Robert Falcon Scott
Letzte Fahrt - Auszug
Robert Falcon Scott

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20. Ein verhängnisvoller Aufenthalt

Dienstag, 5. Dez. 1911. Wir erwachten heute früh bei wütendem Schneesturm. Bisher fehlte wenigstens der feine Puderschnee, das eigentliche Kennzeichen des Orkans – heute haben wir ihn in schönster Vollkommenheit! Eine Minute im Freien, und man ist von Kopf bis zu Fuß damit bedeckt. Dabei ist die Temperatur so hoch, daß alles kleben bleibt. Die Ponys stehen tief im Schnee, und Kopf, Schwanz, Beine und jedes Fleckchen, das nicht durch die Decke geschützt wird, ist wie mit Eis überzogen. Die Schlitten sind fast unsichtbar, und hohe Schneewehen ragen über die Zelte. Nach dem Frühstück haben wir die Schutzwälle wieder aufgeschaufelt und stecken jetzt von neuem in unsern Schlafsäcken. Bei solchem Wetter zu marschieren, und nun gar dem Sturm entgegen, ist natürlich ausgeschlossen! Es ist mehr als Pech! Keine Voraussicht – keine Überlegung – keine Erfahrung – nichts hätte uns auf so etwas vorbereiten können!

11 Uhr abends. Den ganzen Tag heftiger Sturm – der größte Schneefall, den ich je gesehen! Die Schneewehen um unser Zelt sind einfach riesig. Die Temperatur betrug heute nachmittag ½° unter 0! Wo der Schnee nicht wieder auf Schnee fällt, taut er sofort: Zelte, Windanzüge, Nachtstiefel, alles ist klatschnaß, von Zeltstangen und Zelttür tropft das Wasser, Wasser in Lachen auf dem Fußboden, Wasser durchweicht die Schlafsäcke und macht alles scheußlich ungemütlich. Jetzt fehlt nur noch plötzliche Kälte – dann wäre unsere Lage nicht auszudenken! – Aber alles wäre schließlich noch zu ertragen – wenn nur dieser Aufschub nicht so furchtbar ernst wäre – wir können uns nicht den geringsten Aufenthalt leisten!

6. Dez. Wir liegen im »Sumpf der Verzweiflung« – das Unwetter tobt mit unverminderter Heftigkeit. Die Temperatur ist auf ½° über 0 gestiegen. Im Zelt schwimmt alles. Wer hinausgeht, kommt wie von einem Platzregen begossen wieder herein. Der Schnee klettert beständig höher um Wälle, Ponys, Zelte und Schlitten. Die Tiere sehen trostlos aus! Und dabei sind wir noch immer 22 Kilometer vom Beardmoregletscher entfernt. Mich durchschauert eine Hoffnungslosigkeit, der ich mich kaum noch erwehren kann.

7. Dez. Der Sturm dauert fort, und unsere Lage wird immer ernster. Für morgen bleibt uns nur noch eine kleine Futterration; wir müssen also morgen marschieren oder die Ponys opfern. Bedenklicher noch ist: wir haben heute morgen unsern Lebensmittelvorrat, der für die Gletscherwanderung bis zum Pol abgewogen war, anbrechen müssen! Die erste Hilfsmannschaft kann uns von heute ab nur noch 14 Tage begleiten und muß dann umkehren. Dieser stürmische Dezember – sonst der schönste Monat hierorts – ist eine Überraschung, auf die auch der Vorsichtigste nicht gefaßt sein konnte. Meares hatte einen bösen Anfall von Schneeblindheit auf einem Auge. Von Fröhlichkeit im Lager kann bei solchem Unwetter keine Rede sein, aber sie wartet nur darauf, wieder aufzuflackern. Gestern abend, als wir einige Minuten Hoffnung faßten, hörte man schon wieder Lachen.

