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Dreizehntes Kapitel

In den Wochen, die zwischen der schmerzlich-freudigen Nachricht Sessis über die Heimkehr ihres schwerverletzten Vaters und dessen trotz allem unerwartet raschen Ende vergingen, lebte Damian in einer durch keinen Willensakt zu bannenden tiefen Unruhe. Was er wußte, mußte er in sich verschließen, und bei dem bloßen Gedanken an die mögliche Aufdeckung des Korffschen Betruges packte ihn ein solcher Ingrimm, daß er mehrmals nahe daran war, den nächsten Zug zu nehmen, nach Wilkau zu fahren, vor den tollen Mann hinzutreten und ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Den Tag, an dem er die Nachricht vom Tode Korffs zugleich mit einem Briefe seiner Mutter über das prunkvolle Leichenbegängnis erhielt, verbrachte er daher in so erhöhter Stimmung, daß er sich selber unverständlich und roh vorkam, ohne sich doch von diesen Anwandlungen niederdrücken zu lassen. Erst als ihm aus einem aufgewühlten Brief Sessis, den sie am Tage nach der Bestattung Korffs schrieb, die Grambetäubung aufging, der sie über dem Verlust des geliebten, vom Leben so hart geprüften Vaters anheimgefallen war, gelang es ihm, den Tod des Freiherrn in einem anderen, dunkleren Lichte zu sehen, aber auch erst völlig zu ermessen, wie gnädig es die unsichtbare Hand gefügt hatte, als sie zuschlug, ohne das gläubige Herz dieses Mädchens zu versehren. Daß Sessi den Trost und den Zuspruch, dessen sie in ihrer Verstörung bedurfte, von ihrer Mutter nicht erwarten konnte, war Damian klar. Wie hätte auch Leonore, deren brennender Stolz und tiefe Liebe zehn lange Jahre derartig mit Füßen getreten wurde, den Tod ihres Mannes anders als eine Befreiung empfinden sollen? Nein, Sessis Mutter war außerstande, die Gefühle ihres Kindes zu teilen oder gar ihr gemeinsames künftiges Leben im ständigen ehrenden Gedenken an diesen Toten aufzubauen.

Noch stärker als damals, da sein schwerverwundeter Freund Walter, über Nacht aus allen Angeln seines Wesens gehoben, von ihm mehr als bloßen Zuspruch erwarten durfte, spürte Damian jetzt vor Sessis Ratlosigkeit die innere Verpflichtung, sie aufzurichten, sie wachzurufen, so wie er einst als Kind von ihrer Hand aus seiner rätselhaften Todesversunkenheit ins Leben zurückgeführt worden war. Zum ersten Male mußte er sich indessen eingestehen, daß es Schicksalsschläge im Leben gab, vor denen alle Nächstenhilfe, selbst tiefste Liebe, ohnmächtig war, Schläge, die ein Mensch nur aus sich selbst überwinden kann oder daran zerschellen muß. Doch auch diese Einsicht war nicht gerade dazu angetan, ihn zu beruhigen. Denn wenn er sich auch hundertmal einredete, daß sich ein im tiefsten so lichtes und gesammeltes Wesen wie Sessi eines Tages schon von selbst aus den dunklen Hüllen ihrer Schmerzgebundenheit lösen würde, so nagte ihn doch unablässig sein Gewissen, daß es pflichtvergessen von ihm sei, wenn er jetzt nicht zu Sessi führe; und er hatte dabei das peinliche Gefühl, daß es ihm einfach an dem nötigen Mut mangele, ihr mit der Last seines Wissens um das unheldische Ende ihres Vaters unter die Augen zu treten und es auch dann noch bewahren zu sollen, wenn er sie dieses Mannes wegen leiden sähe.

