Johann Gaudenz v. Salis-Seewis
Gedichte - Ausgabe letzter Hand
Johann Gaudenz v. Salis-Seewis

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Psyche's Trauer.

Psyche ist der griechische Name der Seele. Sie wurde, nach der bekannten Allegorie, mit Schmetterlingsflügeln abgebildet.

        Psyche seufzt, in tiefer Kerkerhalle,
Nach Erlösung, ach! sie forscht nach Licht:
Bangt und hofft, und lauscht bei jedem Schalle,
Ob das Schicksal ihre Riegel bricht.

Psyche's Ätherflügel sind gebunden;
Doch voll Muthes, wenn sie leise stöhnt,
Weiß sie: Nur in schwülen Prüfungsstunden
Sproßt die Palme, die den Sieger krönt;

Weiß, daß Dorngestrippe Rosen tragen,
Blumengold entkeimt der öden Gruft;
Ihren Kranz erringt sie durch Entsagen,
Ihre Kräfte stählt die herbe Luft.

Ihre Freuden kauft sie durch Entbehren,
Durch verlängter Sehnsucht Wehmuthstraum;
Daß nicht Strahlen ihr den Schlummer stören,
Dämmern Schatten um des Lebens Baum. 71

Psyche's Klag' ist Lispel einer Flöte
Aus dem mondbekränzten Weidenstrauch;
Ihre Zähren, Thau der Morgenröthe;
Ihre Seufzer, Nachtviolenhauch.

Bei Zypressen sproßten ihre Myrthen;
Weil sie viel geduldet, liebt sie viel.
Liebe führt nur durch der Trennung Syrten
Zu des Wiederfindens Wonneziel.

Dulden kann sie, Bürden muthig tragen,
Stumm sich beugen vor des Schicksals Schluß;
Ihre Wonn' ist in gelaßnen Klagen,
Und ihr Labsal des Gefühls Erguß.

Ach! das Vorgefühl in Finsternissen,
Das zum Aufflug ihre Schwingen sträubt,
Ist nur Ahnung; Stückwerk all' ihr Wissen;
Ihre Wahrheit, was sie redlich glaubt.

Dunkel birgt das Ziel von Psyche's Sendung;
Und ein Blick, der oft in Thränen blinkt,
Reicht nicht bis zum Gipfel der Vollendung,
Wo der Täuschung Nebelschleier sinkt. 72

 


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