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Zwölftes Kapitel

Des Freiherrn von Schillingkhoff gesellschaftliche Position in Wilkau war in den rund zehn Jahren, seit denen er sich mit seiner Familie in das schlesische Badestädtchen zurückgezogen hatte, niemals eindeutig und weder für ihn noch die Seinen befriedigend gewesen. Als er sich damals gerade Wilkau zum ständigen Wohnsitz wählte, tat er es in der Hoffnung, Anschluß an das reichsgräfliche Haus seines Vetters und an ihm zugleich einen Rückhalt für seine leidenschaftliche feindselige Haltung gegen die Regierung Wilhelms II. zu finden. Nach der Enttäuschung, die er dabei von vornherein erlitt und die natürlicherweise dazu führte, daß auch keinerlei Verkehr mit seinen hochadligen Verwandten zustande kam, durfte er sich kaum noch wundern, wenn sich die Wilkauer Bürger und Honoratioren ebenfalls in betontem Abstand von ihm hielten, lebte doch das Städtchen, dessen Badeanlagen in gräflichem Besitz waren, in weit größerer Abhängigkeit von der Schloßherrschaft als selbst irgendeine kleine Residenz von ihrem Fürsten.

So war Korff, dessen freiherrlichen Familiennamen man in Wilkau gern vermied, um dem unangenehmen Anklang an den der gräflichen Herrschaft aus dem Wege zu gehen, jahrelang nur auf Brosamen der Freundlichkeit oder gar Hilfsbereitschaft angewiesen, die für ihn wie für die Seinen von den Tafeln der Mitmenschen abfielen. Namentlich nach seinem kläglich gescheiterten Versuch, mit den Waffen des Geistes gegen das herrschende System anzugehen, jenem Versuch, der ihm die letzte Planke der ihm bis dahin noch verbliebenen beruflichen und standesmäßigen Reputation unter den Füßen fortgezogen hatte, war er zum Paria geworden, zu einem Menschen, der sich durch Übertretung irgendwelcher als geheiligt angesehener Riten aus seiner vornehmen Kaste, der er einst angehörte, ausgeschlossen hat und unrein geworden ist.

Die einzigen, die sich von Anfang an wenig darum kümmerten, ob Korff von der reichsgräflichen Sonne beschienen wurde oder nicht, waren jene pensionierten Exzellenzen und älteren Herren niederen oder verarmten Adels, die sich von jeher gern nach Wilkau zurückzuziehen pflegten, wo man nicht nur billiger als anderwärts leben, sondern auch noch hoffen konnte, sich seinen Lebensabend durch den Einfluß der heilkräftigen Quellen zu verlängern. Aus ihrer Tischrunde im »Goldenen Greif«, wo man seinen blendenden Witz, seine einfallsreichen Launen, aber auch seinen überragenden Verstand als Elixier gegen die eigene geistige Dumpfheit oder rheumatische und sonstige Alterskränklichkeit zu schätzen wußte, wurde Korff auch in den für ihn prekärsten Monaten seiner öffentlichen Verfemung nicht vertrieben. Er blieb für sie einfach der »tolle Baron«, als der er sich vor den Augen der Wilkauer in dem kurzen Taumeljahr seines klingenden Bucherfolges demonstriert hatte; er blieb es auch noch dann, als ihm schon längst nicht mehr danach zumute war, und sein Witz nur noch galliger und sarkastischer sprühte, seine Trinkreden aber nur noch geistreicher und zugleich verhüllter dem selbstherrlichen Regierungssystem zu Leibe gingen, als dessen Opfer er sich empfand.

Erst ganz allmählich überwuchs eine dünne Grasnarbe die Furchen, die der »Fall Korff« nirgends so tief wie auf dem Felde der öffentlichen Meinung von Wilkau gepflügt hatte.

