Robert Falcon Scott
Letzte Fahrt - Auszug
Robert Falcon Scott

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22. Der Marsch über die Höhe

Freitag, 22. Dez. 1911. Der dritte Teil unserer Reise beginnt vielversprechend. Zunächst errichteten wir heute früh das obere Gletscherdepot, dann nahmen wir Abschied von den Kameraden, die hier umkehren mußten. Uns allen ging es herzlich nahe. Unsere Expedition ist damit auf 2 Schlitten zusammengeschrumpft: den ersten führe ich; zu meiner Abteilung gehören Wilson, Oates und Deckoffizier Evans; den zweiten Schlitten ziehen Leutnant Evans, Bowers, Crean und Lashly.

Am 9 Uhr 20 brachen wir mit unsern schweren Lasten auf, ich mit Zittern und Zagen – das sich aber schnell gab, als wir in bequemem Schritt mühelos einen Abhang hinaufkamen. Der zweite Schlitten hielt sich dicht hinter uns; ich hatte also die richtige Auswahl unter meinen Leuten getroffen. Ein 7 stündiger Marsch brachte uns 19 Kilometer vorwärts. Morgen beginnen wir mit 9 stündigen Märschen; mit jedem Tag werden ja jetzt die Lasten leichter.

23. Dez. Am Nachmittag sah es eine Weile bedenklich aus. Wir zogen einen Abhang hinauf, dessen Gipfel eine ganz außergewöhnliche Oberfläche zeigte: nach allen Richtungen liefen enge Spalten, die eine dünne Kruste harten Firnschnees überdeckte. Alle nacheinander purzelten wir hinein, manchmal zwei zu gleicher Zeit. Wie sich über einer offenen Spalte eine harte Schneedecke bilden kann, ist mir ein Rätsel! Schließlich erreichten wir wieder ein Schneefeld, das eine harte Decke und darunter lose Eiskristalle hatte; bei jedem Schritt glaubte man, durch ein Glasdach zu brechen.

Um 5 Uhr nachmittags wurde plötzlich alles anders. Die harte Oberfläche machte regelmäßigen Schneefahnen Platz, und das Gelände ebnete sich nach allen Seiten hin. Am 6 Uhr ließ ich mit dem köstlichen Gefühl der Sicherheit, endlich die eigentliche Höhe (etwa 2360 Meter) erreicht zu haben, das Lager aufschlagen. Zum erstenmal glaube ich, mein Ziel schon nahe vor mir zu sehen. 28 Kilometer weiter und fast um 249 Meter höher in 8 ½ Stunden, das ist ein Fortschritt! Mein Entschluß, ohne Rücksicht auf die Richtung immer bergan zu gehen, war also durchaus richtig; von jetzt an werden uns Spalten oder steile Böschungen wohl nichts mehr in den Weg legen.

Sonntag, 24. Dez. Heiligabend. Der heutige Weg müßte eigentlich eine Probe dessen sein, was wir künftig zu erwarten haben. Wir legten etwas mehr als 26 Kilometer zurück, und nur am Spätnachmittag blieben die Schlitten oft kleben. Scharfer Wind hielt uns beim Marschieren kühl, ist aber im Lager gar nicht angenehm, unsere Gesichter überziehen sich nach und nach mit einer Eishaut. Wir tragen jetzt unsere Windjacken und haben den Kopf besser geschützt als sonst; aber diese Kleidung macht das Gehen nicht leichter.

Am Morgen zeigte sich doch wieder ein hoher Eisrücken zu unserer Linken; wir verloren ihn während des Marsches aus dem Gesicht. Aber heute abend erhebt sich ein zweiter an derselben Seite, und die Schneefläche ist abwechselnd hart und weich, voller Vertiefungen und Erhebungen! Wir stehen also wieder am Rande neuer Oberflächenstörungen – wenn wir nur nicht unsere Richtung wieder nach Westen ändern müssen! Wenigstens sind wir heute auf keine einzige Spalte gestoßen – ein gutes Zeichen!

25. Dez. Erster Weihnachtstag. In der Nacht war Schnee gefallen bei starkem Wind, und die Schneewehen lagen bis 30 Zentimeter hoch. Dennoch kamen wir die ersten 1 ½ Stunden großartig vorwärts. Dann ging es wieder einen Abhang hinauf, und wir saßen zu meinem größten Verdruß abermals zwischen Spalten, die harter, glatter Firnschnee überdeckte. Die Schneeschuhbstöcke halfen uns einigermaßen, aber ohne einige Anfälle ging es nicht ab. Als ich mich zufällig einmal umsah, hielt der zweite Schlitten eine Strecke weit hinter mir; augenscheinlich war einer von der Mannschaft in eine Spalte gestürzt. Schauderhaft frierend warteten wir ½ Stunde lang die Rettungsarbeit ab; schließlich kamen die andern wieder nach. Lashly war ganz plötzlich in eine Eisspalte gefallen und hatte seine Kameraden beinahe mit hinabgerissen! Der Schlitten war weitergelaufen und hatte dadurch die Leine so gespannt, daß der Abgestürzte mit dem Seil heraufgezogen werden mußte.

