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Siebzehntes Kapitel

Wohl allen Menschen geschieht es dann und wann im Leben, daß sich ein Geschehen, das uns einmal widerfuhr, plötzlich zum zweiten Male, und zwar nahezu gleichartig in allen Begleitumständen oder Stimmungen unseres Herzens wiederholt. So scheint es uns wenigstens zunächst, bis wir nach längerer oder kürzerer Zeit entdecken, daß wir einer Selbsttäuschung erlagen und sich inzwischen die Welt verändert hat oder auch wir selbst uns gewandelt haben. Denn die Tage kommen und verändern uns, sie gehen und lassen uns zurück, wie wir nie waren. Kein Morgen gleicht dem anderen. In jeder Frühe sehen wir Welt und Menschen und uns selbst anders als in der vorhergehenden – nur freilich kommt uns dieses Flüchtige, Veränderliche, dem wir unterworfen sind, während wir ihm unterliegen, kaum je zum Bewußtsein. Erst in der Rückschau erkennen wir, vielleicht, wie sehr wir uns verändert haben.

So auch geschah es Sessi von dem Augenblick an, da sie sich am Morgen des Tages von Damians Wiederabreise ins Feld allein in ihrem Schlafzimmer fand. Denn wieder erschien ihr die Wirklichkeit, deren sie sich erwachend voller Bestürzung bewußt wurde, so kahl und nackt wie dazumal, als Damian zum ersten Male hinaus in den Krieg gefahren war. Und wieder überfiel sie, schon beim Ankleiden, eine Art Schüttelfrost und eine Müdigkeit in allen Gliedern, daß sie ihr nachgeben und schon beim Frühstück Mutter Christel bitten mußte, sie für heute zu entschuldigen, da ihr wohl eine so tüchtige Erkältung angeflogen sei, daß sie sich einfach nicht mehr aufrecht halten könne und sich lieber wieder zu Bett legen wolle. Allein als Sessi sich weder am nächsten noch am übernächsten Tage wohler fühlte und trotz der pudelwarm geheizten Schlafstube gleich einem Eiszapfen, dazu wie geistesabwesend und totenblaß unter dem dicken Federbett lag, hielt Mutter Christel es doch für ratsam, den Arzt holen zu lassen. Zu ihrer Verwunderung wehrte sich Sessi jedoch so heftig, und als Christel Miene machte, ihren Einspruch nicht beachten zu wollen, geradezu flehend gegen ihre Absicht, daß Christel sich wider Willen erweichen ließ und dazu bereit fand, noch einige Zeit abzuwarten.

Sessis Sträuben, das Mutter Christel unverständlich blieb, rührte aus einer Gegend ihres Inneren, über die sie sich auch nur halbwegs klarzuwerden noch nicht imstande war. Nur eines fühlte sie in diesen schmerzlichen Weihnachtstagen: daß sie genau wie einst den Zugang zu jenem Teil ihres tiefsten Wesens verloren hatte, der Damian gehörte. Langsam wuchs aber dann doch die Erkenntnis in ihr, daß sie diesmal mitschuldig war an dem, was sie verloren, daß sie den himmlischen Traum von sich, in dem sie einmal gelebt, in den ersten Nächten ihrer Ehe selbst zerstört hatte.

Als sie nach fast einer Woche fühlte, daß sie sich vollends zugrunderichten würde, überließe sie sich noch länger der Wirbelmühle ihrer Ängste um das in jedem Augenblick aufs neue gefährdete Leben ihres Damian und ihrer Selbstvorwürfe, gegen deren Ursache sie doch machtlos war, raffte sie sich am Neujahrstage gewaltsam auf und eröffnete Mutter Christel ihre Absicht, sich bis zur endgültigen Rückkehr Damians aus dem Kriege von neuem im Langen Hause der Pflege der Verwundeten zu widmen.

Christel, die in dieser klaren Äußerung wiedererwachten Lebensgefühls zu ihrer Erleichterung den Beweis für Sessis Genesung erblickte, billigte nicht nur ihr Vorhaben, sondern bestärkte sie noch darin. Denn sie ahnte jetzt doch dunkel, daß die Ursache der plötzlichen und rätselhaften Erkrankung Sessis in einer seelischen Erschütterung liegen mußte, über die sie durch neue Pflichten am raschesten hinwegkommen würde. Allerdings hatte Christel dabei nichts anderes als den gleichsam natürlichen Rückschlag im Auge, der Sessi nach den kurzen und, wie Christel glaubte, seligen Wochen ihres jungen Eheglücks durch Damians abermalige Auslieferung an die tödlichen Gefahren der rasenden Schlachten getroffen hatte.