Als Korff an jenem 18. August zu seiner Unglücksfahrt nach dem Westen aufbrach, wiegten sich auf den hügeligen Feldern des Rehberger Tales noch die vollen Ähren im Morgenwind; doch als er wiederkehrte, fegten schon die ersten winterlichen Sturmböen ihren Schneeregen vom Kamm herunter über die Dächer und durch die Straßen Wilkaus, in denen einige eifrige Alleswisser die Kunde verbreiteten, daß der tolle Baron soeben schwer beschädigt aus dem Felde zurückgekommen sei. Man hatte ihn mittags auf dem Schloßplatz mühsam aus der Rehberger Straßenbahn steigen sehen und beobachtet, wie er schwerfällig, ganz verkrümmt und unendlich langsam, an zwei Stöcken nach seiner Wohnung im »Bazar«, dem letzten Hause auf der Heinrichstraße, stapfte. Offenbar hatte er es unterlassen, den Seinigen Tag und Stunde seiner Ankunft anzuzeigen.

Zunächst bekam ihn Wilkau über zwei Wochen lang nicht mehr zu Gesicht, aber man erfuhr wenigstens, daß seine Tochter mehrere Tage dem »Langen Hause«, wo sie als Helferin tätig war, fernbleiben mußte, weil der Vater nach den Strapazen der langen Bahnfahrt mit starken Schmerzen zu Bett lag und selber pflegebedürftig war. Durch Doktor Fohl, der von der Familie konsultiert wurde, hörte Damians Mutter Christel, als sie eines Tages dem Arzt auf einem Einholgange begegnete, noch einiges mehr. Korff habe es überhaupt nur seiner zähen Natur zu verdanken, wenn er nach dieser schweren Rückgratverletzung, der Folge eines Granattreffers während der Vogesenschlacht, noch einmal mit dem Leben davongekommen sei. Er bewundere offen gestanden die Hartnäckigkeit, mit der dieser halb erschlagene Mann sich dazu zwinge, zu sitzen, ja auf seinen Füßen zu stehen; aber ohne Rollstuhl werde er das Haus nicht mehr verlassen können. In seinen Augen sei er ein Held, und man möge über Korffs Vergangenheit denken wie man wolle, jetzt, nachdem er freiwillig mit hinausgezogen sei und sein Leben eingesetzt habe, gebühre ihm nur noch der Anspruch auf jegliche Hochachtung.

Christines mitleidiges und gütiges Herz trug die Worte des Doktors nicht lange für sich herum. Sie hatte zwar für Korff nie etwas übrig gehabt, dessen Schuldenwirtschaft sie ebenso heftig verurteilte, wie seine Überheblichkeit sie noch immer schmerzte, mit der er einst ihrem Jochen begegnet war. Und es ließ sich auch nicht leugnen, daß er von Anfang an die zarte Freundschaft zwischen den beiden jungen Menschen Damian und Sessi verunglimpft hatte und noch immer gesonnen schien, sie voneinander zu trennen. Aber der Wahrheit muß die Ehre gegeben werden. Er hatte sich fürs Vaterland geopfert, und das wog schwer genug, um sich über persönliche Abneigungen hinwegzusetzen. Man mußte ihm wohl zugute halten, daß ihm das Schicksal mehr Knüppel vor die Füße geschleudert hatte, als er ohne Schaden für seinen Charakter aus dem Wege räumen konnte, und vielleicht hatte es ihn da draußen so aufgehauen, daß auch sein Dünkel mit zerbrochen war, der sich gegen den Herzensbund seines Kindes mit dem Sohn eines achtbaren Handwerkmeisters stemmte.

Bis zu dem Tage, an dem der Baron sich zum ersten Male in seinem Rollstuhl, den er selbst bedienen konnte, die Krücken neben sich, im Städtchen blicken ließ, war dank der durch Doktor Fohl, Christine und andere gutgesinnte Menschen eigentlich ganz absichtslos in Umlauf gehaltenen Fama von Korffs beispielhaftem Heldentum der widrige Wind wie fortgeblasen, der ihn sonst auf Schritt und Tritt das Pflaster Wilkaus verleidet hatte, und mancher zog vor ihm den Hut zum Gruß, der vor wenigen Monaten noch nicht daran gedacht hätte. Zu einem guten Teil rührten diese fast spontanen Äußerungen der Hochachtung allerdings einfach daher, daß der Kriegsbrand bisher von Wilkaus im Felde stehenden Männern kaum einige Opfer an Toten gefordert hatte und jedermann in Korff den ersten schwerverwundeten Heimkehrer sah, der schließlich ein Bürger seines Städtchens war.

