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Damian saß im Zuge von Wilkau nach Breslau, er fuhr in sein drittes Semester. Es war gegen Ende April, und auf den Bergen, die ihn beim Hinausschauen noch bis Rehberg mit ihrem so vertrauten Bild des schöngeschwungenen Kammes begleiteten, hatte die um diese Jahreszeit sonst noch kraftlose Frühlingssonne den Schnee schon so weit weggefressen, daß selbst »Rübezahls Hosen« bereits reichlich schmutzig und traurig ausgefranst von den Schneegruben herunterhingen. In wolkenloser Bläue spannte sich der Himmel, und das goldene Himmelslicht tauchte die vorüberhuschenden Wiesen und Äcker im Rehberger Tal in ein so sonnenseliges Glänzen, daß Damian vor ihm zeitweise wie geblendet die Augen schließen mußte. Doch dieser Glanz da draußen auf den Fluren drang nicht etwa wärmend in sein Herz, daß es ihn beglückt widerspiegelte; er brachte ihm vielmehr schmerzlich zum Bewußtsein, daß er hier im Zuge gleich einem Gefangenen saß, der sich durchs Guckloch seines Wagens nur solange am Anblick der schönen freien Welt erfreuen dürfe, bis er ihn hinter die hohen Mauern entführt hätte, die ihn wieder für Monate von alledem ausschließen würden, was für sein Gefühl zu einem wirklich lebenswerten Leben gehörte: vom Miterleben der Natur im Jahresablauf und nun zumal von ihrem zauberhaften Frühlingsweben mit jungem Birkengrün und jubelndem Lerchengesang, mit zartem Blütenduft und frohem Bachgemurmel, kurz: von der Glückhaftigkeit eines im wörtlichen Sinne natürlichen Daseins, das gleichsam in sich selber ruht und sich nicht wie der Mensch täglich von neuem in ein uferloses Treiben stürzt, von dem die Seele nur die Erschütterungen spürt, wie eben jetzt sein Gehirn das Rollen der Räder registrierte und empfand, ohne doch selbst diese Rotation hervorzurufen.
Mit geschlossenen Augen spann Damian an diesem Bilde weiter. Oder sind, wir Menschen vielleicht dauernd mit unserem ganzen Wesen, auch mit der Seele, in Unruhe? Tragen wir ein Uhrwerk in uns, das aufgezogen wurde bei unserer Geburt, dessen Räderwerk wir nun nach der uns zugemessenen Triebkraft in Gang halten müssen, ob wir wollen oder nicht, bis eben eines Tages seine Kraft ausgeschöpft ist und die Räder immer langsamer rollen, bis sie endlich stille stehen? Das konnte nicht sein, wenn anders der Mensch ein göttliches Wesen hatte, worüber Damian sich nicht eine Sekunde im Zweifel war. Denn wie Gott in sich ruht, so ruht auch die Seele in sich. Aber wie war es denn mit dem Leben? War es so, wie sein Vater glaubte, daß erst der schweifende Geist den Menschen dazu verführt, sich in Lebensaufgaben und damit in Lebensnöte zu stürzen, die er sich ersparen könnte, bliebe er nur in seinem engsten, am besten dem ihm von Geburt aus zubestimmten Gleise? Und daß ein jeder in den Lohtonnen geschweift und dann gegerbt werde, ohne selbst etwas dazutun oder von sich fernhalten zu können? Nein, diese Lebensansicht war zu verwerfen, denn sie ließe dem Menschen ja nicht einmal mehr das Recht, höheren Zielen zuzustreben, als er sie sozusagen innerhalb seiner vier Wände, ganz für sich, hegen konnte. Und doch, grübelte Damian weiter, ist das Leben mit einem Rad zu vergleichen, das, einmal in Schwung versetzt, solange rollt, bis es sich ausgeschwungen hat. Auch darüber hatte der Vater erst jetzt in den Ferien etwas Merkwürdiges ausgesprochen, allerdings, wie Damian sich erinnerte, nicht in Form einer seiner üblichen spontanen Lebensmaximen, sondern als eine beinahe heftige Folgerung aus einer Geschichte, die seine Mutter Christel bei Tisch erzählte. Sie hatte irgendwo in dem kleinen Badestädtchen durch einen jener Wilkauer, denen es geradezu im Blute lag, bemerkenswert gesammelt und überlegt selbst über Nichtigkeiten des täglichen Lebens zu parlieren, einen freilich ungewöhnlichen Vorfall erfahren.