Allein Sessis Hoffnung, durch die Wiederaufnahme ihrer Pflegetätigkeit wie schon einmal zu sich selbst zurückfinden und in ihrem Dienst an den Opfern des Krieges allmählich wieder an das Wesen ihres Damian herandringen zu können, erfüllte sich diesmal nicht mehr, obschon sie sich womöglich noch aufopferungsvoller und inbrünstiger ihrer tätigen Barmherzigkeit hingab als zuvor. Sie geriet vielmehr von Tag zu Tag tiefer in eine Art chaotischen Daseins, daß sie sich vor unbegreiflichen Vorgängen, verstürzten Zuständen, die ihr als bald glühheiße, bald eisigkalte Schauer auch rein körperliches Unbehagen bereiteten, kaum noch zu jener ruhigsicheren Haltung zwingen konnte, deren eine Pflegerin vor allem bedarf.

Wahrhaftig, sie verstand sich selber nicht mehr, als sie schließlich sowohl im Lazarett wie abends daheim oft nur mit Widerwillen vor den Mahlzeiten saß, dafür aber manchmal plötzlich einen Heißhunger nach Dingen verspürte, nach denen sie früher kaum ein besonderes Verlangen gekannt hatte, und die jetzt im vierten Kriegsjahr schon längst aus den Läden verschwunden waren. Eines Tages steigerte sich jener Widerwille, als sie sich daheim zum Essen gezwungen hatte, dermaßen, daß eine Übelkeit in ihr hochstieg, der sie auf der Stelle nachgeben mußte und die sie auch vor Mutter Christel nicht verbergen konnte. Da erfuhr Sessi aus ihrem Munde, woran sie bisher noch keinen Augenblick gedacht hatte: daß alle diese ihr so unverstehbaren Erscheinungen das Natürlichste von der Welt für eine junge Frau seien, in deren Schoß ein neues Leben zu wachsen beginne. Die freudige Erregung, mit der Mutter Christel ihre Schwiegertochter dazu beglückwünschte, übertrug sich sogleich auf die junge Frau und begann sich auch bald aufs günstigste auf ihr seelisches Befinden auszuwirken. Sobald sie volle Gewißheit über ihren Zustand hatte, schrieb sie Damian und weihte ihn mit seligjubelnden Worten darin ein.

Doch die glückhafte Beschwingtheit, von der Sessi durch die ersten Wochen ihrer Mutterhoffnung getragen wurde, verlor sich zur Bekümmernis Mutter Christels, deren mütterliche Zärtlichkeit für Sessi sich in jener Zeit noch rührender als bisher bekundete, eines Tages so jäh aus ihr, wie sie in ihr aufgeblüht war.

Sessi saß mit den Schwiegereltern beim Abendbrot, als sie zum ersten Male zu fühlen glaubte, wie sich das Wesen, das in ihr wuchs, zu regen begann.

»Mein Gott, das Kind«, rief sie wie erschrocken unwillkürlich halblaut aus und griff nach ihrem Leibe. Da lächelte Christel zu ihr hinüber und meinte liebevoll:

»I woher, Mädel, damit hat's wohl noch gute Weile.«

Sessi errötete wie ein Kind, dem eine törichte Bemerkung entschlüpft ist, und schwieg. Vielleicht hatte sie sich wirklich getäuscht.

Aber noch am gleichen Abend, als sie schon zu Bett lag, fühlte sie die Bewegung in sich so deutlich, daß sie nicht mehr daran zweifeln konnte. Zugleich erinnerte sie sich an Mutter Christels Worte, und sie erschrak so heftig, als habe sich im grellen Licht eines Blitzes ein Abgrund vor ihr aufgetan. Hatte sie das Wesen, das sich so frühe in ihr regte, vielleicht gar nicht von Damian, sondern schon damals in ihrer Bewußtlosigkeit von dem Fähnrich empfangen? Unerträgliche, entsetzliche Vorstellung! Fieberhaft suchte Sessi ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen, sich klarzuwerden, ob ihre Befürchtung denn überhaupt begründet sei. Doch da sie ja seit ihrem Erlebnis mit dem Fähnrich ständig von diesem Alpdruck gefoltert worden war, außerdem keinerlei Erfahrung in derlei selbst Medizinern manchmal nicht leicht fallenden zeitlichen Berechnungen besaß, überwucherte die fliegende Angst ihren Verstand bald dermaßen, daß sie schier verzweifelte, immer ratloser wurde, mit glanzlosen Augen wie verloren einherging, ihren Dienst im Langen Hause, den sie noch einige Wochen mechanisch versah, von heut auf morgen aufgab und wie eine Verurteilte daheim dem Ereignis entgegenwartete, vor dem es kein Entrinnen gab. Und keinem Menschen, weder Mutter Christel noch dem Arzt, durfte sie sich anvertrauen.

