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Zweites Kapitel

Die reichlich bemessenen Universitätsferien verbrachte Damian ausnahmslos daheim in Wilkau. Er wußte, daß seine Mutter ihn, ihren Einzigen, mit jener heftigen Ausschließlichkeit liebte, deren nur Frauen fähig sind, denen vom Schicksal mehrere Kinder versagt bleiben, und daß sie ihn, waren sie auch erst ein paar Wochen voneinander getrennt, schon nach kurzer Zeit mit schmerzhafter Sehnsucht wieder zu sich zurückwünschte. Während ihn sein Vater nie auch nur mit einer Zeile bedachte, ließ das Christel ihre mütterlichen Sorgen um ihn dafür um so häufiger in die Feder laufen. Alle diese Karten und Briefchen, die meist in den zahlreichen »Freßpaketchen« obenauf lagen, rührten ihn schon beim Anblick wegen ihrer kindlich gebliebenen Schriftzüge. Und er selbst erwiderte, vielleicht weil ihm Vaters karge Art, die seinem eigenen anschmiegsamen Wesen so wenig entsprach, eigentlich immer fremd geblieben war, diese Fürsorge und Liebe mit der Leidenschaftlichkeit eines wahrhaft Verliebten, ohne zu spüren, daß er, seit er sich mit dem Erwachen seiner Männlichkeit innerlich Sessi zugehörig fühlte, ein gut Teil seiner Gefühle für dieses Mädchen auf die Mutter übertrug. Vom Tag seines Breslauer Studentendaseins an hatte er sich angewöhnt, allwöchentlich der Mutter in einem langen Bericht alles über seinen Alltag zu schreiben, sie an allen seinen Stimmungen teilhaben zu lassen. Auch dies war ein Ventil für seine unablässig um Sessi kreisenden Gedanken; denn ihr selbst zu schreiben vertrug einmal schon die Heimlichkeit dieser zarten Bindung zwischen ihnen nicht, und dann wäre es auch Sessis Eltern wegen unmöglich gewesen, die bei ihrem Adelsdünkel jeden Verkehr ihrer Tochter mit der Familie des »manichäischen« Gerbers ja als weit unter ihrer Würde ansahen und zu unterbinden trachteten. Dennoch ahnten sie nichts von der Eigenwilligkeit Sessis, die sich unter allen möglichen Vorwänden irgendwelcher Einholgänge oder Besuche bei Freundinnen als gern gesehener Gast oftmals bei Christel im Gerberhause einfand und dort, dessen war Damian sicher, aus dem Munde seiner Mutter alles, woran ihr gelegen war, erfahren konnte. So spann sich das noch flaumenleichte Geflecht ihrer Zusammengehörigkeit in den Monaten seines Fernseins stetig fort und trug, zumal nachdem Sessi begonnen hatte, gelegentlich einige wenige Zeilen mit guten Wünschen und Grüßen von ihrer Hand den Briefen Mutters an ihn beizufügen, nicht wenig dazu bei, jene Verstimmungen unter die Füße zu bekommen, die ihn in den ersten Breslauer Monaten beinahe in seinem Entschluß zu studieren wankend gemacht hatten.

In den Weihnachtsferien mußte Damian schmerzlich und doch auch wieder glücklich berührt erkennen, daß sich das sonst so sonnige, nun aber doch schon ein wenig verhärmt dreinschauende Christel, verursacht durch die in immer kürzeren Abständen auftretenden Verdüsterungen seines Vaters, der sich mehr und mehr von allen geschäftlichen Obliegenheiten zurückzog und in seine Grübeleien über kommendes Unheil verspann, ihm anders als bisher erschloß. Nicht mehr nur als eine zärtliche Mutter ihrem Jungen gegenüber, sondern wie zu einem erwachsenen Manne sprach sie nun zu Damian von allen ihren Sorgen um Vaters Gesundheit und das von ihm so vernachlässigte Geschäft.

