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Im Sommer ging ich mit dem Handpapierfabrikanten Herrn Eggerth alljährlich zwei bis drei Mal »aufs Geierhäusel« oder, wie dieser paradiesische Fleck Erde von Amts wegen heißt, die (bayerische) Scheuerecker Diensthütte. Dieser Ort, wenn man das schon so nennen darf, liegt hart am Fuße des großen Falkenstein und bietet, wie schon der Weg dahin auf der bayerischen Seite, alles, was sich ein Naturfreund an Romantik wünschen kann. Die erste Wegstunde, solange man nämlich auf der böhmischen, mehr nördlich gelegenen Seite, ansteigt, sind allerdings Weg und Waldbestand nicht besonders schön; aber dafür später, auf der bayerischen Seite, einfach herrlich! Prächtiger Hochwald mit Riesentannen und Riesenbuchen, mannshohen Farrenkräutern, der üppigsten Vegetation überhaupt, säumt den Weg ein, und nur selten findet sich ein kahles Stückchen Erde; denn selbst die hie und da aus dem üppigen Grün hervorragenden Felsengebilde verschiedener Höhe sind mit Moos überzogen, oder es wurzeln darauf Bäume und Sträucher. Aber nicht bloß die Vegetation ist da überreich, sondern auch die Fauna der ganzen Umgebung. Der bayerische Abhang des Grenzwaldes ist sehr wildreich; der Gesang der verschiedensten vielen Waldsänger ist – besonders am frühen Morgen und gegen Abend – entzückend; bunte Falter und Käfer fliegen und laufen in reicher Zahl hier umher. Kurz, es ist da himmlisch schön, und in stiller Andacht genießt der Wanderer all die Pracht!
Am Ziele der Fußreise nimmt uns ein Talkessel auf, in dem zu meiner Zeit nur zwei Gebäude standen, das Forsthaus, in welchem damals mein Freund Leutel residierte, und das (ebenfalls einstöckige) Hegerhaus, in dem dieser nebst seiner Familie nicht nur wohnte, sondern auch das Recht besaß, Forstleuten, Holzhauern und auch Touristen Speise und Trank gegen Bezahlung zu verabfolgen. Der Heger, namens Schaffner, war ein sehr großer und starker Mann mit martialischem, grauem Barte und, wie die ganze Familie, sehr liebenswürdig.
Wir ließen uns in dem einerseits offenen Altan nieder und bestellten schwarzes (herrliches!) Bier, Brot, Butter, Käse und den in Bayern »unentbehrlichen« schwarzen »Radi«, und dann ging's an ein gewaltiges Essen und auch Trinken.
Ja, ja; wenn der Magen seine Rechte gebieterisch geltend macht, verblasst alle Poesie, und die Prosa des Lebens siegt. Traurig aber wahr: Die schönste Landschaft, das interessanteste Buch, selbst das Süßholzraspeln verliebter Leute verliert (die »Fütterungspause« über) Macht und Geltung. Der Mensch besteht eben nicht bloß aus einer gottähnlichen Seele, sondern auch aus einem gemeinen Korpus.
Nach genossenem Mahle weidete sich wieder Aug und Ohr an dem himmlischen Bilde, dem Gesange der Vögel rundum, und es fehlte auch nicht an angenehmer Gesellschaft. (Bier und Pfeife gingen auch bei Augenweide und Ohrenschmaus nicht aus, natürlich.) Doch, scheint die Sonne noch so schön usw., man musste endlich auch nach Hause gehen. Aber – von dem famosen Ziegelkäse musste man sich doch mindestens ein halbes Kilo für morgen mitnehmen; auch natürlich. Und da er weich war, musste man ihn in ein Stück weißes Papier einwickeln. Leider war kein weißes Papier zur Hand, und darum war ich froh, dass mir der Herr Eggerth, welcher sich die »N. f. P.« hielt, einen halben Bogen davon gab. (Zu Hause kratzt man halt das angeklebte Zeitungspapier einfach ab.) –
Nach herzlichem Abschied ging's denn wieder heimzu. Rüstig! Nach einer Stunde waren wir oben, und nun musste oder sollte es logscherweise wieder herabgehen.
