahr zurücklag, nahezu spurlos vorübergegangen, hatte doch Mutter Christel schon vorher die Führung des Geschäfts in die Hände genommen und es auch dank der hingebenden Hilfe des lahmen Berthel noch eine ganze Weile so weit in Fluß halten können, daß es für die Lebensbedürfnisse der Maechlerfamilie ausreichte. Allein im Laufe des Jahres schraubten sich die Preise aller Lebensmittel und Waren so unheimlich in die Höhe, daß auch Christels Ausgaben, deren schon vor Kriegsausbruch vorsorglich angelegten Vorräte aller Art längst verbraucht waren, von Monat zu Monat in einem Maße stiegen, das sie allmählich beängstigte. Der immer seltener vorsprechenden Kundschaft aber konnte sie keine so hohen Preise abverlangen, wenn sie nicht auch noch diese verscheuchen wollte. Schließlich wußte sich die gute Seele keinen anderen Rat mehr, als sich eines Abends über ihre Nöte Damian gegenüber auszusprechen, der seit Wochen versponnen über seinen Büchern saß, offenbar unbekümmert darum, woher die Gelder für den Gerberhaushalt fließen mochten, zu dessen Bestreitung er seit seiner Heimkehr aus dem Felde noch keinen Pfennig aus eigenem Verdienst beigetragen hatte.

Unwillkürlich mußte Christel trotz ihres Kummers lächeln, als sie das Gesicht ihres Damian beobachtete, der buchstäblich wie aus allen Wolken gefallen und verhagelt dasaß, als sie ihm ohne alle Umschweife ihre prekäre Lage vor Augen hielt. Aber gleich darauf wurde sie wieder ernst, es half nichts, sie konnte ihn nicht länger ungeschoren lassen.

»Du dachtest wohl auch, mein Guter, wir könnten wie des Herrgotts bunte Vöglein immer so weiter in den Tag hinein leben, wir säen nicht und ernten nicht, und der himmlische Vater ernährt uns doch? Nein, Junge, wir eilen dem Abgrund zu, und es wäre ein schwacher Trost, wollte ich dir die bittere Pille damit verzuckern, daß es wohl mit Ausnahme der Schieber in allen deutschen Familien ähnlich aussieht.«

Über Damians Nasenwurzel bildete sich eine steile Falte, die Christel auf eine überraschende Weise an Jochen in den ersten Jahren ihrer Ehe erinnerte. Es war ihm anzusehen, wie angestrengt er sich mühte, ihr mit einem praktischen Vorschlag beizuspringen. Endlich glitt es wie eine Erleuchtung über seine Züge, und als habe er die Lösung ihrer sämtlichen Nöte gefunden, rief er mit jugendlicher Lebhaftigkeit:

»Ja, hat denn der Vater nur das Haus und das Geschäft hinterlassen? Mir ist doch, als habest du mir einmal gesagt, damals, als ich mit dir über meine und Sessis Zukunft sprach, daß du zwar nicht wüßtest, wieviel Bargeld Vater besitze, aber ein paar tausend Taler würden es wohl sein.«

Mit einer matten Handbewegung wehrte Christel seinem Überschwang: »Ja, das war damals, als er mir das Haus und das Geschäft verschrieben hatte. Aber als ich dann mit ihm wegen Sessi und dir gesprochen hatte, übergab er mir noch zweitausend Taler. Davon hab' ich dann euer Schlafzimmer und Sessis Wäscheausstattung gekauft. Bei ihren Eltern war doch nichts zu holen, und als ihre Mutter umkam, reichte der Erlös vom Verkauf der Möbel nicht hin, die Schulden, die ihr noch vom tollen Baron anhingen, zu bezahlen. Dafür sind allein fast dreihundertfünfzig Taler drauf gegangen. Es war noch ein Glück, daß damals der Graf die Beerdigung bezahlte. Dann starb der Vater, und das kostete mich auch wieder ein paar hundert Mark. Und daß ich seitdem bis heute noch so weiterwirtschaften konnte für euch, war mir nur möglich, weil ich halt jeden Monat noch was zum Zusetzen hatte. Von den zweitausend Talern habe ich jetzt gerade noch dreihundert, aber was ist das schon? Das Schlimmste ist doch, man sieht gar nicht, wie es anders werden sollte. Wahrhaftig, die Räder der geheimnisvollen finsteren Wagen, vor denen der Vater sich so oft fürchtete, rollen immer näher und näher auf uns zu«, schloß das Christel aufseufzend ihren trostlosen Bericht.

Wieder versank Damian in ein bohrendes Nachdenken. Plötzlich sprang er auf, packte das erschrockene Christel um die Schultern und brach voller Erregung in die Worte aus:

»›In der Kammer, Christel, in der Kammer ...!‹, das waren doch Vaters letzte Worte, nicht wahr?«

»Du lieber Herrgott«, rief Christel ärgerlich und doch, wie es schien, schon ein wenig angesteckt von Damians Erregung, »auf was für Gedanken du auch kommst, Junge! Ich hab' meiner Seel' nie was anders gedacht, als daß der Vater sich beim letzten Lebensflackern vom Geist seiner Mutter überweht fühlte, mit der er da oben in der Kammer immer seine Zwiesprache hielt, wenn er verdüstert war. Und das hat ihm auch das Sterben so leicht werden lassen. Nein, nein, mehr Geld als die zweitausend Taler hat der Vater da oben bestimmt nicht gehabt. In der Schlitzkammer war ich aber noch nie, wegen dem Muttergeist, das wäre mir zu unheimlich.« Dabei nestelte sie an dem großen Schlüsselbund herum, das sie stets bei sich trug.