Korff selbst nahm diese veränderte Atmosphäre verständlicherweise zunächst mit reichlich gemischten Gefühlen wahr, ließ sich dann aber doch bald so willig von der warmen Woge emportragen, die ihm entgegenschlug, daß er sich zeitweise kaum noch darüber im klaren blieb, in welche unechte und seiner unwürdige Rolle er sich eingelassen hatte.

Schon daheim vor Frau und Tochter war es ihm ähnlich ergangen, als er sich den vielen Fragen gegenüber, mit denen sie ihn bestürmten, in eine wohlüberlegte Zurückhaltung flüchtete, was nur zur Folge hatte, daß sie ihm diese als natürliche Folge seiner Belastung durch noch zu frische und schwere Eindrücke von den mörderischen Kämpfen auslegten, denen er kaum erst entronnen war.

Jetzt, nach dieser öffentlichen Generalprobe auf die Glaubwürdigkeit seiner Maske, spielte er sich immer tiefer in die Vorstellung bestimmter Fronterlebnisse hinein, deren Kenntnis er sich in Wahrheit während der langen Lazarettwochen aus dem Munde verwundeter Offiziere erworben hatte. Und je ärger ihn die nie ganz abreißenden Schmerzen peinigten, die sich trotz aller von Doktor Fohl verschriebenen Linderungsmittel oftmals, meist gegen Abend und in der Nacht, so steigerten, daß er glaubte, ein glühendes Eisen im Rückgrat stecken zu haben, desto ausschweifender erging er sich in derartigen Vorstellungen, nicht anders als könne er durch sie allein seiner wieder Herr werden und als trüge er nicht an einem bitteren Kreuz, an das er sich selbst geschmiedet, sondern an einem blutigen Ehrenmal, das er sich in heldenmütigem Kampf buchstäblich verdient hatte.

In dieser Verfassung stieß er sich nach einer kleinen nachmittäglichen Ausfahrt mit seinem Vehikel schon im dämmernden Tageslicht vor den Eingang zum »Goldenen Greif«. Nachdem er sein Gefährt im Hausflur eingestellt und sich auf seinen Krücken bis zu dem alten Stammplatz im Hinterzimmer herangeschoben hatte, ließ er sich, zu dieser frühen Stunde noch der einzige Gast, vom Kellner eine Flasche Rauenthaler kommen und begann, da er spürte, daß ihm wieder eine feurige Woge den Rücken heraufkroch, verbissen für sich allein zu pokulieren. Doch schon nach einigen Gläsern des lang entbehrten edlen Getränks fühlte er, wie es unsäglich wohltuend durch seine Adern strömte, und als er über der zweiten Flasche saß, hatte der Zaubertrank auch die schmerzenden Nerven nahezu betäubt.

So glänzten den zur Tischrunde gehörigen alten Herren, als sie sich um die übliche Zeit einfanden, die großen grauen Augen Korffs bereits in jenem jugendlichen Schmelz entgegen, der ihnen allen wohlbekannt war, und nur die Krücken an der Wand und die Unbeholfenheit seiner Gliedmaßen, mit der er sich zur Begrüßung jedes einzelnen erhob, ließen den Grad der Selbsttäuschung ahnen, deren diese Ruine eines Mannes fähig war.

In ihrer aufgestauten Wißbegierde achteten daher die wenigsten auf diese eindringlichen Zeichen der physischen Verwandlung, die mit dem Baron seit ihrem letzten Zusammensein mit ihm in der Nacht vor seiner Abreise zur Front vorgegangen war, und bevor sie sich's versahen, waren sie wie eh und jeh im Banne seines alten Wesens, lauschten gespannt dem blühenden Redestrom des heimgekehrten Kriegers, dessen Erlebnisschilderungen sich mit jeder neuen Flasche, die bald der, bald jener zur Feier des Tages generös auf den Tisch springen ließ, zu immer bunteren Farben vorwagten.