Ein sehr beanlagter Ingenieur, der Sohn einer Wilkauer Familie, der auf einer Eisenhütte im Waldenburgischen einen leitenden Posten innehatte, war dort der Trunksucht verfallen und hatte eines Tages im Delirium einen Bankdirektor, mit dem er in irgendwelche Streitigkeiten verwickelt war, nach einer gemeinsamen Zecherei erschlagen, um schließlich selbst in einer Irrenanstalt zu enden.
Meister Jochen, der Näheres von jener Familie und ihrem unglücklichen Sohne wußte, griff Christels Erzählung sofort mit einer ungewöhnlichen Lebhaftigkeit auf und behauptete, daß man hier einmal deutlich sähe, wohin es führen könne, wenn jemand seinen Geist nicht zu zügeln verstehe. Dieser Ingenieur habe über seine Räder und Maschinen hinaus denken wollen und dabei die seinem Leben gezogenen Kreise überschritten. Ob er wirklich geistesgestört war, sei eine andere Frage. Man erzähle sich nämlich, daß er in der Anstalt beständig von einem Schwungrad und einer Achse phantasiere. Das Schwungrad sei das Leben, das nichts von sich weiß, weder wenn es läuft, noch wenn es stillsteht: die Achse dieses Schwungrades sei der Mensch, und um diese Achse drehen sich die Speichen des Lebens wie wahnsinnig, die Achse selbst jedoch, also die Seele, täte nicht mit, niemals, denn: diese Achse gehe durch das Herz Gottes. Das sei, fuhr der Vater anerkennend fort, gar nicht einmal falsch, im Gegenteil sehr gescheit. Wenn dieser Ingenieur sich damit begnügt hätte, sich selbst bis in die Tiefe seines Inneren zu blicken, also nur den eigenen Schwächen und Fehlern außerhalb seiner ruhenden Seele zuzuschauen, wäre alles in Ordnung gewesen. Aber daß er sich vermessen habe, auch anderen Menschen ihre Laster, wie diesem Bankdirektor seine Jämmerlichkeit – denn der sei ein Halsabschneider gewesen – vorzuhalten, die dieser gar nicht zu sehen imstande war, das sei ihm zum Verhängnis geworden. Der Bankmensch habe sich schließlich vor Wut auf den Ingenieur gestürzt und dieser den Rasenden in der Notwehr getötet.
Irgend etwas bei dieser Rechnung des Vaters stimmt nicht, bohrte Damian weiter an der Geschichte herum, kam aber nicht dahinter, was es sein könnte. Die tiefsinnigen Vorstellungen des Ingenieurs ließen ihn indes nicht aus dem Bann. Die Achse, also die Seele, geht durch das Herz Gottes, darüber gibt's nichts zu reden. Aber geht sie nicht auch durch unser eigenes Herz? Was folgt daraus? Langsam voran, nach sokratischer Methode. Unser Herz gleicht einer Uhr; selbst ihr gleichmäßiger, ruhiger Gang stammt von der Unruhe, und wie die Uhr kann auch des Menschen Herz diese Unruhe höchstens besiegen, aber nie überwinden. Demnach trügen wir in unserem tiefsten Inneren eine Unruhe von Ewigkeit her. Ist dem aber so, dann hebt sich ja der Satz von der unbewegten Achse oder der göttlichen Ruhe der Seele in sich selbst auf. Auch das kann nicht gut sein, setzte Damian zähe sein Sinnieren fort, denn wie stünde es dann um die Ewigkeitsruhe des Göttlichen, der Seele? Also bleibt als letzte Folgerung: das Tiefste in uns, die Seele, ruht im Wesenlosen. Aus dieser göttlichen Unräumlichkeit der ruhenden Seele steigen der Menschen höchste Träume und Offenbarungen, Religionen, Musik, Erfindungen. Bis in das Menschenherz und in den Menschengeist, diese wesenhaften Gebilde, aber reicht jene schöpfungsträchtige Stille nur so, wie etwa der Widerschein des schon über den Horizont gewanderten, aber dennoch im All genau so mächtig wie zuvor strahlenden Sonnenballs noch die Wolken ins Abendrot verzaubert, das sie durchleuchtet und zu schimmernden Gebilden werden läßt.
Als Damian in seinem Sinnieren um die geheimnisvollen Zusammenhänge des Lebens, in die er aus einem unbestimmten Wogen seines Inneren in die Sphäre rein geistiger Denkbilder vorzustoßen sich bemühte, an diesem Punkt seiner Folgerungen angelangt war, fühlte er sich auf eine unaussprechliche Weise wie erleichtert und erhoben. Er konnte nun wieder die Augen aufschlagen und unbelastet vom frühlingsseligen Glanz rings um sich in die vorüberfliehende Landschaft schauen. Ja, bald überkam ihn eine Art Schwerelosigkeit, daß er vermeinte, auf vogelleichten Schwingen dahingetragen zu werden. Wohlig überließ er sich diesem Schwebezustand seines Inneren und hatte gerade, um ihn noch tiefer auszukosten, seine Füße auf den gegenüberliegenden Sitz seines sonst unbesetzten Abteils gelegt, als ihn ein schriller Pfeifenton der Lokomotive unvermutet aus seinem schwebenden Ruhen auffahren ließ, und schon brach Nacht über ihn herein. Der Zug fuhr in den Tunnel zwischen Dittersbach und Fellhammer ein, der sich dazumal noch über jene Strecke wölbte.