»Aber wenn du willst, hier ist der Schlüssel vom Vorhängeschloß, Vater hatte ihn in der inneren Westentasche, als er starb, und sieh selbst mal nach!«

Ohne Zögern nahm Damian den Schlüssel, holte sich einen Leuchter, stieg in den Oberstock und von dort über die steile Bodentreppe, fand das Vorhängeschloß, öffnete die Tür und sah sich in einem engen schlitzartigen Raum, der gerade Platz für den wackligen Stuhl bot, der dort stand, sonst schien dieser ausgesparte schmale Winkel unterm Dach völlig leer. Enttäuscht tastete Damian umher und hob schließlich, um besser zu sehen, den Leuchter in die Höhe. Narrte ihn ein Spuk oder hingen da hinten, ganz am Ende des langen Schlitzes, wirklich an einem Strick zwischen den Dachsparren aufgereiht, mehrere lange schwarze Strümpfe?

Hastig griff er nach einem dieser wie Gespensterbeine vom Dach herabpendelnden prallen Strümpfe. Da löste sich einer der Nägel, an denen der Strick befestigt war, metallen klirrend fiel die ganze Last zu Boden, und schon rollten unzählige im Kerzenschein aufblinkende Goldstücke über den Holzboden.

Nach einer ganzen Weile erst war Damian so weit, daß er sich mit seinem mühsam aufgelesenen Funde in die Mansardenstube im obersten Flur zurückziehen konnte, in der zuletzt Großvater Nathanael fast eremitenhaft gewohnt hatte. Hier machte er sich darüber her, den goldenen Schatz an dem kleinen Tisch in der Mitte zehnstückweise abzuzählen. Als er schon hundert Zehnerrollen vor sich aufgebaut hatte und sah, daß der daneben aufgeschichtete Goldhügel trotzdem kaum wesentlich kleiner geworden war, begann ihn zu schwindeln. Er faßte sich an den Kopf. War das alles vielleicht doch nur ein Traum? Warum saß er eigentlich noch immer bei der gespenstisch flackernden Kerze? Entschlossen, dem Spuk ein Ende zu machen, wenn es einer war, sprang er auf und nach der Tür, schloß sekundenlang die Augen und drehte zugleich am Lichtschalter. Als er sie wieder öffnete, verschlug es ihm fast den Atem, so überwältigend glänzte ihm das Gold unter dem hellen Schein der Deckenlampe entgegen. Mit beinahe magischer Gewalt zog es ihn wieder an den Tisch zurück. Er mußte dahinterkommen, wie groß der Schatz war. In seiner Ungeduld verwechselte er jedoch fortwährend die Zehn- und Zwanzigmarkstücke, bemerkte dazwischen auch viele österreichische Goldmünzen und verhedderte sich beim Zählen dermaßen, daß er in seinen Taschen nach Papier und Bleistift suchte, um sich die Rechnung zu erleichtern. Als er weder das eine noch das andere fand und sich in der Stube umsah, verfiel er auf den Gedanken, in dem alten buntbemalten Haubenschränkchen mit dem Glasaufsatz und den drei Kommodenschüben nachzuschauen, das rechter Hand neben dem Fenster stand.

Der Glasaufsatz war leer, der oberste Schub voll abgelegtem Frauenkram, im mittleren geriet ihm unter den wahllos zusammengestopften Sachen ein verschnürtes Päckchen mit alten Zeitungen in die Finger. Mechanisch löste er den Bindfaden und sah sich die vergilbten Blätter näher an. Bald hatte er völlig darauf vergessen, wonach er eigentlich suchte. Die Gegenwart versank vor ihm, und es war ihm, als sei er ein Wilkauer Bürger zu Großvaters Zeiten, so zum Greifen lebendig spiegelten sich in diesen vor mehr als einem halben Jahrhundert gedruckten und sorgfältig geordneten Nummern des Wilkauer Anzeigers in Meldungen, Artikeln und Stimmungsbildern die dramatischen und erhebenden Ereignisse des Sommers 1866 wider, deren brausender Atem zeitweise gewittergleich über den Kamm des Gebirges fuhr und die Herzen der Wilkauer in Furcht oder Hoffnung erbeben ließ, bis am Tage von Königgrätz die Glocken erklangen und den vollständigen Sieg der preußischen Waffen verkündeten.

Seltsam bewegt von diesem doch im Grunde längst der Geschichte angehörigen, ja durch die Waffenbrüderschaft der deutschen Stämme im Weltkrieg für immer ausgelöschten Bruderzwist, hatte Damian Blatt um Blatt entfaltet und gelesen und war schon im Begriff, auch das letzte aus der Hand zu legen, als sein flüchtiger Blick auf die Worte: unser Gemeindevorsteher Nathanael Maechler fiel. Sie standen mitten in einem lokalen Stimmungsbericht von der Begeisterung der Wilkauer über die Siegesnachricht von Königgrätz, in dem es zum Schluß hieß:

»Gegen Abend sprach unser Gemeindevorsteher Nathanael Maechler zu der in freudiger Bewegung auf dem Schloßplatz zusammengeströmten Menge von einem Ackerwagen herab, der nicht weiterfahren konnte, und feierte die Helden von Königgrätz. Seine improvisierte Ansprache ließ er in so trefflichen vaterländischen Worten ausklingen, daß wir sie uns später von ihm selbst aufschreiben ließen. Möge sie jedermann beherzigen. Er sagte: ›Das Volk ist der Staat. Wie ihr seid, so wird der Staat sein im Guten und im Bösen. Seid treu in der Pflicht eurer Tage, so schafft ihr dem Vaterland gute Jahre. Soll es licht in der Zeit sein, so muß es erst licht in unserem Inneren sein, licht von der Wahrhaftigkeit, gegenseitiger Duldung und Wertschätzung her, licht von der Hilfe für den schwachen Nebenmenschen her, aber auch und vor allem licht von dem ernsten Willen zur Reinheit in uns selber. Denn wer mit Schatten haust, dem wäre es besser, er läge unter den Toten von Königgrätz. Wisset, ein Held sein zum Tode ist schwer und herrlich. Schwerer und herrlicher ist ein Held sein im Leben.‹«

Als habe sich die Erde zu seinen Füßen auf getan und aus ihrer Tiefe rausche ein kristallklarer Brunnen vor ihm auf, starrte Damian auf das vergilbte Zeitungsblatt und nahm den Klang der längst verwehten Stimme seines Großvaters in sich auf. Wie damals, da ihn die uralten Worte des Maechlergebetes erschütterten, als es ihm die Mutter zum ersten Male vorsprach, traf ihn jetzt die Stimme Nathanaels, als wäre sie ein Ruf an ihn, ja direkt an ihn gerichtet. Genau das wollte er doch selbst!? Vielmehr, er hatte es gewollt. Denn seitdem sich sein Wollen an der Menschenmauer wund gerieben, war sein Wille flügellahm geworden, das Licht in seinem Innern, kaum entzündet, nur noch ein flackerndes Flämmchen, und daß er sich's nur eingestand: über die Schatten in den Räumen seines Innern, die ihn seit seiner Verschüttung umlauerten, seit seiner Heirat vom Wesen Sessis her bedrängten, und die er manchmal sogar fast angstvoll zu spüren meinte, wenn er seinem Knaben über den lichten Scheitel strich – über diese Schatten war er noch zu keiner Stunde wahrhaft Herr geworden. Damit, daß er sie fortwährend von sich fortdrängte oder sie zu übersehen sich bemühte, war es nicht getan. Er mußte sie besiegen. Ehe es nicht licht in seinem eigenen Leben wurde, hatte er kein Recht, sich zu vermessen und gleich Diogenes mit der Laterne seinen Mitmenschen das Dunkel ihres Innern erhellen zu wollen. Eine Fügung hatte ihm diese fordernden Sätze als das Vermächtnis des Großvaters in die Hände gespielt, sie sollten ihn fortan als sein Talisman begleiten, ihm gleichsam über dem Herzen brennen.

Rasch zog er sein Taschenmesser, schnitt sich den Bericht von der Siegesfeier heraus und versenkte das Blättchen in seine innere Westentasche, faltete dann die Zeitungen wieder zusammen, schlang die Schnur um das Bündel und legte es zu dem übrigen Kram in den Schub zurück. Dabei spürte er etwas Hartes unter seinen Fingern. Noch einmal griff er zu und hielt ein dickes großes Buch mit einer Schließe in der Hand. Als er es öffnete, sah er, daß es ein Album mit Familienphotographien war. Er klemmte es sich unter den Arm und eilte, ohne noch einen Blick auf den Tisch in der Mitte zu werfen, über die Stiege hinunter, um Mutter Christel von dem Fund zu verständigen.

Noch in der Nacht zählte Christel mit ihm das Erbe durch, das Meister Jochen in mehr als zwanzigjährigem Wirken ohne ihr Wissen Münze für Münze aufgespart. Nicht weniger als zweiunddreißigtausend Mark und dreitausendfünfhundert Kronen betrug die goldene Hinterlassenschaft, die Christel auf Damians Wunsch in Verwahrung nahm und im Kommodenaufsatz verschloß.

Nun glaubte sich Damian wieder unbesorgt ganz seinen Büchern, verborgenen Gedanken und Süchten seines Denkens widmen zu können, und er tat es sogleich mit einer so eifervollen Hingabe und Ausdauer, daß es den Seinigen oft nur mühsam gelang, ihn zur Innehaltung der Mahlzeiten zu bewegen. Von dem Tage an, da ihm das »Vermächtnis« Nathanaels in die Hände gefallen, hatte er sich die Mansardenstube als sein Studio erwählt, darin er nicht weniger eremitenhaft hauste als einst sein lebensenttäuschter Großvater. Weder Sessi noch Mutter Christel durften hier hausfraulich schalten, er sorgte selbst für peinlichste Sauberkeit und duldete es nicht, dem puritanisch einfach möblierten Raum durch einen Sessel oder Teppich oder irgendeine Umstellung der vorhandenen Möbel zu größerer Behaglichkeit und Wärme zu verhelfen. Es blieb alles genau so und an derselben Stelle, wie es seit Nathanaels Tode gestanden.

Durch diesen kleinen äußeren Zwang zur Einfachheit und Unverrückbarkeit des Mobiliars, den er sich auferlegte, hoffte er nicht nur jede Zerstreuung von sich fernzuhalten, sondern die stille Geschlossenheit seines Gemütes leichter herbeizuführen, in dem er nach den hohen Forderungen Nathanaels fortan zu leben entschlossen war. Auch hoffte er durch diese äußere Unausweichlichkeit über die chaotische Zerstörung der Welt durch den Krieg und über die Schatten seines Inneren hinweg allmählich wieder in die reine, organische Gefügtheit seines früheren Wesenszustandes zurückzugelangen und so seiner selbst und seines Weges von neuem sicher zu werden, dem er durch seine Grundsätze traumhaft ahnend und gläubig schon so lange entgegenstrebte.