Mutter und Sohn beratschlagten oft, doch heimlich miteinander, was man wohl unternehmen könne, den Vater wieder ins Leben zurückzuführen, denn unleugbar war allein dies die Art seiner Erkrankung. Irgendeine körperliche Krankheit sah man ihm nicht an, und man konnte nicht einmal sagen, daß sein ganzes Gehaben dem eines krankhaft verwirrten Geistes glich. Denn bis auf seine Einbildung, daß es ganz und gar sinnlos sei, jetzt noch, wo bald das große »Schermesser« sein grausiges Werk beginnen würde, irgendeinen Handgriff zu tun, benahm er sich vernünftig, klar und bestimmt in seinem Wesen, wie man es nur von einem Gesunden erwarten konnte.

Es waren für Damians feinfühlige und allen Mißklängen des Alltags doppelt ausgelieferte Natur furchtbare Augenblicke, von denen er sich dann weder am Tage noch in der Nacht befreien konnte, wenn es aus dem Vater, der meist wortlos mit ihnen am Tische saß, aber genau wie sie mit gesundem Hunger speiste, unvermittelt losbrach, und er halb vor sich hin, halb für Christels und Damians Ohren bestimmte, höchst beklemmende Sätze hervorstieß, die offenbar das Fazit langer Überlegungen ausdrücken sollten. Dann sagte er etwa: »Wir alle, wir Menschen alle, auch du, liebes Christel, und du, Kiekindiewelt Damian, haben allesamt nur Felle, in denen wir mit lebendigen Leibern geschweift und gegerbt werden, bis sie eines Tages von selbst von uns abfallen, und dann ist's ebenso mit uns zu Ende wie spätestens, wenn das große Schermesser über uns kommt.« Oder er sagte: »Jaja, wir heißen Maechler, mit gutem Grunde, hast du dir's schon mal überlegt, Damian? Eigentlich sollten alle Menschen so heißen, denn was sind sie denn? Armselige Maechler. Die Macher, die kann man mit der Laterne suchen, ich habe noch keinen getroffen, vielleicht gelingt es dir einmal, einen zu finden, Junge.« Und dabei schlug eine so jähe Lache aus ihm, daß Mutter und Sohn erschrocken zurückfuhren. Was der Vater mit dem ganzen Unsinn eigentlich meine, blieb dem Christel völlig unklar, indes Damian ihn gleich tiefen Weisheiten in sich aufnahm, aus denen der Vater nur einzelne Stücke herausgebrochen hatte, so daß man den Sinn nicht mehr enträtseln konnte.

Ohne Zweifel sei es doch eine Verstörung im Geiste, meinte Christel nach solchen Wirrsprüchen ihres Jochen zu Damian, und ob er nicht einmal Doktor Fohl bitten wolle, daß er ins Haus käme. Dem Vater freilich müsse man eine Komödie vorspielen. Damian versprach sich nicht viel von einem derartigen Versuch, wollte aber doch nichts unterlassen, was Mutter eine Beruhigung bringen könne. So ging er auf ihren Plan ein, der darauf hinauslief, daß Damian unter Hinweis auf Mutters schlechtes Aussehen und standhafte Ablehnung, sich auch nur im geringsten krank zu fühlen, beim Vater die Erlaubnis erwirke, den Arzt um seinen Besuch zu bitten. Wenn Doktor Fohl erst im Hause wäre, würde sich Mutter auch nicht mehr sträuben, sich einmal von ihm untersuchen zu lassen. So sollte er es dem Vater beibringen.

Das Manöver gelang, ohne daß Jochen irgendeinen Verdacht hegte, denn was seine Christel betraf, so war der Meister, wenn es ihm auch nicht lag, sich von selbst darum zu kümmern, ob und wann es einmal notwendig war, ärztlichen Rat einzuholen, von jeher voller Fürsorge, und darin hatte sich auch im Lauf ihrer Ehe nichts geändert.

