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Dienstag, 27. Juni 1911. Heute morgen zogen Wilson, Bowers und Cherry-Garrard sehr vergnügt nach Kap Crozier, um den dortigen großen Brutplatz der Kaiserpinguine zu besuchen; ihre schwere Last war auf 2 Schlitten von 3 Meter Länge verteilt. Diese Winterreise ist ein kühnes Wagnis, aber es hat auch die richtigen Männer gefunden. Während ihrer Abwesenheit gibt es keine Vortragsabende mehr; unser Leben wird also recht still sein.
3. Juli. Der Himmel sieht verdächtig aus. Dünne Schicht. Wolken bilden sich über uns und verteilen sich wieder, und über dem Erebus wogt es auf und ab. Wind am Kap Crozier scheint möglich zu sein, unsere Leute waren weit draußen auf dem Eis. In solchen Stunden erscheint die Hütte unheimlich einsam und die Stille und Finsternis bedrückend. Man atmet geradezu auf, wenn draußen in der Ferne an einem Wasserloch Lichter blinken, vereinzelte Stimmen, von weither herüberklingend, die Stille unterbrechen oder das Sausen der Schneeschuhe sich nähert.
4. Juli. Ein Orkan- und Erlebnistag! Taylor und Atkinson begaben sich zum Thermometerstand auf die Rampe hinauf, und nachher liefen Atkinson und Gran über das Eisfeld, um nach den in der Nord- und Südbucht aufgestellten Thermometern zu sehen. Das war um ½ 6; zum Essen um 7 Uhr war Gran wieder da; er hatte sich nur etwa 300 Meter weit vom Land entfernt, aber zur Rückkehr fast eine Stunde gebraucht.
Atkinsons Abwesenheit blieb fast bis zum Schluß des Essens unbemerkt. Als wir uns zu Tisch setzten, hatte sich der Sturm gelegt, und wenn es auch ringsum sehr neblig war und leicht zu schneien begann, fühlte ich doch keinen Anlaß, mich zu beunruhigen. Als einige von uns die Hütte verließen, bat ich sie aber doch, zu rufen, Laternen zu schwenken und zur Vorsicht eine Petroleumfackel auf dem Windfahnenhügel anzuzünden. Deckoffizier Evans, Crean und Keohane brannten darauf, hinauszukommen; ich schickte sie daher mit einer Laterne nordwärts.
Mittlerweile hob sich der Wind von neuem, und der Mond blickte hier und da verschleiert durch die schnellziehenden Wolken. Bei solchem Führer konnte unserer Wanderer seinen Weg unmöglich verfehlen, und ich erwartete jeden Augenblick seine Rückkehr. Eine Stunde verging – von Atkinson war nichts zu sehen. Nun packte mich die Angst. Um ½ 10 kehrten Evans und seine Begleiter zurück – sie hatten keine Spur des Verschollenen gefunden! Dabei war Atkinson zwar in seinem Windanzug, aber nur mit ledernen Schneeschuhstiefeln fortgegangen. An einem ernstlichen Unfall war jetzt nicht mehr zu zweifeln, und ich sandte sofort nach allen Seiten Patrouillen aus.
Zuerst ging Evans mit Crean, Keohane und Dimitri, einem leichten Schlitten, einem Schlafsack und einer Flasche Kognak ab; er sollte das Ufer und den Gletscherrand bis nach Kap Barne absuchen, dann ostwärts bis zur Inaccessible-Insel gehen. Leutnant Evans zog, ebenso ausgerüstet, mit 3 Mann aus, um das Ufer der Südbucht abzustreifen, dann aber seewärts nach der Finnwalinsel hin zu suchen. Als dritte Abteilung machten sich Wright, Gran und Lashly nach den Eisbergen auf, und Meares und Debenham suchten mit einer Laterne die ganze Eisfläche vor unserm Vorgebirge ab. Simpson und Oates gingen geradesweg über das nördliche Eisfeld, während Ponting und Taylor die Flutrinne nach dem Barnegletscher zu noch einmal untersuchten. Unterdes ließ Day auf dem Windfahnenhügel in Petroleum getauchte Wergbündel aufflackern. Schließlich war ich mit Clissold ganz allein in der Hütte, und je weiter die Zeit vorrückte, desto höher stieg meine Unruhe. Es wurde 11, ohne daß einer von den Suchenden zurückkam – die Uhr schlug ½ 12 – nichts rührte sich! Sechs Stunden war Atkinson schon fort!
