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Freitag, 30. Dez. 1910. Diese Nacht um 1 Uhr steuerte Leutnant Bowers die »Terra Nova« durch den letzten Eisstrom, und heute früh um 6 schwammen wir in offener See.
Am Vormittag legte sich der Wind, und um 11 Uhr ergab die Lotung 2030 Meter Tiefe – wir waren offenbar am Rand der kontinentalen Bank, die das Südpolarfestland bildet. Um Mittag brach die Sonne durch Wolken und Nebel. Vom Tauwerk blätterte die Eisschicht ab und fiel klirrend auf Deck, wo in der warmen Luft der Eisschlamm schnell verdunstete.
Vom Packeis befreit, waren wir während des Tages tüchtig weitergekommen, und ich berechnete schon, daß wir Neujahr am Kap Crozier sein müßten – da hob sich um 3 Uhr nachmittags ein regelrechter Südsturm. Abends um 8 schlichen wir nur noch vorwärts! Schon wieder ist das Glück uns entgegen! Der kurze, scharfe Seegang ist für die Ponys das reine Gift.
31. Dez., Silvester. Die vorige Nacht war entsetzlich! Schlafen konnte ich nicht, denn ich mußte immer an die schauderhafte Lage der armen Ponys denken. Am Morgen nahmen Wind und Seegang noch zu, und um 6 wurde wieder loses Eis vor uns gesichtet. – Also vorwärts durch den Eisstrom – bei so hohem Seegang ein gefährliches Beginnen; aber bald kamen wir an ein festeres Eisfeld, und als wir es glücklich hinter uns hatten, fanden wir zu unserer Überraschung verhältnismäßig glatte See. Noch eine Strecke weiter und wir legten bei in einer Art Eisbucht, wo der Seegang abgeschwächt war. Im Lauf des Tages aber wurde unsere Zuflucht unsicher, und abends mußten wir anderswo Schutz suchen. Glücklicherweise legte sich der Wind, und als sich um 10 Uhr die Wolken verzogen, lagen im Westen alle Berge des Süd-Viktoria-Landes im prächtigsten Sonnenschein vor uns!
Sonntag, 1. Jan. 1911. Um 4 Uhr morgens dampften wir langsam nach Südwesten; um 8 waren wir aus dem Eis heraus und steuerten südwärts. Wir hatten den ganzen Tag strahlenden Sonnenschein; noch jetzt, um 11 Uhr abends, sonnen sich die Leute bei gänzlicher Windstille und sitzen lesend auf Deck. Die Ponys sollen sich gut gehalten haben. Unsere heutige Lotung ergab 340 Meter, gegenüber 2030 vorgestern: wie schnell also die kontinentale Bank ansteigt!
3. Jan. Meine nächste Hoffnung ist bereits zuschanden geworden: Am Kap Crozier können wir nicht überwintern! Schon am Morgen, als bei schönstem Wetter das Land immer deutlicher vor uns aufstieg, ahnte mir nichts Gutes: Wind und Dünung ließen für die Landung die größten Schwierigkeiten befürchten. Bald nach Mittag kamen wir 9 Kilometer östlich von Kap Crozier an die Eisbarriere heran, die sich von dieser Ecke der Roßinsel aus weithin nach Osten bis König-Eduard-Land erstreckt. Sie war nicht höher als 18 Meter und vom »Krähennest« aus gut zu überblicken; nach dem Rande zu senkte sich ein wenigstens 2 Kilometer langer sanfter Abhang. Seit den Tagen der »Discovery«, mit der ich 1902/3 hier überwinterte, hat sich hier nichts verändert; wir sahen unsere alte Posthausstange noch so gerade stehen, wie vor 8 Jahren, und haben alles mit unsern alten Photographien verglichen: nichts ist anders geworden.
Den Zwischenraum zwischen Barriere und Felsen nahm aber ein besonders hoher Preßeisrücken ein. Um festzustellen, ob zwischen Preßeisrücken und Felsen durchzukommen sei, ließen wir eins der Walfischboote ins Wasser, und Wilson, Griffith Taylor, Pristley, Evans und ich ruderten an Land. Zwischen Barriere und Felsen fanden wir eine große schmutzige Scholle Meereis eingeklemmt und so stark aufwärts gepreßt, daß sie über 1 Meter hoch über dem Wasser stand. Dabei brandete die Dünung so heftig, daß von Landen gar keine Rede sein konnte.
Ich litt Tantalusqualen – nicht nur wegen der Unmöglichkeit der Landung überhaupt. Gerade auf diesem Stück alten Buchteises, etwa 2 Meter über uns, saß ein Pinguinküken; es war in einem Alter und einem Entwicklungsstadium, in dem noch keiner von uns den Kaiserpinguin gefangen oder untersucht hat: es verlor eben seine Daunen, die Flügelstummel waren bereits ganz daunenfrei und genau so gefiedert wie die der ausgewachsenen Vögel. Es wäre also ein Triumph gewesen, dieses Küken dingfest zu machen, aber wir konnten nicht heran, und ich durfte seinetwegen nicht unser aller Leben aufs Spiel setzen.