Doktor Fohl kam, untersuchte Christel, und nicht einmal nur zum Schein, und verordnete ihr abwechslungsreichere Kost und mehr Aufenthalt in frischer Luft nebst einem Tee zur allgemeinen Kräftigung, so daß Damian hinterher richtig bedrückt darüber war, wie wenig Gedanken er sich über Mutters Blässe und Müdigkeit gemacht hatte.

Christel schilderte Doktor Fohl, während sie mit ihm allein in der Schlafstube war, ihre Sorgen um Jochen und sein merkwürdiges Gebaren und bat ihn, doch nachher, wenn sie zusammen am Kaffeetisch sitzen würden, den Meister unauffällig zu beobachten. Vielleicht wisse er dann doch einen Rat, wie man den verbohrten Mann dazu bringen könne, sich wieder ein bißchen in der Werkstatt zu tun zu machen, denn sein ganzes Grillenfangen käme bestimmt nur vom Müßiggang, in den er verfallen sei, seit er so unüberlegt die Gesellen entlassen habe. Der Arzt versprach, sein möglichstes zu tun, doch könne er natürlich für den Erfolg nicht einstehen.

Nun war der bärbeißige Doktor Fohl an sich eigentlich denkbar ungeeignet, den Meister seinen Bedrückungen und Ahnungen kommenden Unheils zu entreißen, denn er gehörte zu jenen wenigen, die, wenn auch aus einer rein politischen Betrachtung der Weltlage, in zunehmender Besorgnis um die Erhaltung des europäischen Friedens bangten. Aber er verfügte über einen so gesunden Wirklichkeitssinn, daß er bald die Stelle erkannte, an der er bei Meister Jochen einhaken mußte, um einen gewissen Erfolg zu erzielen.

Sehr zur Verwunderung Christels und Damians ließ sich der Meister diesmal, als Doktor Fohl nach einer Weile das Gespräch auf die Wolken am politischen Horizont brachte, dazu herbei, ihm nicht nur aufmerksam zuzuhören, sondern auch selbst einige ungewöhnlich klingende, aber bestimmt vorgebrachte Ansichten über seine ganze Lebenseinstellung zu äußern. Doch richtig hellhörig und nachdenklich wurde Jochen erst, als Fohl ihm vor Augen führte, daß er es ganz und gar nicht verstehen könne, wie ein so umsichtiger und vorausschauender Mann wie Meister Jochen seinen Betrieb so einfach zumache, ohne zu bedenken, daß man gerade für Kriegszeiten nichts Besseres tun könne, als irgend etwas, was immer Kapitalwert behalte, aufzustapeln, selbst auf die Gefahr hin, damit nicht sofort etwas anfangen zu können. An des Meisters Stelle würde er sich Leder auf Leder in Vorrat gerben und hinlegen, und wenn er sich noch einen Schuppen anbauen müßte.

Auf Jochen machten diese Überlegungen Fohls jedoch scheinbar nur insoweit Eindruck, als er ihm zugab: »Sie mögen recht haben, Herr Doktor.« Die weiteren Einreden des Arztes indes ließ er, ohne noch einmal darauf einzugehen, wie Wasser an sich ablaufen.

Doktor Fohls Besuch trug dennoch, wider Erwarten Damians, seine Früchte, noch ehe er bei Ferienschluß wieder nach Breslau zurückfuhr. Denn der Vater nahm eines Tages seine Arbeit bei den Lohtonnen und in der Lederausschnittstube wieder auf, ohne Christel gegenüber mehr Worte zu verlieren, als daß er nicht daran denke, etwa wieder einen oder zwei Gesellen einzustellen; aber wenn sie alle, wie er wohl gemerkt habe, glaubten, er sei schon ein bresthafter alter Mann, der nicht mehr arbeiten könne, so wolle er es ihnen schon noch zeigen. Nötig habe er es zwar nicht, davon verstünden sie allesamt nichts, aber er könne ihnen ja den Gefallen tun, und schaden könne es auch auf keinen Fall. Damit war das Ganze für ihn abgetan, und Christel wie Damian glaubten, nun sei er über den Berg, und auch die Verdunkelungen seines Gemüts würden sich bald gänzlich verlieren.


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