Längst hätte Korff, ohne Gefahr zu laufen, daß die umnebelten Gehirne seiner Zuhörer die Täuschung witterten, als deren willige Opfer sie sich hingaben, den Faden seines wohlfeilen Garnes bis zu dem Höhepunkt ausspinnen können, auf den es ihm, aber auch seinem Auditorium ankam. Doch jedesmal, wenn er schon zur Ausmalung einer möglichst kritischen Phase der Kämpfe auf dem Vormarsch ansetzte, bei der er dem Augenblick, in dem es ihn zu Boden gerissen hätte, noch einen besonderen dramatischen Effekt abzugewinnen hoffte, schnürte ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zu, und seine Augen schlossen sich wie vor einem Abgrund, der sich vor ihm auftat.

So ging es schon auf Mitternacht, und noch immer zappelten Korffs Puppen an den Drähten seiner von den Sprühteufeln des Alkohols befeuerten Phantasie, ohne daß es ihnen gelungen wäre, ihm eine Darstellung der Umstände abzulocken, unter denen seine Verwundung erfolgte. Da reckte sich Korff in jähem Entschluß in seinem Armsessel hoch, durchschnitt mit einem Hieb die Luft, riß die zitternden Gäule seiner Phantasie herum und rief: »Sekt für alle!«

Bald knallten die Pfropfen, man vergaß einstweilen, was man eben noch aus dem Munde Korffs zu hören gespannt war, prostete auf den kühnen Vogesenkämpfer, stieß auf den Sieg der deutschen Waffen an, und da man sich natürlich für die von Korff gestiftete Runde revanchieren mußte, stieg die Stimmung binnen kurzem bis zu einem Grade wilder Ausgelassenheit, der jungen Burschen gerade noch angestanden hätte. Aber in Ansehung der fast ausnahmslos bemoosten Häupter wirkte sie einigermaßen deplaziert, zumal als die Exzellenzen in Erinnerung der eigenen kriegerischen Taten Anno 70/71 mit grotesker Lebhaftigkeit und Mimik begannen, sich noch einmal mit Turkos und Franktireuren herumzuschlagen, wobei sie den schäumenden Trunk in sich hineinschütteten, als wären sie am Verdursten und hätten Wilkauer Sprudel in den Gläsern.

Korff beteiligte sich zwar nicht minder hemmungslos als seine Zechgenossen am Vertilgen des prickelnden Stoffes, aber sonderbarerweise schienen ihn die Vorgänge um sich herum immer weniger zu berühren. Je turbulenter es zuging, desto einsilbiger wurde er und saß schließlich gleich einem stummen Fels in der Brandung. Nur seine Augen, in denen jetzt unstete Lichter flackerten, schweiften ruhelos umher und verrieten eine hochgradige Erregung. Allein die Ahnungslosigkeit seiner sektfröhlichen Tischgenossen mißdeutete sein verändertes Benehmen völlig, als es ihnen nach einer ganzen Weile ins Bewußtsein drang. Für sie spiegelten sich in seinen irrlichternden Augen nichts anderes als die Anzeichen übermäßiger Trunkenheit.

Schon begann der eine und andere mit der gutmütigen Roheit, über die nur Trunkene verfügen, Korff mit Bemerkungen zu sticheln, wie: »Na, Korff, Sie sehen ja schon Gespenster«, oder »Sie wollen uns wohl bange machen«, als dieser plötzlich mit der Rechten auf die Tischplatte knallte, daß die Gläser tanzten, und bebend, aber noch mit einer gewissen verächtlichen Vornehmheit in der Stimme aufbegehrte: »Sie halten mich also für stinkmäßig besoffen, na schön, meine Herren. Ich weiß das zwar besser, und wie Sie sehen, gehorcht mir meine Zunge noch immer. Aber lassen wir das jetzt beiseite. Ich repliziere darauf, zum Beweis meiner Nüchternheit, mit dem Schluß meines Berichts, den ich Ihnen bis jetzt noch schuldig geblieben bin.«

Wie auf der Flucht vor der auf dem Grunde seines Gewissens lauernden Erinnerung an den grauenvollen Sturz auf die Schienen jagte es ihn jetzt vorwärts. Nicht mehr imstande, die Richtung zu bestimmen, überließ er sich einfach dem Wirbel, der ihn gepackt hatte, und in der Hast brachen ihm die Sätze schon im Munde auseinander:

»Ich reite ... Meiner Kompanie voraus ... Im Eilmarsch nach vorn ... Durch ein Vogesenstädtchen, wie im Schwarzwald, alles ruhig ... Über den Marktplatz ... In der Mitte hält eine Munitionskolonne ... Fahrer abgesessen ... Dran vorbei ... Plötzlich wildes Feuer aus verschlossenen Fensterläden und Dachluken .. Sofort ungeheure Verwirrung ... Pferde scheuen, gehen durch ... Ich galoppiere zurück, will meine Leute formieren, mein Pferd fällt, getroffen, ich stürze, schwere Räder rollen über mich hinweg ... Ich verliere die Besinnung.«

Abgeschlagen hält Korff einen Augenblick inne, da trifft ihn ein Zuruf des dicken Herrn von Kutaschke, ehemals sächsischem Reitermajor:

»Fürchterlich, Korff. Aber ich verstehe nicht recht. Doktor Fohl hat da doch was von einer Granate erzählt, die Sie ...

Korff wird kalkweiß, krampft die Hände um die Stuhlarme, bezwingt sich sekundenlang, zwanzig Augen hängen an seinem Mund. Dann antwortet er, überlegen, messerscharf, aber seine Stimme ist wieder biegsam wie ein Florett:

»Sie unterbrachen mich nur. Ganz richtig, die Granate ... die Granate, die mich traf, kam aus keinem feindlichen Rohr, die fiel vom Wagen, der mich überfuhr, aus einem Munitionskorb, aufs Pflaster, paar Meter weiter, Fehlzündung, Explosion, meinen Burschen hat sie zerrissen, ein Wunder, daß ich noch lebe. So war es, meine Herren. Beinahe unwahrscheinlich, doch ich kann es beschwören.«

In diesem Augenblick, da er die Rechte pathetisch zum Schwur auf die Wahrheit seiner Lüge erhebt, trifft ihn der Schlag. Im wilden, stürmischen Aufstehen reißt es ihn auf den Stuhl zurück, seine Hand samt dem Arm fällt wie abgeschlagen unter die Sektgläser, die klirrend und zerbrechend durcheinanderstürzen. Sein Kopf sinkt, wie von einer schonenden Hand in den Rumpf zurückgeschoben, auf die Brust, und der noch für die nächsten Sätze in die Lunge gepumpte Atem fährt mit einem Pfeiflaut aus seinem Munde, etwa so, wie der Dampf aus einer alten Lokomotive herausströmt, wenn ihre Fahrt plötzlich gestoppt wird.

Als wäre der Blitz, der sich soeben über Korff entladen hatte, aus ihm heraus und rund um den Tisch gefahren, saßen die erschrockenen Zeugen des Ereignisses wie angenagelt und erstarrt auf ihren Stühlen. Nur das fadenleise Rieseln der Tropfen, die aus einer umgeworfenen Flasche über den Tischrand liefen, war zu hören.

In dieser Minute angehaltenen Atems gab es keinen in der Runde der alten Herren, der nicht unter einer doppelten Zwangsvorstellung litt, der einen, daß man an diesem Ausgang mitschuldig sei, insofern, als man Korff nicht einem solch unmäßigen Trinken hätte überlassen dürfen, und der anderen, daß der Schlag, der den Jüngeren traf, einer Warnung gleichkomme, sich künftig von dergleichen Ausschweifungen fernzuhalten. Und auch nicht einer kam auf den Gedanken, daß Korff selbst, als er die Finger zu seinem Eid erhob, den Schlag der Schicksalshand herausgefordert haben könne, im Gegenteil, sie zollten dem tollen Freiherrn noch im Tode ihre Bewunderung dafür, wie glänzend es ihm gelungen war, sie durch den geschickten Aufbau seines Berichts zum Schluß noch einmal aufs äußerste zu überraschen.

Da Doktor Fohl, der, vom Hausdiener herbeigerufen, nach einer guten Viertelstunde erschien, wie nicht anders zu erwarten war, nur noch den schon eingetretenen Tod des Freiherrn konstatieren konnte, wurde die Leiche Korffs noch in der Nacht, um weiteres Aufsehen zu vermeiden, in den Rollstuhl gesetzt und in seine Wohnung geschafft. Der Arzt hatte es selbst übernommen, Frau Eleonore, die allein zu Hause war, da Sessi schon wieder im »Langen Hause« nächtigte, die Todesnachricht zu überbringen. Die Fassung Leonorens, mit der sie ihren wüsten, endlich zur Ruhe gekommenen Mann empfing, ging über das Begreifen Fohls. Er trug das Seine dazu bei, daß am Tage des Begräbnisses ganz Wilkau ihrer als des Vorbilds einer tapferen Soldatenfrau gedachte.