Allein, auch in der Mansardenstube, in die er sich mit solcher Entschlossenheit und Umsicht geradezu geflüchtet hatte, um hier wie hinter den Glaswänden eines Laboratoriums in keimfreier Luft zu atmen und gleicherweise dem Geist vergangener Jahrhunderte wie dem seiner Zeit und seiner eigenen Wesenheit nachzuforschen, wollte es Damian nicht gelingen, dem beklemmend-verwirrenden Kreisen seines Blutes und Gemütes zu entrinnen, vor dem er sich doch gerade an diesem Ort sicher wähnte. Mitten im Ausschreiben irgendwelcher Quellenbelege für seine Habilitationsschrift über »Blütezeit und Verfall Athens« überfiel ihn siedendheiß die Vorstellung von Selma Mosigs betörend fester Büste, wie sie sich in jener Nacht im Strauchnest seinen Händen bot, daß er aufspringen und aus der Stube hinunter ins Freie eilen mußte, das lastende Bild zu verscheuchen. Oder er sah sie gar mit schlangenhaft weichen Bewegungen in Hauptmann Andersecks Armen liegen, daß er auf und davon stürmte, um sich drunten in der Wohnküche am Anblick seines spielenden Söhnchens seiner Sinnesbetörung zu entreißen. Je öfter er sich von seinen Blutswirbeln zu Gerhartels selig-reiner Kindhaftigkeit flüchtete, desto beschämter kam er sich vor und desto zögernder stieg er danach wieder in seine Studierstube hinauf.

Eines schönen Hochsommernachmittags, an dem er das Junglein nicht im Hause, sondern draußen im Vorgärtchen mit Sandhäufchen spielend fand, bedrückte ihn nach einer Weile, wahrend der er vom Bänklein unterm Frontspieß aus dem hingegebenen Treiben seines Sprößlings zuschaute, der Gedanke, wieder in seine Klause zurücksteigen zu sollen, dermaßen, daß er ihn an der Hand nahm, mit ihm gemächlich durch die Wuselgäßchen bis zur Gansertbrücke wanderte und den am Zacken entlang führenden Uferweg unter den mächtigen schattenspendenden Ahornen hinspazierte. Plötzlich spürte Damian, wie sich das Händchen des brav neben ihm her trippelnden Jungleins von ihm löste, und schon lief der Kerl stracks auf ein Mädchen zu, das Damian selbst erst in diesem Augenblick sah, und das hier, nur ein paar Meter von ihm entfernt, mutterseelenallein unterhalb der Uferböschung saß. Es mochte wohl etwa vier Jahre alt sein, trug einen Gänseblümchenkranz im weißgoldenen Haar und war so versunken in ein merkwürdiges Spiel mit rundgerollten Steinchen im Ufersand, die es paarweise geordnet durch den Sand marschieren ließ, daß es zunächst gar nicht aufblickte, indes der kleine Maechler ihr wie andächtig zuschaute. Dazu sang es den Steinwanderern mit hoher, unwirklicher Traumstimme ein Lied. Sobald aber einer der Steinpilger im Wandern einen Fehler machte, packte sie ihn und warf ihn mit einem hohen zornigen Schrei ins Wasser zurück.

Damian war so betroffen von der forschen Selbständigkeit seines Söhnchens und zugleich selbst so angetan von der Lieblichkeit des kleinen Geschöpfes, daß er wortlos abwartete, bis die Kinder miteinander zu plaudern begannen und sein Gerhartel sich wie selbstverständlich am Steinchenspiel der kleinen Schönen beteiligte.

Jetzt erst trat Damian herzu und begann eine kleine Unterhaltung mit dem Kinde: »Wo bist du denn zu Hause?« »Dort drüben«, dabei zeigte sie über den Zacken hinweg, »auf der Vogelsdorfer Straße.« »Wohnt dort deine Mutter?« »Ich bin bei der Tante zu Hause.« »Und wie heißt du denn?« »Michen.« »Soso, also Michen. Und wie heißt du noch?« »Michen Mosig.«

Damian gab es richtig einen Stoß. Michen Miosig, und auf der Vogelsdorfer Straße wohnte sie? Kein Zweifel, die Tante, von der das Kind sprach, war Selma Mosig. Damian fand sich in der Sache noch keineswegs zurecht, aber der Name Mosig genügte, ihn so zu verstimmen, daß er sein Junglein ziemlich kurz angebunden aus seinem Kinderhimmel zurückholte, den Widerstrebenden bei der Hand nahm und unverzüglich den Heimweg antrat.

Unterdes redete das Bürschlein immerfort auf Damian ein, bettelte und schmeichelte, er wolle »bloß noch ein bissel« mit seiner neuen Freundin »Steinchen spielen«, begegnete aber tauben Ohren. Zu Hause angekommen, erzählte er mit glänzenden Augen Mutter Christel und Sessi unentwegt von Michen und zeigte sich reinweg wie besessen von dem goldhaarigen Hexlein. Nur mit Mühe gelang es schließlich gegen Abend, den kleinen Mann in sein Bettchen zu bringen und einzuschläfern.

Nun konnte sich Damian bei Mutter Christel näher nach der Herkunft Michens erkundigen und bekam ungefähr das zu hören, was er bei sich bereits vermutet hatte. Danach hatte Selma Mosig das Kind schon seit fast zwei Jahren zu sich genommen. Sie gäbe es zwar für die Tochter ihrer Schwester aus, die an einen Bergmann im Senftenberger Kohlenrevier verheiratet sei und das aus einem vorehelichen Liebeshandel stammende Kind nicht mit ihren eigenen Kindern aufwachsen lassen wollte. Schalksmäuler seien jedoch der Meinung, daß niemand anders als Selma selbst die Mutter Michens sei.