Aus der Unterseite der etwa ½ Meter dicken Eisscholle hingen Beine und Körperhälften toter Kaiserpinguinküken heraus, an einer Stelle auch der Kadaver eines ausgewachsenen Pinguins. Diese traurigen Reste früheren friedlichen Lebens dort oben waren jedenfalls auf der Oberfläche des Eisfeldes eingefroren und wurden jetzt von unten allmählich wieder herausgespült. So bot diese alte, schmutzige, eingeklemmte Scholle des abgetriebenen Buchteises einen förmlichen Abriß der Lebensgeschichte dieser seltsam primitiven Vögel.
Da eine Landung unmöglich war, ruderten wir eine Strecke an den Felsen entlang. Aber wenig fehlte, und diese Kahnpartie hätte unserer ganzen Polwanderung ein vorschnelles Ende bereitet. Als wir unter einem der überhängenden Felsblöcke entlangruderten, meinten wir scherzend, wenn solch ein Block auf uns herabfalle, würden wir den Spaß wohl nicht lange überleben. Doch war uns dabei etwas beklommen zumute, und wir atmeten erleichtert auf, als wir uns von hier wieder zum Schiff hinwandten. Kaum waren wir etwa 300 Meter entfernt, als plötzlich ein donnerähnliches Krachen hinter uns ertönte, etwas mit laut klatschendem Schlag in die See stürzte, diese hoch aufspritzte und eine erstickende Wolke Gesteinstaub sich erhob gleich dem Rauch bei einer Explosion. Als sich der Staub verzogen hatte, sahen wir, welch einem Unheil wir entgangen waren: derselbe Block, über dessen bedrohliches Herabhängen wir gescherzt hatten, war wirklich abgestürzt!
Jammerschade, daß ich den uns allen schon liebgewordenen Plan, am Kap Crozier zu überwintern, aufgeben muß! Nach Westen hin ist die Küste ebenfalls hoffnungslos. Ehe wir nicht Kap Royds erreichen, winkt uns keine Hoffnung auf ein Unterkommen. Also auf nach Westen!
4. Jan. Diese Fahrt ist voller Überraschung! Früh um 6 steuerten wir durch das letzte Packeis der Meerenge zwischen Roßinsel und Süd-Viktoria-Land nach Kap Royds hin, in der festen Erwartung, den Rand des Packeises westwärts von ihm zu finden. Zu unserm größten Erstaunen fuhren wir aber über das Kap hinaus in freiem Wasser, dann an Kap Barne vorüber, an der Südseite des Barnegletschers entlang, schließlich um die Inaccessible-Insel herum und darüber hinaus noch gut 4 Kilometer südlicher; ja wir hätten noch weiter fahren können, aber dann schien der Eisschlamm dicker zu werden, und außer Kap Armitage, der noch 22 Kilometer entfernten äußersten Südspitze der Roßinsel, auf deren kleiner Landzunge »Hüttenspitze« 1903 die Hütte der Discovery-Expedition stand, gab es hier keinen zum Überwintern geeigneten Ort. Niemals habe ich das Eis des McMurdo-Sundes so harmlos gesehen; offenbar war der letzte Sommer ungewöhnlich warm. Wir hatten nunmehr eine sehr reiche Auswahl bei der Entscheidung über unser Winterquartier. Ich wünschte vor allem einen Platz, an dem wir nicht leicht von der Eisbarriere abgeschnitten werden konnten, und meine Wahl fiel auf ein Vorgebirge etwas hinter uns; es war von der alten Discovery-Station durch 2 tiefe Meeresbuchten auf beiden Seiten der Erebusgletscherzunge getrennt, die voraussichtlich bis spät in den Sommer hinein zugefroren blieben und deren Eis außerdem, wenn sie einmal zufroren, bald fest zu werden versprach. Alle stimmten meinem Vorschlag zu. Wir wendeten also und steuerten nach dem festen Eis quer vor dem genannten Kap.
Ungefähr 3 Kilometer vorm Ufer kamen wir an hartes Buchteis, das eine haltbare Straße zum Ausschiffen unserer Vorräte bot. Hier machten wir uns mit Eisankern fest, und Wilson, Evans und ich gingen zum Kap, das ich zunächst, unserm trefflichen Kommandanten zu Ehren, in Kap Evans umtaufte. Der nach Nordwest gelegene, im Rücken durch zahlreiche Hügel geschützte Strand erwies sich als ein idealer Platz für eine Winterstation; ihn wählten wir daher zum Bau unserer Hütte.