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In den frühen, noch blinden Morgenstunden, die dieser ereignisreichen Nacht in dem Gerberhaus folgten, schlug das Wetter, wie es riesengebirgische Art ist, im Handwenden von sommerlicher Herbstwärme zu winterlicher Kälte um, und es begann sicher, großflockig und still zu schneien, als sei Weihnachten in unmittelbarer Nähe. Beim Aufstehen waren die Tonnenbeete, das Vorgärtchen, die Gasse und der Ziergarten am Heidewasser schon von einer handhohen weißen Flaumdecke eingehüllt, und der Schnee fiel noch unausgesetzt weiter. Das ruhige Zeit- und Lebenstreiben schien sich mit ein paar sonnigen Herbsttagen für immer davongemacht zu haben, und Jochen und Christine saßen in der wohldurchwärmten Wohnküche voll eines Behagens am Frühstückstisch, als seien sie sicher heimgeführt worden. Christine sah lächelnd in das schneevermummte Gärtchen hinaus. »Sieh doch bloß, wie es schneit«, sagte sie, sich zurückwendend, zu Jochen, »Gott sei Dank, nun sind wir beide allein. Nicht?«
»Jaja, ganz recht, Christel«, bestätigte der Gerber zufrieden den Ausruf seiner Frau, weil sie das Verschwinden des väterlichen Ruhebänkchens an den Tonnen nicht bemerkt hatte. »Ganz recht hast du. Nun hockt dir nur das Haus auf und mir mein Handwerk. Und wir wer'ns schon machen, daß du nicht in Nadeln greifst und ich nicht in Messer.«
Nach diesen besinnlichen Worten sah er noch ein Weilchen vor sich nieder, als ständen sie auf der Diele geschrieben, erhob sich dann, steuerte ruhig gegen die Tür hin, nickte freundlich seiner Frau zu und ging hinüber in die Werkstatt. Unterwegs trat er, dort, wo des Vaters Bank gestanden hatte, unauffällig den Schnee fest, um die Spuren ihres einstmaligen Vorhandenseins gründlich zu verwischen.
Aber die Sorge des Meisters war ganz unnötig; denn Christine, von hausmütterlicher Emsigkeit durch die Stuben, treppauf und -ab durch das Haus getrieben, geriet über die Schübe und Schränke mit Kleidern und Wäsche, als müsse alles zu einem neuen Leben nachgesehen und geordnet werden. Und immer wieder wurde sie in eine solch glückhafte Spannung gerissen, daß sie sich nicht anders als durch Singen zu helfen wußte.
Jochen aber öffnete von Zeit zu Zeit die Werkstattür und horchte schmunzelnd in sein Haus hinüber.
So fuhr das Lebenswäglein des Maechlerhauses, auf neu geschweißten Achsen ruhend, sicher durch die Tage, getrieben von der tätigen Daseinseinmut von Mann und Frau, und jeder hatte seinen geheimen Wunsch- und Hoffnungsballen zwischen die Bretter geladen, Jochen das Vertrauen in das gesegnete Wachstum seines Kammerschatzes, Christine die unnennbare Erwartung eines neuen Lebensglaubens, der rätselhaft durch ihren Körper pulste. So waren die zwei auch wie Kameraden, die im Gleichschritt, aber nach verschiedener Melodie marschierten, wie es eben in jeder rechten Ehe sein muß.
Diese seit je vorhandene, nun neu errungene tiefe Verbundenheit geriet auch nicht ins Wanken, als abermals Verwirrungen an sie herangeführt wurden, und zwar von derselben Seite, gegen die sie eben erst gekämpft hatten.