Einem mitten aus der höchsten Daseinslust des Fluges zu Tode getroffenen Vogel gleich, der zur Erde fällt, empfand Damian, daß er hilflos und pfeilschnell einem dunklen Schlund entgegenstürzte. Ein dumpfes Brausen empfing ihn dort, aus dem ein klopfender Rhythmus aufstieg, der, vom Pulsschlag seines Herzens aufgenommen, sich alsbald zu einer gleichsam stählern dröhnenden Folge von Tönen formte, um schließlich zu einem Chor von Männerstimmen anzuschwellen, die im Gleichtakt sangen: »Der Gott – der Eisen – wachsen ließ – der wollte – keine Knechte.« So war dieses Lied von der Riesenorgel in der Jahrhunderthalle mächtig erklungen und von den Chören der Freiheitskämpfer leidenschaftlich aufgenommen worden, als Damian im vorigen Sommer das Festspiel für 1813 an sich vorüberziehen ließ.
Nur wenige Minuten dauerte die Fahrt durch den Tunnel und damit die Nacht und das stählerne Dröhnen und Klingen um und in Damian, aber sie genügten, nicht anders wie es uns in scheinbar stundenlangen Träumen geschieht, um ihn vor seinen abermals geschlossenen Augen dieses Festspiel, das ihn rein theatralisch aufs stärkste beeindruckt hatte, in einer einzigen raschen Bilderfolge noch einmal erleben zu lassen. Doch noch während dieses traumschnellen Vorübergleitens des ganzen Spieles vollzogen sich höchst merkwürdige, weil völlig unmotivierte Verwandlungen der Szene gleich Überblendungen in einem Film, die ihn, auch als der Zug längst wieder durch das taghelle Land fuhr, ja bis ans Ziel seiner Fahrt, nicht mehr losließen.
In einer Art Wachtraum sah er sich selbst in der Schar der preußischen Soldaten von 1813 stehen und hörte sich mit ihnen jenes Freiheitslied singen. Wie er verwundert um sich blickt, sind es jedoch keine Soldaten mehr, sondern städtisch gekleidete Zivilisten, viele Studenten unter ihnen, er selbst in einem einfachen Straßenanzug, den sommerlichen steifen Strohhut in der Hand. Eingekeilt in die dichte Menge kann er gerade ein paar Meter über sich seinen verehrten Professor auf einer Art Altan stehen sehen, und auch er singt barhäuptig das Lied mit, als stünde er da oben, um es ihnen allen vorzusingen. Doch Damian vermag nicht lange hinaufzuschauen, so sehr blendet ihn ein glänzendes Strahlenbündel. Als er ein wenig später seinen Blick noch einmal zur Altane hinauf schickt, steht dort über ihm an Stelle des Professors, im Glänze ihrer goldenen Rüstung, die Göttin der Akropolis, Pallas Athene, ihre Hände wie segnend über die Menge gebreitet, aus ihrem Antlitz aber leuchten ihm die lieblichen Züge seiner Sessi entgegen.
Als Damian spätabends aus dem Freiburger Bahnhof ins Freie trat, war er noch völlig benommen von dieser ungereimten Wachträumerei, in die er da hineingeraten war, und ernüchtert dazu, denn es goß in Strömen, der Regen peitschte ihm so kalt ins Gesicht, daß er fröstelte, und aller Frühlingsglanz, aus dem er kam, und alles Leuchten aus dem Antlitz der Göttin mit Sessis Zügen, das ihn eben noch umfing, war dahin. Noch nie waren ihm die Häuser und die Menschen dieser Stadt so trist und öde vorgekommen wie zu dieser Stunde. In seiner Stube angekommen, ließ er sich wie gerädert und elend in allen Gliedern sogleich ins Bett fallen, seine Zähne klapperten im Schüttelfrost, der ihn auf dem Wege vom Bahnhof nach Hause gepackt hatte, und es vergingen über zwei Wochen, ehe er wieder von der schweren Influenza, die schon auf der Fahrt von Wilkau her in ihm gesteckt haben mußte, genesen war.