Unter diesem Gewissensdruck, von dem er sich vergeblich durch ein langes und wahrhaft warmherziges Schreiben an Sessi zu entlasten suchte, litt Damian, der eben, mitten in seinem vierten Semester, angespannt fürs Praktikum und Seminar arbeiten mußte, um so schwerer, als er gerade in diesen Wochen mit heftigen Zweifeln zu kämpfen hatte, ob es ihm je gelingen würde, innerlich den Zugang zum Lehramtsberuf zu finden, auf den er sein Studium nun einmal abgestellt hatte. Die Vorlesung über Pädagogik, die klassisch-philologischen Übungen, die zudem durch reine Wissenschaftler so trocken und lieblos dargeboten wurden, daß selbst den aufgeschlossensten Hörern das Verhältnis zum Stoff hoffnungslos verdorben wurde, übertrugen höchstens ein stoffliches, aber geistig leeres Wissen, bei dem der zündende Funke völlig ausblieb. Die löblichen Ausnahmen, Professor Methner, sein Lehrer der Philosophie, und Professor Bornemann, der Historiker des Altertums, ein junger idealistischer Gelehrter, der Damian durch die Glut seines geschichtlichen Schauens und Denkens ergriff, mit der er seine Hörer lehrte, in großen Menschen zu leben und inbrünstig wie sie um ihr Werk zu ringen, trugen nur noch dazu bei, Damians Widerwillen gegen den verknöcherten Geist des allgemeinen Vorlesungsverfahrens zu steigern. Die Vorstellung, einmal als Kandidat des höheren Lehramts und später als Oberlehrer ebenso schulmeisterlich vor der Klasse stehen und jahraus, jahrein ein rein stoffliches und blutloses Wissen von sich geben zu sollen, eine Vorstellung allerdings, zu der er nur durch falsche Folgerungen aus diesem Universitätsbetrieb verleitet wurde und bei der er übersah, daß es ganz allein von ihm selbst abhängen würde, die Funken aus dem gewonnenen Wissen zu schlagen und in die Herzen der Jugend überspringen zu lassen, verursachte ihm allmählich solches Mißbehagen, daß er unbewußt nach einem Ausweg suchte. Auf eigene Faust begann er daher bis auf seine Beteiligung an den philosophischen und historischen Vorlesungen und Übungen alles andere liegen zu lassen, ohne sich noch klar geworden zu sein, ob sich damit überhaupt irgendein Studiumsabschluß oder gar ein Ziel für sein Leben erreichen lassen würde. Im Unterbewußtsein spürte Damian auch bald, daß er mit dem selbstsicheren Entschluß allein, sein Fachstudium aufzugeben, um sich seine eigene geistig-wissenschaftliche Welt aufzubauen, noch keinen sicheren Untergrund für die weitere Arbeit gewonnen habe. So glich er einem Schiffbrüchigen, der sich zwar auf ein Floß gerettet hat, aber noch nicht weiß, ob es ihn auch an das Land tragen wird, nach dem er ausgefahren. Zunächst überließ er sich aufatmend einfach den Wogen seines Geistes, die nun wieder beharrlich um das herrliche Eiland kreisten, das seine Seele suchte, um das sonnenüberglänzte Hellas mit seinen Dichtern, Denkern und Künstlern und um seine winzige Landschaft Attika, die Wiege höchster Kulturwerte für Europa und die Menschheit wie des ersten wirklich geeinten Volksstaates in der Geschichte. Noch leidenschaftlicher und ausdauernder als je zuvor drang er in die Urtexte der großen Tragödien des Äschylus, Sophokles und Euripides ein, bis er ihre sprachlichen Schwierigkeiten so weit meisterte, daß er die griechischen Seiten fast wie deutsche las, versenkte sich in Jacob Burckhardts Kulturgeschichte Griechenlands, in Rankes Darstellung der Blütezeit Athens, und ging so völlig in dem Erleben hellenischen Wesens und Geistes auf, daß er die Götter und Heroen der Heimaterde dieses kleinen attischen Volkes, die ihm einst vorankämpften in seinem Verzweiflungskampf gegen die Barbaren, auch jetzt angesichts des Kampfes seines eigenen Volkes um Bestand oder Untergang fast als lebendige Mächte empfand.

Selbst die Weihnachtsferien, in denen es ihn nun doch, schon um Sessis willen, unwiderstehlich nach Wilkau zog, änderten nichts an. dieser Versponnenheit, ja die Götter schienen ihm geradezu wohlgesinnt, denn sie hatten Sorge getragen, ihn von seiner Gewissenslast und den Befürchtungen wegen des Ergehens Sessis zu befreien.