Schon am nächsten Tage zeigte es sich, daß der kleine Maechlerjunge eine solche Zuneigung für Michen gefaßt hatte, die das erste kindliche Geschöpf war, dem er bisher in seinem Leben begegnete, daß er es verstand, ungesehen aus dem Hause zu schlüpfen, als er Michen am Zaun des Vorgärtchens entdeckte, wie sie ihm lustig und verlangend zuwinkte. Sie strichen erst um das Gerberhaus, dann durch die Schrimsteige bis zur Gläserschen Gärtnerei und fanden sich nach einer guten Stunde, jedes mit ein paar geschenkten Blümchen in der Hand, so einträchtig und glücklich wieder ein, daß weder Christel noch Sessi imstande waren, dem kleinen Ausreißer Vorwürfe zu machen. Damian hätte zwar den weiteren Umgang seines Söhnchens mit dem Ziehkind der Schneiderin am liebsten unterbunden, wußte aber nicht recht, mit welcher Begründung er vor Christel und Sessi dagegen opponieren sollte, zumal die Frauen offensichtlich erfreut darüber waren, daß das sonst ganz auf sich angewiesene Kerlchen eine Spielgefährtin gefunden hatte. So entwickelte sich schon nach wenigen Tagen eine innige Spielfreundschaft zwischen Gerhart und Michen, bei der die Kinder allerdings genötigt waren, sich nur im Freien zu tummeln. Denn zu Damians Überraschung erlaubte es Sessi ihrem Gerhart nicht, seine Freundin ins Haus zu bringen, weil man, wie sie zu Christel und Damian meinte, Kinder so verschiedenen Standes zwar unbedenklich miteinander spielen lassen, aber nicht erst dahin bringen dürfte, sich an einen Lebenszuschnitt zu gewöhnen, in den sie nicht hineingeboren seien. Und auch Selma Mosig verwehrte, wenn auch aus entgegengesetzten Erwägungen, ihrem Ziehkind, mit dem vornehmen Junglein in der Schneiderstube zu spielen. Auf diese Weise wurden die beiden Kinder jedoch noch enger miteinander verflochten, als die Erwachsenen ahnten.

Es war übrigens durchaus keine bloße Aufwallung erzieherischer Absichten, die Sessi hinsichtlich der Freundschaft zwischen Gerhart und Michen auf so bestimmte und ernsthafte Weise äußerte. Schon seit Wochen hatten Christel und Damian mit beinahe ungläubiger Verwunderung wahrgenommen, wie Sessi anfing, sich mit wahrem mütterlichem Eifer um ihr bisher so wenig beachtetes Söhnchen zu kümmern. Christels freudige Genugtuung über das endliche Erwachen der natürlichen Muttertriebe in Sessi war zugleich der Balsam für die schmerzliche Empfindung, ihren leidenschaftlich umhegten Herzensjungen an die Schwiegertochter abtreten zu müssen. Und doch rührte die Christel und Damian so überraschende Einflußnahme Sessis auf Gerhart weniger aus dem glückhaften Aufbruch ihrer mütterlichen Liebe für das Kind her, das sie nach der Vorstellung, die sich in ihr eingenistet, ja von dem Fähnrich empfangen hatte, als aus der tiefen Beschämung, die das Erwachen der väterlichen Gefühle Damians in ihr ausgelöst hatte. Schon lange lagen in ihrem Herzen Scham und Mutterliebe in einem heftigen Widerstreit, der sie um so stärker bedrückte, je schmerzlicher sie spürte, wie sich in demselben Maße, in dem sie das sie täglich heißer überflutende mütterliche Gefühl für ihr heranwachsendes, liebreizendes Knäblein vor sich selbst verheimlichte und unterdrückte, ihr Damian seinem Kinde zu- und gänzlich von ihr abzuwenden drohte. So warf sie eines Tages zwar entschlossen den Ballast, den sie des Fähnrichs wegen Damian und dem Kinde gegenüber von ihrem Gewissen her in sich trug, von sich ab, vermochte aber trotzdem nicht, das quälende Bewußtsein in sich zum Schweigen zu bringen, daß ihr durch dieses Kind vom Schicksal eine Last auferlegt sei, an der sie zeitlebens vor Mann und Kind bitter zu tragen haben werde.

Da geschah ihr an einem regnerischen Nachmittag, an dem sie Gerhart nur durch kindliche Ablenkung über seinen Kummer hinwegtrösten konnte, nicht mit seiner kleinen Freundin im Freien spielen zu dürfen, wie durch ein Wunder und in einer blitzähnlichen Erkenntnis die Erlösung aus ihrer Seelenqual.

Sie saß mit Christel und Damian, der ihnen aus dem eben abgegebenen »Boten aus dem Riesengebirge« vorlas, noch am Kaffeetisch in der Wohnküche. Den Kleinen hatte sie, um ihn zu beschäftigen, mit dem dicken Familienalbum, das Damian in dem Kommodenschube gefunden, zwischen sich und Mutter Christel an sein Kindertischchen gesetzt und dadurch erreicht, daß seine Tränen versiegten. Erst galten seine emsigen Bemühungen der Öffnung der glänzenden Schließe, und als er sein Ziel erreicht hatte, schlug er das Album auf und versenkte sich still und gesammelt ins Anschauen all der fremden Gesichter.