Endlich – kurz vor 12 Uhr hörte ich vom Vorgebirge her Stimmen – und wenige Minuten später führten Meares und Debenham den Vermißten herbei! Er hatte greuliche Frostbeulen an der Hand und im Gesicht, im übrigen war er wohlauf, nur noch etwas verwirrt.
Soweit er berichtete, war er nur ½ Kilometer in der Richtung des Thermometerstandes gegangen und dann umgekehrt. Dabei wollte er den Wind auf der Seite behalten und war nach einiger Zeit an ein altes Fischfallenloch gekommen, das, wie er wußte, nur 180 Meter vom Vorgebirge entfernt liegt. Aber als er die 180 Meter hinter sich hatte, war vom Vorgebirge nichts zu sehen. Hätte er sich jetzt ostwärts gewandt, so wäre er dicht bei der Hütte auf Land gestoßen. Daß er hierauf gar nicht verfiel, zeigt, welche Geistesverwirrung solch eine Lage hervorruft.
Tatsächlich hat Atkinson keine klare Erinnerung mehr an das, was mit ihm geschah, als er das Vorgebirge nicht fand. Offenbar ist er ziellos gegen den Wind angelaufen, bis er an eine Insel kam, um die er herumging; da er kaum 1 Meter weit sehen konnte, fiel er mehrmals in die Flutrinne und machte schließlich im Schutz einiger Felsen halt. Hier erfror ihm die Hand, während er sich bemühte, den steifgefrorenen Handschuh wieder anzuziehen; schließlich gelang ihm das. Nun wollte er sich eine Grube graben, um darin zu warten. Da sah er einen Schimmer vom Mond und verließ die Insel; aber bald verlor er den Mond aus den Augen. Dann wollte er wieder zurück, fand aber die Insel nicht mehr; schließlich stieß er wieder auf eine Insel, vielleicht dieselbe, und wartete hier von neuem – dann erblickte er das Flackerfeuer auf dem Vorgebirge und lief darauf los. Er will ganz nahe beim Vorgebirge jemand angerufen, aber keine Antwort erhalten haben. Recht sonderbar! Doch heute Abend redet Atkinson noch ziemlich durcheinander, sein Gehirn ist erst halb aufgetaut. Soviel aber ist gewiß: hätte sich der Orkan nicht gelegt, so wäre keine Rettung möglich gewesen!
5. Juli. Atkinsons Hand ist furchtbar schlimm, die Finger mit den Frostbeulen sehen wie Würste aus; Ponting hat sie ihres ungewöhnlichen Äußern wegen photographiert.
Wie ich nicht anders erwartete, berichtigte Atkinson seine gestrige Erzählung. Er scheint zuerst auf die Inaccessible-Insel gestoßen zu sein und sich die Hand schon vorher erfroren zu haben. Erst als er im Schutz der Insel wartete, hat er die Frostbeulen entdeckt und sich dann im Glauben, nahe der Rampe zu sein, nach dem Westende der Insel hingetastet. Um Hindernisse des Eisfußes zu umgehen, bog er im Schneegestöber von der Insel ab und verlor sie ganz aus dem Gesicht, obgleich er nur wenige Meter von ihr entfernt sein konnte. Verwirrt und erschreckt darüber klammerte er sich an die erste Idee, gegen den Wind anzugehen, und es war wirklich eine göttliche Fügung, daß er in dieser Richtung zunächst auf die Zeltinsel stieß. Er hielt sie für die Inaccessible-Insel, ging um sie herum und grub sich schließlich auf ihrer Leeseite eine Schutzhöhle. Als dann der Mond sich zeigte, beurteilte er dessen Stand ganz richtig; als er aber heimwärts wanderte, war er sehr überrascht, die wirkliche Inaccessible-Insel zu seiner Linken auftauchen zu sehen. Da er sich nach der 9 Kilometer entfernten Insel hin verirrt hatte, erklärt sich die lange Zeit, die er zum Rückmarsch brauchte. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß er auf ein Haar verloren gewesen wäre.