Überhaupt erwies es sich in diesen Tagen, da der tote Freiherr in seiner Wohnung auf der Heinrichstraße aufgebahrt lag, wie gründlich sich die allgemeine Stimmung zugunsten Schillingkhoffs in den wenigen Wochen seit seiner Heimkehr gewandelt hatte. Selbst Graf Schilling fühlte sich unter diesen Umständen dazu verpflichtet, sich zu dem Toten zu bekennen und ihm als einem, wenn auch nur noch weitläufig verwandten Angehörigen seiner Sippe ein so prunkhaft-feierliches Leichenbegängnis zu bereiten, wie es Wilkau seit Menschengedenken nicht mehr gesehen hatte.

Unter dem Glockengeläut der katholischen wie der evangelischen Kirche und den Klängen des Chopinschen Trauermarsches wurde Freiherr Franz von Schillingkhoff zur letzten Ruhe getragen. An der Spitze des langen Zuges schritt vollzählig der Militärverein, hinter dem vierspännig gezogenen Leichenwagen folgten der Witwe und der Tochter Korffs Graf Schilling mit Frau und Töchtern. Als der Sarg in die Tiefe glitt und das Lied vom »Guten Kameraden« erklang, knallte der Ehrensalut übers offene Grab.

*

Im Gerberhaus auf der Feldgasse erfuhr Meister Jochen von Christine, die sich erst auf dem Friedhof unter das Trauergefolge gemischt hatte, in allen Einzelheiten die triumphale Ehrung des Verstorbenen. Mit nachsichtigem Lächeln, doch ohne ein Wort einzuwerfen, hörte er sich ihre Erzählung an. Erst als er glaubte, daß sie mit ihrem Bericht zu Ende sei, ergriff er ihre Hand und sagte gütig: »Mein liebes Christel, im Tode werden alle Menschen gleich, ob Graf, ob Gerber, ob Held, ob Schweinehund, da ist nichts dran zu deuteln. Sela.«

Damit stand er auf und wollte aus der Stube. Aber Christel hatte sich noch nicht alles vom Herzen gesprochen:

»Gut, Jochen, gut. Ich sage ja auch nichts dagegen. Was soll man aber davon halten, was mir Agnete auf dem Heimweg anvertraute? Mit dem letzten Atem, so erzählen sich die Leute, habe der tolle Korff auf Tod und Leben gepfiffen, wie er es eigentlich die längste Zeit seines Lebens getan habe.«

Da stellte sich Jochen breitbeinig hinter seinen Stuhl, stemmte die Arme auf die Rückenlehne und sagte ernst und überzeugt:

»Dazu sage ich nur: Schwindel, liebste Frau, und noch mal Schwindel! Aber wem's imponiert, der soll es glauben. Außerdem kommt es auch gar nicht darauf an, ob einer auf den Tod oder auf das Leben oder, auf beides pfeift, sondern allein darauf, was einer aus seinem Leben und aus seinem Tode macht. Ja, auch aus seinem Tode. Aber aus dem, was wir mit unseren Augen sehen, wenn einer stirbt, können wir das niemals erfahren. Das kann kein Erdenmensch. Ob einen die Not des Bösen oder auch die Not des Guten durchs Leben trieb, das, Christel, bleibt sich gleich. Denn im Tode gelangt ein jeder hinauf zu Gott, oder, wenn du so willst, hinab in seine tiefste Tiefe, nämlich seine Menschenseele. Dann erst ist er wahrhaft frei geworden. Und noch eines: Wieviel das Leben über dich vermag, hängt einzig von dir selber ab. Wer stark ist im Wollen, wird es meistern, wer schwach ist, den wird es überwältigen, und Korff, na ja, den hat es zu Tode gehetzt, weil er sich nicht zu zügeln vermochte. Da mögt ihr sagen, was ihr wollt!«


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