Mit einem Male schien er jedoch ein Bild entdeckt zu haben, das ihm besonderen Eindruck machte, denn indem sich sein Gesichtchen zu einem strahlenden Lächeln verklärte, tappte er mit seinem Zeigefingerchen darauf und ließ ein so andauerndes »Da, da« vernehmen, das er, da ihn zunächst niemand beobachtete, immer aufgeregter wiederholte, bis sich Sessi und Christel zu ihm niederbeugten, um zu sehen, was das Kerlchen da wohl so Fesselndes gefunden haben mochte.

»Aber das ist ja eine Aufnahme von Damian«, rief Christel voller Erstaunen aus, »die wir damals machen ließen, als er gerade drei Jahre alt war. Nein, dieser Schlaumeier, hat er es doch tatsächlich herausgefunden, ich hatte ganz auf das Bildchen vergessen, schau doch mal, Sessi, wie ähnlich sich die beiden Kinder sehen, wahrhaftig wie ein Ei dem anderen, es fällt mir heute eigentlich zum ersten Male auf.«

Mit einer Erregung, die sie vor Christel zu verbergen trachtete, hob Sessi das Bürschlein auf ihren Schoß, legte das Album vor sich auf den Eßtisch und blickte wie entgeistert immer von neuem vergleichend zwischen ihrem Kind und seinem Abbild hin und her.

»Na, Sessi, hab' ich nicht recht?« bekräftigte das glückliche Christel und wandte sich zu Damian hinüber, »komm her, mein Lieber,, leg deine Zeitung hin und betrachte dir doch einmal dein altes und dein neues Ebenbild!«

Nein, es war keine Täuschung möglich. Bei dieser Erkenntnis schoß Sessi eine solche heiße Glückswoge vom Herzen her ins Angesicht, daß sie, um sich nicht zu verraten, Damian, der hinzugetreten war und vor Stolz über die Findigkeit seines Kindes und nicht weniger davon beglückt als Christel, dessen Köpfchen streichelte, zu sich heranzog und in ihrer überströmenden Aufwallung auf Mund und Augen küßte. Beinahe fassungslos ließ Damian es über sich ergehen, da ihm eine solche Liebesbezeugung Sessis seit Jahren nicht mehr widerfahren war, und begab sich bald darauf nachdenklich in sein Arbeitszimmer.

Als er am späten Abend sein Lager aufsuchte, fand er Sessi noch wach. Sie glitt zu ihm hinüber und bat ihn mit seltsam drängender Stimme, sie anzuhören. Sie habe das unwiderstehliche Verlangen, ihm etwas zu bekennen, was sie ihm bisher verborgen, was er aber einmal erfahren müsse, damit wieder alles klar und rein zwischen ihnen werden könne. Heute nachmittag, als das Gerhartel sein Bild entdeckt habe, sei es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, und nun könne sie ihm endlich anvertrauen, worunter sie dermaßen gelitten habe, daß es ihr unmöglich gewesen sei, ihm so anzugehören, wie es nicht nur ihre Pflicht als seine Ehefrau gewesen wäre, sondern wie sie es auch in all den Jahren als ihr sehnliches Verlangen in sich getragen habe.

In ihrer überschwenglichen Beglückung, die Mutter eines Kindes zu sein, das sie von dem geliebten Manne empfangen, bekannte sie Damian rückhaltlos, was ihr damals draußen an den Teichen auf dem Spaziergang mit dem Fähnrich widerfahren und der eigentliche Grund ihres späteren Verhaltens ihm und dem Kinde gegenüber gewesen war; wie sie, in ihrer Herzensnot um ihn in Ohnmacht gesunken, dem Fähnrich anheimgefallen zu sein wähnte, denn heute zweifle sie, ob er ihr wirklich das letzte angetan, sei es ihr aber doch geschehen, so könne sie ihm schwören, daß sie nur in ihrer grenzenlosen Angst um sein Leben und in einer Lähmung ihres wachen Bewußtseins der Einbildung ihrer Sinne erlegen sei, ihn, Damian, in ihren Armen zu halten und ihn durch den äußersten Einsatz ihrer Liebesmacht aus der Todesnot retten zu können, in der er ja zur gleichen Stunde geschmachtet habe. Aus Scham habe sie damals geschwiegen, und als das Kind soviel früher zur Welt kam, aber wie ihr erst seit heute aufgegangen sei, nur infolge ihres unglücklichen Sturzes von der Bodentreppe, sei es ihr noch weniger möglich gewesen, sich, ihm zu eröffnen. Das alles bekannte sie ihm, und es brach gleich einer gestauten Flut aus ihr heraus, die sich über einen geborstenen Damm ins weite Land hinab ergießt.

Allein Damian, gleich allen Männern unfähig, das Weib als Wesen des anderen Geschlechts, dessen Handeln und Denken überwiegend von den Kräften des Gemüts regiert wird, im tiefsten zu begreifen, während der Mann selbst sein sinnliches Begehren noch dem Verstand unterordnet – Damian hörte nur: Treulosigkeit, Täuschung, Untreue, Schmach, und wollte nichts anderes verstehen, weil er ein Mann war und weil er sie liebte. Er liebte sie, und darum traf ihn ihr Bekennen mit der Wucht eines Schlages auf sein Herz, daß es sich zusammenkrampfte und gleichsam ausgeschaltet wurde, während allein sein Hirn noch erfaßte, was sie sprach. Er verstand sie jedoch nicht, weil Verstehen nur aus dem Gemüt wächst; aber er begriff sie – und gerade weil er sie begriff, war er nicht imstande, das Unbegreifliche, das Sessi widerfahren, das Geheimnisvolle, das sie miteinander verband und verkettete, zu verstehen. So entzog er sich, verletzt und bewußt, sie zu verletzen, wortlos ihrem beinahe demütigen Verlangen nach dem Beweis ihrer gegenseitigen Liebesverbundenheit.