Nach einigen Tagen stand Christine vor dem Gartenpförtchen in dem Matsch, zu dem der voreilige Schnee geworden war, und sah nach ihrem Jochen aus, der in der Scherichsdorfer Fleischerei das Geschäft um einige Ochsenhäute abzumachen hatte, da ging das Dienstmädchen aus der Glaeserschen Gärtnerei vorüber, ein liebenswürdiges, aber ungedübeltes Pumpelchen, grüßte die Meistersfrau, als sei sie ihre Milchschwester, und war dabei doch so verlegen, daß sie mitten in eine große Pfütze trat und das Wasser bis herüber auf den Gehsteig, Christine an den Rock spritzte. Vielleicht war das auch nur eine plumpe Finte des bäuerlichen Packerchens, denn kaum, daß sie die verderblichen Folgen ihres Fehltrittes gesehen hatte, stürzte sie sich auf Christine und begann unter einem Wortsturz von Entschuldigungen deren Rock zu bearbeiten, und zwar so, als sei er eine Diele, die rein geschrubbert werden müsse. Keine Gegenwehr Christines half. Erst als sie den Rock vollkommen zugerichtet hatte, ließ sie ab und trat befriedigt zurück.
»So«, sagte sie, von dem Bücken außer Atem geraten, »nein, wissen Sie, Frau Maechler, Sie wer'n entschuldigen, da stehn Sie so ruhig vorm Hause, und in Wilkau ist ein solches Unglück geschehn! Da hab' ich den Brief von dem Inspektor Neefe, der doch die Blumen bei uns bestellt hat zu dem großen Feste. Mein Gott, und nun liegt er, ma weeß nich, was er alles gebrochen hat über die Stiegen nunter ...« Ehe sie weiterschwuderte, sah sie sichernd nach dem Glaeserschen Grundstück zurück, wo eben der Gärtner hinter dem eisernen Zaun auftauchte. Deswegen verschluckte sie schnell den Tratsch und trat springend auf den Weg hinüber. »Nicht für ungut, Frau Meestern! Na, Sie wern's ja hören. So eene Gemeinheit«, rief sie über die Achsel und spritzte davon.
Auch Jochen brachte aus der Scherichsdorfer Fleischerei einen Munkelfetzen des Geschehens, das in dem Neefeschen Hause auf der Vogelsdorfer Straße sich ereignet haben sollte, nur anders zugeschnitten und anders aufgeputzt. Danach war der Inspektor, der im Nachtdunkel noch etwas im Hofe hatte nachsehen wollen, an der oberen Treppenstufe mit dem Absatz hängengeblieben, rücklings die ganze steile Stiege hinuntergestürzt und mit angebrochenem Rückgrat bewußtlos auf den Steinfliesen des unteren Flures angekommen.
Frau Christine dagegen brachte in den nächsten Tagen von ihren Einkaufsgängen noch eine Reihe von anderen Erzählungen des Falles, eine immer abenteuerlicher als die andere. Einige brachten den Schlosser Witschel mit dem Unfall in Verbindung, der von seinem gewohnten Trunkvergnügen, wie immer wirblig im Kopfe, in dem Augenblick durch die Haustür auf dem unteren Flur angekommen sei, in dem es Neefe über die Stiege geschleudert habe. Da, als sein Feind, der ihn auf so schandbare Weise um den Besitz des Hauses gebracht hatte, das erstemal wehrlos vor ihm gelegen habe, sei in dem Halbberauschten der anfängliche Schreck über das Unglück in eine solche Wut umgeschlagen, daß er mit Füßen und Fäusten über den Bewußtlosen hergefallen sei und ihn auf das unmenschlichste bearbeitet habe. Der Rückgratbruch und die Beckenverletzung müsse dem Säufer Witschel zur Last gelegt werden, weil der Inspektor, wohl betäubt und vielfältig beschunden, aber ohne wesentliche Verletzung den Fall überstanden habe. Wieder andere konstruierten einen richtiggehenden Mordanschlag Witschels auf Neefe. Sie behaupteten, das Ausgleiten des Inspektors auf der oberen Treppenstufe sei nur eine Erfindung des lieben Mannes und seiner lammguten Frau, um nicht in ein Gerichtsverfahren verwickelt, genötigt zu