Um Mitternacht. Alles beim alten! Nichts kann so erbittern wie diese erzwungene Untätigkeit, wo jede Stunde von so ungeheurer Wichtigkeit ist! Ein schreckliches Los, immer nur die Wasserflecken an den grünen Zeltwänden, die glitzernd nassen Bambusstangen, die schmutzigen, klatschnassen Socken und was sonst, von Wasser durchweicht, von der Decke herabbaumelt, anstieren – ewig das Trommeln des herabfallenden Schnees und das Klatschen des aufgeblähten Zelttuches hören – die klebrig feuchten Kleidungsstücke fühlen zu müssen, und dabei zu wissen, daß draußen rechts und links und vorne und hinten eine weiße, farblose Mauer uns entgegenstarrt! Und dann das niederschmetternde Gefühl, daß mein ganzer Plan mißlingt – mißlingen muß!

8. Dez. Gegen 4 Uhr machte der Himmel Miene, sich aufzuhellen, man konnte einige Stellen des Landes erkennen – ein Funke Hoffnung lebte wieder in uns auf. Ach! während ich dies schreibe, ist die Sonne von neuem verschwunden, und es schneit schon wieder! Unsere Lage wird verzweifelt! Leutnant Evans versuchte heute nachmittag mit seiner Mannschaft auf Schneeschuhen eine Last zu ziehen – sie brachten tatsächlich einen Schlitten, auf dem 4 Mann saßen, vorwärts; aber als sie ihn zu Fuß ziehen wollten, sanken sie bis über die Knie in den Schnee. Dann versuchten wir es mit dem Baron, der versank bis an den Bauch! Mit den Ponys ist's aus, meint Wilson; nur Oates versichert, daß sie trotz des ungeheuer hohen Schnees noch einen Marsch aushalten würden, wenn er morgen stattfinde. Wenn nicht, dann müssen wir morgen die Ponys töten und, koste es was es wolle, mit den Leuten auf Schneeschuhen und den Hunden weiterziehen. Aber was können Hunde in solchem Schneemeer leisten?

9. Dez. Ich ging in der Nacht ein paarmal aus dem Zelt, um mich zu vergewissern, daß das Wetter langsam besser wurde; um ½ 6 waren wir alle munter, und um 8 zogen wir mit den Ponys ab – einem schweren Tag entgegen. Der entsetzliche Schneefall hatte den Weg unerträglich weich gemacht; wir trieben die armen, auf halbes Futter gesetzten Tiere genügend an, aber keines behielt die Führung länger als ein paar Minuten; der Spur folgen konnten sie gut. Am 8 Uhr abends waren wir etwa 2 Kilometer von dem Abhang, der zu der Schlucht hinaufführt, die Shackleton »das Einfahrtstor« getauft hat. Meine Hoffnung war, viel früher mit dem Rest der Ponys dieses Tor zu passieren; wäre nicht der mörderische Orkan gewesen, so hätten wir das auch fertig gebracht. Aber verzweifelt ist darum unsere Lage noch nicht, wenn nur der Sturm den Weg da oben nicht rettungslos verdorben hat.

Abends um 8 waren die Ponys alle miteinander völlig fertig. Wir schlugen deshalb das Lager auf, das »Schlachthauslager«, wie wir es nennen, denn wir haben alle Ponys erschossen! Die armen Tiere! Die Hunde laufen gut trotz des schlechten Weges, aber die Hilfe, die wir brauchen, sind sie nicht; ich kann ihnen auf solchem Schnee keine schweren Lasten aufbürden. Die Landschaft ist großartig; drei riesige Granitpfeiler bilden die rechte Wand des Einfahrtstores und ein scharfer Ausläufer des Mount Hope die linke. Aber überall liegt viel mehr Schnee als vor dem Sturm. Zweifelhafte Aussichten! Dennoch ist heute abend jeder vergnügt, und Scherzreden stiegen hin und her. Möge uns Mount Hope, der »Hoffnungsberg«, ein gutes Wahrzeichen sein!


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