Noch lange fanden die beiden von ihrer Liebe gepeinigten Menschen keinen Schlaf. Draußen begann es erst fern, dann näher und näher zu grollen und zu donnern, Blitze erleuchteten sekundenlang die Stube, dann setzte ein wolkenbruchartiger Regen ein, der so unbändig gegen die Scheiben trommelte, daß er Sessis Schluchzen übertönte, und der noch fortdröhnte, als der Mann und sein Weib schon seinem Rauschen wie dem wirren Kreisen ihrer Gedanken erlegen und in den Schlaf erlöst waren.

*

Am nächsten Morgen wölbte sich der Himmel über den Dächern Wilkaus in einem wollustvollen tiefen Blau, und die Luft schien zum Bersten mit goldenen Sonnenstrahlen erfüllt.

Zur üblichen Frühstücksstunde ließen Sessi und Damian, die noch immer in ihre qualvollen Schlafbetäubung lagen, so lange auf sich warten, daß Mutter Christel, als es schon in die zehnte Stunde ging, selbst in den Oberstock hinaufstieg, um die Säumigen herauszuklopfen. Diesen unbewachten Augenblick machte sich Gerhart, den es nach seiner eintägigen Gefangenschaft mächtig ins Freie und zu seiner Freundin zog, zunutze und entlief spornstreichs um die Gärtnerei herum in der Richtung nach der Vogelsdorfer Straße. Schon auf der Gansertbrücke traf er auf Michen, die ihn jedoch wegen seiner gestrigen Unsichtbarkeit so unwillig empfing, als sei es eine Gnade, wenn sie sich noch einmal zu ihm herablasse. Sie schien heute überhaupt nicht gut gelaunt. Auch als sie sich dann miteinander bis zu ihrem Lieblingsplatz an der Mauerböschung des Zacken im Schatten eines der ragenden Ahorne unterhalb des alten Klosters hingespielt hatten, blieb sie verdrossen, als trage sie einen geheimen Kummer mit sich herum. Was Gerhart auch anstellte, um sie fröhlicher zu stimmen, blieb vergeblich, es machte keinen Eindruck auf sie, sie schaute ihm nur gleichgültig und wie abwesend zu. Von der unbegreiflichen Niedergeschlagenheit seiner engelschönen Freundin wurde das weiche, immer zärtlich aufgeschlossene Junglein schließlich selbst so bedrückt, daß es, um sie vielleicht doch noch zu erheitern, darauf verfiel, über drei ausgetretene Stufen auf die vom Wege aus nicht allzu hohe Ufermauer zu klettern. Dort begann es alsbald vor Michens Augen zu tanzen, damit die kleine Schöne erkenne, wie lieb er sie habe. Unter ihm brauste auf der einen Seite der über Nacht durch den Wolkenbruch zu einem reißenden Gebirgsfluß angeschwollene Zacken seine Wellenschäume drohend an die Mauer herauf, auf der anderen Seite schaute Michen, erst kauernd, dann in Furcht und Glück stehend, mit weiten Augen dem Tanz ihres Freundes zu. Von der höllischen Gefahr wie von der Freude gefangen, sich von seiner schönen Freundin bewundert zu sehen, geriet der Kleine in derartige Verzückung, daß er begann, vor ihr in tanzenden Sprüngen singend die Mauer auf und ab zu jagen. Beim zweiten Rücklauf war er von seiner leidenschaftlichen Wildheit schon so benommen, daß er in der Kehre taumelnd die Herrschaft über sich verlor. Mit einem Schrei stürzte er in den reißenden Fluß, wo er von den Wogen sofort auf den Grund gemahlen wurde. Entsetzt lief Michen laut aufweinend davon. Um die Mittagszeit zog man am Scherichsdorfer Wehr die kleine Leiche heraus.

*

Vor dem entseelten Körper ihres Kindes brach Sessi mit einem Schrei der Verzweiflung ohnmächtig zusammen. Damian, unfähig, auch nur einen Augenblick länger den Anblick des kleinen Leichnams zu ertragen, schlug aufschluchzend die Hände vors Gesicht und flüchtete sich in sein Arbeitszimmer, wo er sich einschloß und wie einer, der sich in seiner eigenen Fallgrube gefangen, Stunde um Stunde rastlos hin und her und her und hin lief, bis er sich endlich erschöpft auf einen Stuhl fallen ließ und in ein dumpfes selbstanklägerisches Brüten versank.