Noch einmal schöpfte sie Hoffnung, als Doktor Fohl, den Christel ohne Sessi zu fragen ins Haus gebeten, weil sie die schmerzliche Versunkenheit und das geheime Leiden des lieben Wesens nicht mehr länger mit ansehen konnte, nach seiner Untersuchung voller Befriedigung erklärte, daß bis jetzt alles normal verlaufe und das freudige Ereignis aller Wahrscheinlichkeit in den ersten Augusttagen zu erwarten sei. Sessis unerfreuliches Gesamtbefinden rühre wohl daher, daß sie reichlich zart und blutarm sei und sich seelisch zu sehr ihrer Angst um den Mann im Felde überlasse.

Also Anfang August, dachte Sessi wie erlöst, dann war es doch ein Hirngespinst, dem sie die ganze Zeit nachgehangen hatte, und das Kind unter ihrem Herzen war Damians Kind vor Gott und den Menschen. Diese Überzeugung schlug von jetzt an täglich tiefere Wurzeln in ihr, befreit und beseligt gab sie sich ihrem neuen Lebensglauben, der frohen Erwartung ihres Mutterglücks hin und ließ sie über der Näharbeit an den winzigen Häubchen, Jäckchen und Kleidchen träumerisch in ihre flinken Nadelstiche wie in ihre Briefe an Damian fließen, der ihr darauf, wenn auch kurz, so doch immer liebevoll-besorgt antwortete.

Eines Abends, als sie Mutter Christel stolz das eben fertig gewordene himmelblaue Steckkissen präsentierte, darin der kleine Erdenbürger zur Taufe getragen werden sollte – denn Sessi konnte sich nichts anderes vorstellen, als daß ihr ein Knäblein beschieden sein würde –, meinte diese aufgeräumt, daß es allmählich an der Zeit sei, die alte bunte Wiege vom Boden zu holen, in der schon Damian und Vater Jochen und vorher Damians Großmutter Lotte geschaukelt hätten. Sie sei aus bestem Eichenholz, nur müsse man jetzt wohl ihren Anstrich erneuern lassen; Sessi war gleich so begeistert von Christels Vorschlag, daß sie sich auf der Stelle mit einer Kerze bewaffnete und trotz Christels Einwand, daß es dafür doch schon zu spät und zu dunkel sei, nach oben eilte und über die steile Bodenleiter in die schräge Dachkammer kletterte, wo sie bald aus einer Ecke, jubelnd wie ein Kind, dem ein neues Spielzeug in die Hände fällt, die alte Wiege hervorholte und Anstalten machte, sie hinter sich durch die Bodenluke zu ziehen, während Christel ihr noch von neuem zurief, mit dem Herunterschaffen bis morgen auf den Gesellen zu warten.

Da war das Unglück auch schon geschehen, die Kerze von einem Luftzug verlöscht, Sessi auf der obersten Sprosse fehlgetreten und sie selbst, gerade noch mit den Händen die Seitenstreben der Leiter umklammernd, wie ein Sack die Leiter herabgerutscht und vor Schrecken ohnmächtig neben der erstarrten Christel zu Boden gesunken.

Sekunden später hatte sich Christel gefaßt, rief Jochen herbei, schaffte mit ihm die Bewußtlose in ihr Bett und hieß den lahmen Berthel, der schon im ersten Schlafe lag, aufstehen und zu Doktor Fohl eilen, denn wie ihr schien, hatte Sessis schwere Stunde, durch den Sturz hervorgerufen, vorzeitig geschlagen.

Christel hatte eben noch die nötigsten Vorbereitungen für das unvorhergesehene Ereignis treffen können, als auch schon Doktor Fohl erschien und ihre Umsicht lobend sein hilfreiches Werk begann, für das er tatsächlich noch gerade zurechtgekommen war.