Schon am ersten Tag im Gerberhaus erhielt er die Gewißheit, daß sich Sessi inzwischen wenigstens aus ihrer tiefsten Gramverstörung zurück und wieder im Leben zurechtgefunden haben mußte, da sie sich, wie Mutter Christel ihm berichten konnte, seit einiger Zeit wieder im Langen Hause hingebungsvoll der Pflege der Verwundeten widmete. Nun brauchte er der ersten Wiederbegegnung mit ihr nach dem Tode des Freiherrn auch nicht mehr so verzagt entgegenzusehen. Da er Sessi jedoch nicht gut im Lazarett aufsuchen konnte, und sie sich von ihrem unermüdlichen Liebesdienst nur ausnahmsweise und auch nur für ein paar Stunden frei machen zu können erklärte, war Damian seiner Mutter dankbar, daß sie selbst Sessi für den letzten Adventssonntag zur Vesper ins Gerberhaus lud. Zu Damians freudiger Überraschung enthielt sich der Vater darüber nicht nur jeder Äußerung des Mißfallens, sondern saß dann sogar, wenn auch reichlich wortkarg, eine Weile mit ihnen gemeinsam am Tisch, den Christel mit dem Lichterkranz und Tannengrün geschmückt hatte und an dem sie bei Streusel- und Mohnkuchen als so liebevolle und zartfühlende Gastgeberin schaltete, daß es Damian tief beglückte; und daß es auch Sessis noch immer wundem Herzen unsäglich wohltat, konnte er aus ihrem bleichen und schmal gewordenen Gesicht ablesen, dessen schmerzlicher Ausdruck sich mehr und mehr entspannte. Von dem, was hinter ihr lag, sprach Sessi zum Verwundern Damians kein Wort, so daß auch er sich davor hütete, daran zu rühren. So gerieten sie, als Meister Jochen sich still entfernt hatte, während Christel sich am Fensterplatz eifrig mit ihren Stricknadeln zu schaffen machte und gleichsam auch nicht mehr vorhanden war, bald wie von selbst in ein Gespräch über das, was überall, wo Deutsche in diesen Tagen des zur Neige gehenden Jahres beisammensaßen, die Gemüter bewegte, in ein nachdenkliches und vielfältiges Gespräch über das Kriegsgeschehen. Als Damian dabei äußerte, wie befremdend für das deutsche Volk, das überwiegend an ein siegreiches Kriegsende noch vor Ende dieses Jahres geglaubt habe, doch eigentlich, gerade jetzt zu Weihnachten, die Erkenntnis sein müsse, daß ungeachtet aller herrlichen Siege im Osten und ungeachtet der gewaltigen und erst so rasanten Erfolge im Westen der Vormarsch an allen Fronten zum Stillstand gekommen und in den Grabenkrieg übergegangen sei, erwiderte ihm Sessi, wobei in ihre großen dunklen Augen etwas wie ein stolzes Glänzen kam, daß sie von dieser Entwicklung keineswegs überrascht worden sei. Und sie erzählte ihm von jenem Abend, an dem der Vater ihr und der Mutter genau das alles vorausgesagt habe, und hielt auch nicht mit der Begründung zurück, die er ihnen dafür gegeben hatte.

Obwohl sein Freund Walter ihn auch schon gewarnt hätte, gab daraufhin Damian zu, sich Illusionen über die Dauer des Krieges zu machen, und ihm persönlich diese Entwicklung also auch nicht ganz unerwartet gekommen sei, so müsse er doch gestehen, daß er den Scharfblick ihres Vaters nachträglich bewundere. Vor allem aber erschüttere ihn der ganze Sachverhalt, den er ihr eröffnet und von dem er bis zur Stunde keine Ahnung gehabt habe. Es werde wohl auch noch reichlich Zeit brauchen, bis weiteren Schichten des Volkes die Augen darüber aufgehen dürften, welche Versäumnisse und Fehler sich jetzt rächten. Aber soweit wie ihre Väter, denn auch sein Vater stehe auf diesem Standpunkt, vermöge er doch nicht zu gehen und daran zu glauben, daß es schon um das ganze deutsche Staatswesen, um sein Regierungssystem, faul stehe, weil sich solche Unzulänglichkeiten zutragen konnten.

»Wir verteidigen uns«, ereiferte sich Damian, »daran kann niemand zweifeln, weil wir angegriffen wurden, oder auch, weil wir angegriffen worden wären, wenn wir nicht noch zur rechten Zeit losschlugen. Unsere Sache ist also eine gerechte, und mit den Gerechten fechten die Götter. Nein, liebste Sessi, ich glaube fest an die Entfaltung aller in unserem Volk lebenden Kräfte und aller seiner guten Eigenschaften, und damit werden wir genau so siegen wie einst das kleine Athen gegen eine Welt von Feinden.«

Je weiter es Damian dazu hinriß, vor Sessi, der einzigen Vertrauten, seine glühenden Ideale eines Menschentums, das alle seine Vorbilder aus dem griechischen Wesen zog und in naiver Gläubigkeit in die nun fast zweieinhalbtausend Jahre jüngere Gegenwart transponierte, in leidenschaftlichen Worten auszubreiten, so wie sie seit Wochen abermals seine Seele erfüllten, desto hingegebener lauschte sie dem Freunde, und aus ihren Augen leuchtete ihm wieder jener vertraute Glanz schwärmerischer Lebendigkeit entgegen, der ihnen seit dem Tode des Vaters verlorengegangen war und den Damian so sehr an ihr liebte.