14. Juli. Eine schauderhafte Nacht! Gestern mittag wollte »Knochen«, einer der besten Ponys, plötzlich nicht fressen – er litt offenbar an Kolik. Später wurde er von Crean ins Freie gebracht, aber nun wurde er alle 5 Minuten von Krämpfen befallen. Wenn die Schmerzen begannen, raste er vorwärts, wie um ihnen zu entrinnen, dann versuchte er, sich niederzulegen. Wieder im Stall, ging es ihm sichtlich schlechter, und Oates und Anton zogen ihm geduldig einen Sack unter seinem Leibe hin und her. Immer wieder versuchte er sich niederzulegen, und schließlich ließ ihm Oates seinen Willen. Allmählich sank sein Kopf nieder; zuletzt lag er der Länge nach am Boden, zuckte unaufhörlich vor Schmerzen, hob hin und wieder den Kopf und versuchte sich aufzurichten, wenn die Schmerzen gar zu arg wurden. Wir gaben ihm 2 Opiumpillen und packten ihn in gewärmte Säcke. Um Mitternacht war ich ganz verzweifelt. Wir dürfen keinen einzigen Pony mehr einbüßen – wir haben schon viel zu viel verloren! Wenn wir nicht alle Tiere am Leben erhalten, ist mein ganzes Unternehmen gefährdet!
Kurz nach Mitternacht spürte Knochen endlich ein wenig Erleichterung; die Zuckungen hatten aufgehört, sein Auge blickte weniger traurig, und seine Ohren spitzten sich bei Geräuschen. Als ich ihn um ½ 3 besuchte, hob er plötzlich den Kopf und richtete sich ohne Anstrengung auf seinen Beinen auf; dann begann er, wie aus einem schweren Traum erwacht, ein Heubündel und seinen Nachbar zu beschnüffeln – und nach einigen Minuten hatte er einen Eimer Wasser getrunken und zu fressen begonnen. Sehr erleichtert legte ich mich um 3 Uhr schlafen.
17. Juli. Wenn nur erst wieder die Sonne da wäre! Sturm und Untätigkeit haben nicht nur die Ponys angegriffen, auch Ponting ist nicht wohl – sein nervöses Temperament erträgt diese Art Winterleben schlecht; Atkinson kann ihn nur mit größter Mühe überreden, sich Bewegung zu machen. Taylor drückt sich ebenfalls vom Spazierengehen und sieht schlecht aus. Wenn wir erst wieder Fußball spielen können, wird alles gut sein.
Sonntag, 30. Juli. »Julick«, einer unserer besten Schlittenhunde, ist verschwunden! Ich fürchte, er ist irgendwo von den andern totgebissen worden; wenn die Sonne zurückkehrt, werden wir wohl seinen steifgefrorenen Kadaver finden. Meares glaubt, Julick müsse in ein Robbenloch gefallen sein. Der Verlust wird dadurch nicht geringer – eine sehr verdrießliche Geschichte!
31. Juli. Was mag nur aus der Crozier-Abteilung geworden sein? Sie ist jetzt schon 5 Wochen fort. – Die Ponys fangen an zu bocken. Der »Chinese« schreit und schlägt im Stall. Der »Baron« hat in der letzten Nacht seinen Stand zertrümmert. Der Lärm über Nacht läßt uns kaum schlafen. Immer wieder bildet man sich allerhand Entsetzliches ein; wenn dann der Nachtwächter den Stall betritt, blinzeln ihn die Bewohner so schläfrig an, als ob die Störung unmöglich von ihnen ausgegangen sein könne.
2. August. Gestern abend kehrte die Crozier-Abteilung zurück; sie hat 5 Wochen hinter sich, die, was Anstrengungen, Ausdauer und Entbehrungen anlangt, wohl zum Schlimmsten zu zählen sind, was je ein Mensch auszuhalten vermochte. Die drei Kameraden sahen furchtbar verwettert aus: die Gesichter voll Narben und Runzeln, die Augen glanzlos, und die Hände weiß wie Leichenhände und rissig von Feuchtigkeit und Kälte. Die Kälte, die sie durchmachen mußten, war geradezu fürchterlich. Länger als eine Woche zeigte das Thermometer unter 51°, eines Nachts 57, in der nächsten Nacht sogar 60 ½! Daß Menschen es fertig bringen, in der Dunkelheit der Polarnacht den wütendsten Stürmen und solch entsetzlicher Kälte Trotz zu bieten, und das 5 Wochen lang, ohne andern Unterschlupf als ein dünnes Zelt aus Segeltuch, ist eine heroische Tat ohne Beispiel.