sein, den Schlosser mit ihrer Aussage zu belasten und ins Unglück zu bringen. In Wahrheit sei an dem Abend der betrunkene Schlosser ohne vorherigen Streit in Neefes Wohnung gedrungen, habe den Inspektor, der friedlich plaudernd mit seiner Frau am Tisch gesessen, nach wenigen fläzigen Worten aus der Stube gerissen, den mageren Mann wie ein Päckchen in die Höh gehoben und mit einem Fluch über die Treppe hinuntergeschmettert. Kaum aber war dieses Gerücht zweimal durch die Tratschmühlen Wilkaus gelaufen, als es ganz im geheimen durch Züge berichtigt und ergänzt wurde, die für besonders Eingeweihte den Stempel der Wahrheit an sich trugen. Neefe, so lautete die gerüchtweise Auskunft, hatte nach wochenlanger Mahnung zur Zahlung des rückständigen Halbjahrs das Handwerkszeug, die Maschinen und die Vorräte Witschels mit Beschlag belegt. Diese Härte, die doch nur als ein Druckmittel zur Zahlung gedacht war, hätte den Schlosser zunächst von Schenke zu Schenke getrieben. Als er seine Wut so lange beim Bier gebeichtet hatte, bis die Feuerräder in seinem Kopf zu rasen anfingen, war er in die Wohnung Neefes hinaufgeklommen, um mit ihm abzurechnen. Die verächtlich-schimpfliche Behandlung, die dem etwas deppen Schlosser von dem Inspektor angetan wurde, brachte den gutmütigen Bierwanst in einen fast tiermäßigen Zorn, daß er wirklich seinen Peiniger berserkerhaft durchwalkte und über die Treppe auf den Steinflur warf.
Diese Geschichte stammte von einem Schmuggler, der den Schlosser in Witkowitz, also schon weit in Böhmen, getroffen haben wollte. Tatsächlich war Witschel seitdem spurlos verschwunden, und wenn seine Frau nach ihm befragt wurde, pflegte sie vor der Antwort erst einige Hantierungen an sich vorzunehmen: das Schürzenband zu lösen und dann fester zu knüpfen, den Halsverschluß der Taille zu lüften, als fehle es ihr an Luft, oder die Hände aneinanderzureihen, als wasche sie sich rein. Nach solcherlei unverständlichen Einleitungen pflegte sie den Frager eine Weile in weinerlicher Betroffenheit groß anzustarren, daß er ein furchtbares Geständnis erwartete. Aber dann brach sie in ein irrsinnig-lustiges Gelächter aus und schwätzte dergestalt durcheinander von dem Hungergeschäft in diesem ludermäßigen Wilkau, von der Reise ihres Mannes nach einer Werkmeisterstelle, von der Schlechtigkeit der Menschen und der ganzen Welt, daß kein Neugieriger lange standhielt, sondern sich aus dem Staube machte, während die gequälte Frau noch ihr unglückliches Lachen und wirres Reden weiter vollführte. Sowie der Besucher aber das Höfchen überschritten hatte und in dem Vorderhaus untergetaucht war, trat Frau Witschel an das Fenster und schaute dem Verschwundenen mit erblaßtem, vollkommen verzweifeltem Gesicht nach. Stundenlang stand sie so wie leblos. Dann zog sie sich in die hinterste Ecke des Zimmers zurück, setzte sich auf einen Stuhl, wickelte ihre Hände in die Schürze und verharrte so regungslos, aber aufgeweckt und mit großen Augen geradeaus starrend. Allein mit keinem Worte berührte sie das Gerücht über den Streit zwischen dem Inspektor und ihrem Mann und dessen mörderische Gewalttat. Eines Tages war auch sie verschwunden, und ihr Vater, ein Bauer aus Kammerswaldau, holte mit zwei Gespannen den sämtlichen Hausrat. Finster und schweigsam erschien er, lautlos wurde alles aufgeladen, drohenden Auges, mit zusammengebissenen Lippen fuhr er davon. Als er aus Wilkau heraus war und das freie Feld erreicht hatte, knallte er wie toll mit der Peitsche und spuckte dann in einem großen Fladen alles Gift in den Straßengraben, das er in sich gefressen hatte.