Aber, was war das? Mit einem Male ward mir so fürchterlich übel!? Schweiß tritt mir aus allen Poren, die Knie beginnen mir zu zittern; mir wird zum Sterben!?
»Herr, Herr Eg-gerth, ich, ich kann – nicht – mehr wei-ter; ich, mir, es«, und schon saß ich auf einem bemoosten Steine und erwartete mein Ende!
Der Herr Eggerth ist aber in ganz gefühlloser Mensch – er fängt zu lachen auch noch an! Diabolisch, schadenfroh, gemein! X Sekunden lang weidet er sich an meinem Elend, endlich sagt er ganz trocken, als ob sich's bei mir nicht um Sein oder Nichtsein handeln würde, sondern um ein bisschen Schnupfen: »Sie haben den Heißhunger. Essen Sie ein Stück Brot, und Sie werden sofort wieder – gesund!«
Heißhunger? – Lieber Leser, hast Du schon einmal einen recht großen Hunger gehabt? Ja? Also, merke Dir: Ein großer, sehr großer Hunger ist gar nichts; aber Heißhunger, ein richtiger ausgewachsener Heißhunger, das ist was, und zwar etwas Fürchterliches! Da wird man schlaff, kraftlos, zittert, schwitzt, sinkt in sich zusammen und ist einfach schon eine halbe Leiche. Und so ging's mir damals, und zwar zum ersten Male in meinem Leben. –
Da isst man eben ein Stück Brot, nicht? So sagte doch der Eggerth? Einfach genug, nicht? – Ja – wenn man eins hat! Wer wird aber aus Bayern nach Böhmen Brot – paschen?
»Also essen Sie von dem Käse, den Sie mitgenommen haben«, rät mir der erfahrene und wohlmeinende Mann.
Richtig! Heraus also, schnell heraus mit dem Käse!
Doch die »N. f. P.« klebt daran, als wär's mit Leim angepickt, und man müsste ein Federmesser nehmen und das Papier samt einer dünnen Schicht Käse abschneiden.
Derweil verhungere ich aber bestimmt. Also schnell mit den Fingernägeln abkratzen, was obageht! Das gelingt auch, leider aber nur zum geringsten Teil, und es bleibt darum nichts übrig, als Dreinbeißen, wie es ist und Herbeißen und Schlucken, resp. Herabwürgen! – Gut ist das Papier nicht; aber es geht ums Leben; also nur herab mit dem Leitartikel der »N. f. P.«!
Die Wirkung war wunderbar: Zehn Minuten später war ich wieder gesund, stark wie ein Bär und konnte lachen erklären: »So, jetzt geh mr's halt wieder an!«
Der Herr Eggerth lacht aber wieder so falsch und meint: »Dass Sie die »N. f. P.«, insbesondere die Feuilletons darin, gern lesen, weiß ich schon lange, dass Sie's aber zum Fressen gern haben, weiß ich erst seit jetzt.«
Na, ja, wer den Schaden hat, braucht um den Spott nicht zu sorgen. Doch was liegt daran, wenn man nur durch den Schaden klüger wird. Und das war bei mir der Fall; denn nie wieder ging ich vom Geierhäusel, wo das süffige Münchner oder Kulmbacher, oder was es ist, so einen Riesenappetit macht (zum Unterschied von so manchem anderen, auf das einem jeder Appetit vergeht), ohne einen Trumm Brot fort.
Die erworbene Erfahrung befähigte mich in Zukunft, nicht selten, einem anderen Menschen das Leben zu retten, unter anderem auch einer meiner Cousinen. Die bekam auch einmal bei einer anstrengenden Tour den richtigen Heißhunger. Zuerst, als ich ihr den Keil schwarzen Brotes (den ich sonst nie gegessen hätte) bloß zeigte und (scheinbar) nicht geben wollte, wollte sie mich in Ermangelung einer Schere mit ihren Blicken töten; dann aber, als ich ihr großmütig das Manna überließ, flötete sie: »Pepi, das werde ich Dir nie vergessen; Du hast mir das Leben gerettet!«
Als Gemütsmensch tat ich das auch fernerhin bei ähnlichen Gelegenheiten. Sehr teuer kam mich ja die Sache nicht zu stehen. –