Vor so viel echter und verständnisvoller Anteilnahme vermochte Damian schließlich sein übervolles Herz nicht mehr zurückzuhalten. Wie ein Rausch kam es über ihn, und einem Rhapsoden gleich schilderte er Sessi in einer Weise, die seiner Einfühlung wie seiner rhetorischen Begabung gleiche Ehre machte, das düstere, von erhabener Größe, ahnungsvollem Dunkel, tiefster Trauer und dämonischer Leidenschaft erfüllte Geschehen der Orestie des Äschylus, dessen Lektüre er in diesen Tagen, von Bewunderung für die unvergleichliche Dichtung ergriffen, beendet hatte.

Sicherlich trieb Damian nichts anderes als sein von der Tiefe und der Gewalt jener Dichtung aufgewühltes Herz zu dieser Eruption seines Inneren, die scheinbar in völligem Widerspruch zu den äußeren Umständen und dem Sinn dieser ersten Wiederbegegnung mit der Geliebten stand, die sich noch kaum aus dem Dunkel, das ihr das Schicksal zugemessen, zurückgefunden hatte. Und dennoch mündete sein Ausbruch auf eine selbst für ihn im vorhinein nicht überschaubare, fast geheimnisvolle Weise in den Zusammenklang ihrer Seelen im Zeichen der unerbittlichen Prüfung ihres Volkes und ihrer Herzen durch den Krieg, als Damian ihr jenes ergreifende Lied Agamemnons, die Klage um die in Feindesland Gefallenen, erst im Urtext und dann in einer eigenen freien Nachdichtung vortrug, das mit den Worten endet: »Dort aber in den Gräbern der Fremde, da walten verklärte Heroen: Der Boden bedeckt seine Sieger.«

Mit ihrer weichen, dunklen Stimme nahm Sessi den eben verklungenen Schlußvers der uralten Totenklage versonnen noch einmal auf:

»Wahrhaftig, Damian, im Tode besiegeln all die Tapferen da draußen ihr Bekenntnis zum Sinn des Krieges, der im Siege beschlossen liegt, und mag sein Ende noch in der Ferne liegen.«

Sessi bedachte sich eine Weile, ehe sie weitersprach. Denn es gab etwas, was sie fast noch stärker bewegte als der Gedanke an die Ernte, die der Tod auch in Zukunft halten würde.

»Weißt du, Lieber, in den ersten schweren Nächten, die ich nach Vaters Tod durchwachte, bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß Tod nicht einmal das Schlimmste ist. Ein Krüppel fürs Leben ist weitaus schlimmer, für ihn selbst wie für seine Angehörigen. Dieser Gedanke hat mich zuerst in meinem Schmerz um den Verlorenen getröstet, dann aber wie ein Ruf gepackt, den er mir aus dem Grabe heraufsandte. Und ich will ihm folgen, bis wieder Frieden in der Welt ist, die Wunden pflegen, die Zerstörungen lindern, die der Krieg schlägt, soweit wie es meine Kräfte nur irgend erlauben.«

Sessi hatte sich wirklich ins Leben zurückgefunden, sie stand wieder auf sicherem Grund. So sehr Damian diese Erkenntnis beglückte, so wenig befriedigte ihn seine eigene äußere Situation, deren Ungeklärtheit er jetzt vor Sessis gesammeltem Ernst und nach der rauschhaften Überschwenglichkeit seines Geistes noch drückender empfand, als sie ihm ohnehin schon aufgegangen war. Und als er Sessi am Abend durch die stillen, verschneiten Gassen wieder zum Lazarett zurückbegleitete, war er nahe daran, sich ihr anzuvertrauen. Aber dann unterließ er es doch, nicht, weil er den Mut dazu nicht aufbrachte, sondern weil er fühlte, daß er sie damit nur aus ihrem schwer errungenen Gleichgewicht aufstören würde, ohne daß es schließlich einen Sinn hätte. Wenn ihm hierin überhaupt jemand raten konnte, so mußte es einer der Professoren sein, und es gab nur einen, dem sein ganzes Vertrauen gehörte und der seine idealistischen Beweggründe verstehen würde. Wie eine Erleuchtung kam ihm dieser Gedanke, den er gleich nach den Ferien in die Tat umzusetzen beschloß.


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