Er, er allein trug vor seinem Gewissen Schuld an dem Tode seines Söhnchens. Hatte er sich nicht jenes wundersame Licht des Ewigen, dessen Widerschein ihn am Fenster der Schneegrubenbaude so tief getroffen, daß er glaubte, für immer von allen Folgen seiner Grabenverschüttung geheilt zu sein, wenn er nur seinen Glanz in sich bewahre, mutwillig selbst verscherzt? Hatte er nicht den Funken dieses ewigen Lichtes, das im Grunde allen Seins leuchtet, und den er in sich zur Flamme werden lassen wollte, um das Göttliche in sich zu verwirklichen, wie es ihm zum anderen Male die Stimme des geisterhaften Wesens in der mondhellen Nacht in den Ruinen der Heinrichsburg verkündet und auferlegt, selbst wieder ausgelöscht, als er enttäuscht über die Dumpfheit der Menge und nur, um seine Autorität im Volksrat zu wahren, mit abgenützten Phrasen zu Lügen gegen die Forderungen seiner Seele Zuflucht nahm, zum Verräter am Heiligsten seines Geistes und Willens wurde, daß er, von Schmerz, Ekel und Reue gepackt, sich selbst verabscheuen mußte? Und hatte er diesen Verrat gegen seine Seele nicht dennoch weiter geübt, bis er sogar sein Weib und sein Kind verriet, als er Selma Mosig verfiel? Statt es licht in seinem Innern werden zu lassen, mit ernstem Willen der Reinheit in sich selbst nachzustreben, wie es ihm der Großvater Nathanael vorgelebt, war er seinen dunklen Blutswirbeln erlegen und hatte sein Kind mit in den Schattenschaum hineingerissen, der doch nur von Selma her noch über ihr Kind nach ihm griff, um ihn ganz zu verderben, indem sie ihm das Glück seines Lebens, das Leben seines Kindes zerstörte. Wieder war es nun Nacht um ihn, wie damals, als er unter den Erdmassen vor Ypern verschüttet lag, eine Nacht, die er selbst auf sich herabbeschworen hatte. Und die Worte des großväterlichen Vermächtnisses schössen ihm durch den Sinn: »Wer mit Schatten haust, dem wäre es besser, er läge unter den Toten ...«, unter den Toten von Ypern, stöhnte er und schluchzte von neuem ratlos auf.

Auch Sessi ergab sich, als sie endlich unter Mutter Christels hilfreichen Händen mühsam wieder aus ihrer Ohnmacht ins Wache zurückgefunden, so hemmungslos der fast wollüstigen Qual, sich selbst der Schuld am Tode ihres Kindes zu bezichtigen, daß es Mutter Christel, ungeachtet ihres eigenen Schmerzes um den Verlust ihres Lieblings, nicht erspart blieb, allein das weiße Särglein zu beschaffen und das kleine Körperchen für seine letzte irdische Reise zu betten und zu schmücken.

Derweilen wand sich Sessi Tag und Nacht ruhelos und tränenüberströmt in der Schlafstube auf ihrem Lager und verstrickte sich immer tiefer in das Netz ihrer schonungslosen Selbstvorwürfe.

Als stünde sie vor dem Richterstuhl des Höchsten, rechtete sie mit sich über ihre geheimsten Gedanken und Wünsche. Hatte sie sich wirklich rein und makellos für Damian bewahrt? War sie nicht doch, damals bei den Teichen, vom Feuerwirbel ihres Blutes erfaßt, wenn auch nicht mit ihrem Wissen und Willen, so doch, mindestens mit ihren Sinnen, dem Fremden anheimgefallen? Wäre sie sich denn sonst von jener Stunde an gleich einer in Schande Gefallenen vorgekommen? Und hatte sie nicht in der Hochzeitsnacht alle Scham nur deshalb von sich geworfen, um durch ihre hemmungslose wilde Hingabe gleichsam ihr Gewissen zu übertönen und zugleich in der schrankenlosen Vereinigung mit dem Geliebten ihre durch den Fähnrich entzündeten Sinne zu löschen? Warum endlich hatte sie sich dann jahrelang Damian versagt und dadurch das Glück ihrer Ehe zerstört? Nicht nur, weil sie sich unrein vor ihm fühlte, sondern weil ihr vor der Wiederholung der Sinnestäuschung graute, in Damian den Fähnrich zu umarmen. So tief hatte sich das Geschehen mit dem Fähnrich in sie eingebrannt, daß sie nicht einmal von dem Wahn loskam, das Kind von ihm empfangen zu haben. Und diesem Kinde hatte sie auch noch ihr Herz verschlossen, es durch Lieblosigkeit ihre Sinnesverwirrung und Bewußtlosigkeit entgelten lassen! Das alles hatte das Schicksal jetzt an ihr um so furchtbarer gerächt, als es zuschlug, kaum daß es ihr die Augen geöffnet und sie Gerhart glückselig als Kind Damians erkannt – Damians, dessen Liebe ihr nun auch, nach ihrem Bekennen und dem grauenvollen Sterben dieses süßen Unterpfandes ihrer Ehe, verloren, ja doppelt und für immer verloren schien.

So rang jeder der beiden hart geprüften Ehegatten einsam, verschlossen vor dem anderen, mit seinem Schmerz und seinem Gewissen; so schritten sie, durch ihr Verschulden bitterlich voneinander getrennt und doch durch ihre Trauer tröstlich-geheim verbunden, schweigend den schweren Gang auf den Friedhof und zum Gerberhaus zurück.

In der Nacht nach dem Begräbnis fanden sich erst ihre Hände und auch ihre Leiber wie von selbst zueinander und versanken nach gegenseitigem Bekennen und Verzeihen in die erlösende Betäubung des Schlafes.

Als sie am anderen Morgen erwachten, hatten sie die Todesferne zwischen sich überwunden. Zum ersten Male seit ihrer Hochzeit schauten sie sich mit aufgeschlossener Liebe in die Augen, die noch wund waren von den Tränen eines Schmerzes, den sie auch durch ihre Liebesumarmung nicht zu stillen und aus dem sie sich auch nicht eher zu lösen vermochten, als bis sie erkannten, daß ihr erneuerter Liebesbund Gnade vor den Augen des Höchsten gefunden.


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