»Eine so frühe Sturzgeburt habe ich bei Gott in meiner ganzen Praxis noch nicht erlebt«, meinte Doktor Fohl, als er zwei Stunden später mit Meister Jochen und Christel, die noch gar nicht recht zu fassen vermochte, was geschehen war, in der Wohnküche vor einem Imbiß saß, während das Knäblein, dem Sessi das Leben gegeben, als ein genau so kümmerliches Bündel wie einst Damian, sein Vater, und wie dieser vom frommen Christel für alle Fälle notgetauft, in Watte verpackt im erwärmten Ofenrohr lag.

»Viel ist nicht dran an dem Junglein, was kann man auch mehr von einem Siebenmonatekind erwarten«, fuhr der stets offenherzige Hausarzt gutmütig-bärbeißig fort. »Aber Sie werden es schon ebenso hochpäppeln, liebe Frau Maechler, wie damals den Damian. Gott, wenn ich so denke, wie die Zeit vergeht; das liegt ja schon über zwanzig Jahre zurück, oder noch länger.«

»Dreiundzwanzig sogar«, warf Mutter Christel versonnen lächelnd ein. »Weißt du noch, Jochen, wie mir damals die gute Frau Mirander beistand, Gott hab sie selig, und ihr dem sterbensblauen Würmel die Nottaufe gabt? Mir ist's beinahe, als träumte ich, und das kleine Menschlein da drüben sei das Damianlein von damals.«

Auch über Meister Jochens zerfurchtes, großräumiges Gesicht glitt bei diesen Worten ein warmes Lächeln der Erinnerung, wobei er seinem Christel liebevoll in die Augen sah. »Und bei den Wilkauerinnen«, schmunzelte Fohl, »geriet ich damals, als Ihr Sorgenkind am Leben blieb, dank der Beredsamkeit der seligen Mutter Mirander unverdientermaßen in den Ruf, ein Wunderdoktor zu sein, was meiner jungen Praxis beachtlich auf die Beine half.«

Noch eine ganze Weile saßen die drei alten Menschen so, froh bewegt vom rasanten Einmarsch des jüngsten Maechlersprößlings nach glücklich überstandener Gefahr für Mutter und Kind, beieinander und ließen ihre Gedanken rückwärts wandern.

»Wie sind Sie nur, liebe Frau Maechler«, erkundigte sich der Arzt, als Christel zur Stärkung der Gemüter ihren Brombeerlikör hervorholte und man dem schmächtigen Ankömmling zum Wohl die Gläschen leerte, »vorhin so mir nichts dir nichts auf den Namen Gerhart gekommen?«

»Ja, denken Sie«, erwiderte Christel, wie es schien beinahe peinlich berührt und auch etwas bedrückt, »ich fragte doch zuerst Sessi. Sie lag noch halbtot da und war wie geistesabwesend. Ich meinte zu ihr: Wollen wir ihn Damian oder Erdmann taufen, wie seinen Vater? Oder Jophen, wie den Großvater? Oder Nathanael, wie den Urgroßvater? Schon bei meiner ersten Frage hatte sie sich im Bett hochgestemmt, so gut sie konnte, sah mich mit entgleisten Augen an und schüttelte nur jedesmal heftig verneinend den Kopf. Na, wie soll er denn dann heißen? drang ich in sie. ›Reinhard oder Gerhart ... nur nicht wie Damian, überhaupt nicht wie einer aus der Maechlerfamilie‹, gab sie mir endlich mit schwacher Stimme zur Antwort und ließ sich wieder erschöpft in die Kissen fallen. Nein, dachte ich mir, Reinhard hieß der Neefejunge, das war kein guter Name für einen neuen Maechler, gegen Gerhart hatte ich jedoch nichts einzuwenden und wollte auch nicht noch erst lange Zeit verlieren. Also holte ich mir rasch das Weihwasserkesselchen über meinem Bett und taufte ihn Gerhart. Dem Damian wird es wohl kaum recht sein, wenn er es hört, aber was sollte ich in der Not machen?« schloß Christel verdrießlich über die Verantwortung, die sie sich damit aufgebürdet hatte, goß sich sofort noch ein Gläschen ein und spülte ihren Ärger herunter. Daß Sessi sich so nachdrücklich dagegen gewehrt hatte, ihr Kind nach einem seiner väterlichen Vorfahren zu nennen, hatte Christel vor allem gekränkt. Sie vermutete dahinter nichts anderes als einen Rückfall Sessis in die adlige Überheblichkeit ihrer Eltern, so frei davon sie sich auch sonst erwiesen hatte.