Auf der Höhe besserte sich der Weg. Am Nachmittag gerieten wir nochmals zwischen Eisspalten und verdeckte Risse, und obendrein zogen mächtige Schneestraßen fast in unserer Richtung hin. Wir marschierten wohl 3 ½ Kilometer weit zwischen solchen Straßen und brachen dabei oft genug ein. So kamen wir schließlich an eine riesengroße, von schroffen Abhängen eingefaßte Mulde. Ist dies ein versenkter Berggipfel oder ein mächtiger Wirbel im Eisstrom? Wir retteten uns aus dem Bereich der Spalten auf etwas tieferes Niveau und kamen bis ½ 8 Uhr prächtig vorwärts.

26. Dez. Vielleicht ein bißchen träge vom gestrigen Plumpudding, unserm weihnachtlichen Festessen, sind wir heute früh eine Stunde zu spät aufgebrochen, ich bin daher mit unserm heutigen Marsch nicht recht zufrieden, obgleich wir 24 Kilometer zurücklegten. Wir sind jetzt auf dem 86. Breitengrad. Die Temperatur war in der letzten Zeit ziemlich beständig, nachts 23 bis 24° und tagsüber 19° unter 0. Ich hatte gehofft, mit den Eisstörungen abgeschlossen zu haben, aber heute abend zeigt sich wieder eine mit Spalten durchzogene Erhebung zu unserer Rechten. Ob wir ihr wohl ausweichen können? Oder ob noch andere kommen?

27. Dez. Immer noch bergauf und bergab! Für den Nachmittagsmarsch schwante mir nichts Gutes, und richtig: als wir einen kurzen Abhang hinaufkamen, sahen wir uns schon wieder inmitten großer Spalten. Eine Stunde lang quälten wir uns fürchterlich, einen Weg zu suchen, stürzten in Spalten und standen schließlich wieder vor einem »Eisstrudel«, der der Mittelpunkt der Eisstörungen zu sein schien. Die letzte Marschstunde über weichen Schnee war dagegen eine Erholung, und wir brachten trotz allem 25 Kilometer fertig. Auf solchen Wegen den Führer abgeben, ist wahrlich keine Kleinigkeit. Keine Minute darf man seinen Gedanken nachhängen, und wenn es erst zwischen Eisspalten und -blöcken kreuz und quer geht, macht die dauernde Spannung der Aufmerksamkeit höchst müde.

28. Dez. Ein anstrengender Tag! Und trotzdem 24 Kilometer hinter uns! Meine Abteilung zog heute morgen sehr leicht und sauste 2 Stunden lang nur so vorwärts – der andern Abteilung aber wurde es recht sauer. Ich tauschte daher mit Leutnant Evans und fand den zweiten Schlitten bedeutend schwerer – das Gespann kam auch mit mir nicht so in Schwung wie mein eigenes, und sobald wir auf weichen Schnee gerieten, saßen wir alle Augenblicke fest. Die Schuld liegt am Schlitten; sein Gestell ist durch harte Stöße auf dem Eis und durch verkehrte Bepackung schief geworden. Damit muß nun die zweite Abteilung selbst fertig werden.

29. Dez. Die schlimmste Oberfläche, die wir je gehabt haben! Wenn das so weitergeht, ist keine Möglichkeit, die täglichen Märsche voll einzuhalten! Der zweite Schlitten hat zwar mit uns Schritt halten können, aber wir brachten es nur auf 22 Kilometer. Auf den Nordabhängen lag der Schnee in gewaltigen Haufen über Eistrümmern; da hindurchzukommen erforderte eine furchtbare Mühe. Der Wind springt aus Südost und Südsüdwest um, schwillt an und flaut wieder ab; wenn er nur wenigstens den Schnee wegfegen wollte!

30. Dez. Meine Geduld wurde heute auf eine harte Probe gestellt, und wir haben nur 20 Kilometer zurückgelegt! Der zweite Schlitten blieb wieder zurück und kam erst ¾ Stunde nach uns im Lager an. Morgen wollen wir nur einen halben Marsch machen, ein Depot errichten und die 3 Meter langen Schlitten zusammensetzen. Die zweite Abteilung wird matt; ich will sehen, wie sie mit dem kleineren Schlitten und der leichteren Last fertig wird.

Die Oberfläche ist hier viel schlechter als vorher. Das wäre kein Unglück – wenn nur die zweite Abteilung nicht abfiele! Und daß sie das tut, daran ist leider nicht mehr zu zweifeln!


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