Damit tat das verärgerte Christel der jungen Frau freilich bitter Unrecht. Seit Sessi wieder zu sich gekommen war und erkannt hatte, was eigentlich mit ihr vorgegangen war, lag sie von neuem in den Folterqualen ihrer Zweifel an der Herkunft dieses Kindes. Nun hatte es sich zwei volle Monate früher aus ihr gelöst, als zu erwarten stand.›Mein Sturz von der Leiter sei die Ursache dafür, sagt Doktor Fohl, er könnte ja auch gar nichts anderes mutmaßen‹, sann Sessi gehetzt weiter, ›aber wie, wenn der Sturz überhaupt nur deshalb so geendet hatte, weil das Ereignis sowieso schon beinahe fällig war?‹

Und da Sessi sich auf keine Weise absolute Sicherheit hierüber verschaffen konnte, fiel sie wehrlos von neuem der Empfindung anheim, ihr Kind stamme aus jenem Feuerwirbel ihrer Sinne, während dem sie damals an den Teichen dem Fähnrich erlegen sei. Daß es selbst in diesem Falle immer noch Damians Kind sein konnte, dem sie heute das Leben geschenkt, ja daß die Umstände weit eher dafür als für das Gegenteil sprachen, vermochte sie nicht zu bedenken. Das Maß ihrer seelischen Widerstandskraft, aus dem sie von Jugend auf unablässig hatte schöpfen müssen, um sich der Zerstörung durch die Tragödie in ihrem Elternhaus zu erwehren, war jetzt nach all den Erschütterungen einfach aufgebraucht, die über sie seit Kriegsbeginn mit dem Tod des Vaters, der Lebensangst um den Geliebten, dem Ereignis mit dem Fähnrich, dem schaurigen Ende ihrer Mutter und endlich dieser furchtbaren Gewissenslast vor Damian in nicht abreißender Folge hereingebrochen waren.

So lag sie statt in Mutterseligkeit wie ohne Sinn und Ziel starr in ihren Kissen, von einer solchen Lebensangst umschnürt, daß ihren Brüsten, noch ehe eine Woche vergangen, die Milch versiegte und Doktor Fohl sich zu einer Amme entschließen mußte. Auch als sich Sessi nach der üblichen Zeit ohne weitere körperliche Beschwerden von ihrem Wochenlager erhob, überließ sie das zerbrechliche Knäblein, das mit seinen noch ganz vom jenseitigen Schimmer erfüllten großen klaren Augen beinahe lebenszaghaft in die Welt blickte, ohne ein Zeichen sonderlicher Zuneigung, ja fast aufatmend, völlig der Obhut Mutter Christels und der Amme. Sowenig Christel diese Teilnahmslosigkeit Sessis verstand, war sie ihr doch ganz und gar nicht unwillkommen. Sie hing mit einer so seligen Liebe an dem zarten Wesen, von seiner ersten Lebensstunde an, daß es ihr fast unvorstellbar erschienen wäre, das ihr gleichsam noch einmal bescherte Mutterglück mit der jungen Kindesmutter teilen zu müssen.

Als Sessi, die entweder verloren durch die Stuben trödelte oder am Fensterplatz vor sich hin grübelte, wenn sie nicht, gleich einer Leidenden, Stunden in ihrem Bett verbrachte, eines Tages, von selbst ihres ziellosen Grames überdrüssig geworden, den Gedanken äußerte, sich von neuem den Verwundeten im Langen Hause zur Verfügung stellen zu wollen, versuchte Christel gar nicht erst, ihr es auszureden. Und doch sagte ihr ein ahnungsvolles Gefühl, daß Sessis Hoffnung vergeblich bleiben mußte, im Dienst für die Verwundeten über jene unaussprechliche innere Not hinwegkommen zu können, die sie offenbar zu ihrem Schritte trieb. Dazu bedurfte es der Erweckung der Stimme ihres Herzens für ihr Kind, die ihr eine geheimnisvolle Gewalt verschüttet haben mußte. Bis dahin konnte man, wie das gläubige Christel fand, nur voll Vertrauen in die göttliche Führung über jeden Menschen geduldig darauf warten, daß diese Stimme eines Tages sich vom tiefsten Seelengrunde Sessis lösen, bis herauf in ihre Herzkammer dringen und sie ganz mit glockenhaft reinen Tönen erfüllen würde.


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